Deutsches Reich - von Versailles bis Versailles

Der Artikel nimmt auch Bezug auf ganz aktuelle Ereignisse und wird thematisch begleitet von einem Beitrag von Willy Wimmer
Prof. Dr. Alexander Sosnowski
Die politische Korrektheit führt uns in eine Sackgasse. Wer hätte gedacht, dass beim Schreiben eines Artikels zu einem historischen Thema, bei der Verwendung der Worte „Deutsches Reich“, Ängste entstehen könnten?
Wenn wir über Geschichte sprechen, entstehen Situationen, in denen wir verschiedene historische Ereignisse in fast schon äsopischer Sprache erklären müssen. So ist es auch mit der Bezeichnung des Deutschen Reiches. Assoziationen mit der jüngeren deutschen Geschichte lassen uns die Worte - national, Imperium, nationale Interessen - schamhaft vermeiden.
Die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 ist nicht nur in der Geschichte Deutschlands ein bemerkenswerter Meilenstein. Dieses Jahr kann zu Recht als Ausgangspunkt der modernen Geschichte Deutschlands angesehen werden, auch unter Berücksichtigung der dunklen Jahre des Nationalsozialismus. Und doch kann uns nichts davon abhalten, die Gründung des Deutschen Reiches als ein wichtiges Ereignis für Europa und auch für die gesamte Welt anzuerkennen.
Selbst wenn wir die Geschichte wirklich ändern wollten, sie liegt außerhalb unserer Kontrolle. Wir haben nicht die Möglichkeit und auch nicht das Recht unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten, was vor 100, 200, 300 Jahren passiert ist. Jedes historische Ereignis wird von Zeitgenossen aus Memoiren, Büchern, Legenden und mündlichen Geschichten wahrgenommen, die oft von Menschen geschrieben werden, die selbst nichts mit diesem historischen Ereignis zu tun hatten. Und doch gibt es echte Fakten und Quellenbelege.
Und wenn wir die Legenden, die uns in Form der historischen Wahrheit präsentiert werden, mit bestimmten Daten und Fakten vergleichen, können wir durchaus eine geschichtliche Reihe erstellen, die im Allgemeinen der Realität entspricht.
Ich habe viele historische Dokumente über diese Zeit sorgfältig gelesen und dachte daran, dass dieses Datum im Kalender ein virtueller Anker für uns ist, um unsere Geschichte zu verstehen.
Das offizielle Datum der Gründung des Deutschen Reiches ist der 18. Januar 1871, als der preußische König Wilhelm als erster in Versailles zum deutschen Kaiser ernannt wurde.
Aber 150 Jahre Deutsches Reich - das ist nicht nur der Januar 1871. Ja, es geschah im Januar, aber einige Jahrzehnte zuvor war bereits klar, dass ernsthafte Veränderungen im geografischen Gebiet des heutigen Deutschlands einfach unvermeidlich sind.
Der geniale Heinrich Heine macht uns auf die Ereignisse von 1848 aufmerksam. In einem seiner Gedichte schreibt er:
„Im Jahre achtundvierzig hielt,
Zur Zeit der großen Erhitzung,

Das Parlament des deutschen Volks

Zu Frankfurt seine Sitzung“

Der Dichter denkt natürlich an die Märzrevolution von 1848, die zu Recht als ein Vorläufer der Entstehung des Deutschen Reiches angesehen werden kann.
Innerhalb weniger Wochen breitete sich die revolutionäre Stimmung in der Gesellschaft auf dem gesamten Gebiet von Baden bis Berlin und Wien aus. Dies ermöglichte es, aus verfassungsrechtlichen Gründen, Wahlen zur Nationalversammlung abzuhalten. Und am 18. Mai 1948 fand in der freien Stadt Frankfurt am Main diese berühmte Sitzung des Parlaments des deutschen Volkes statt, über die der Dichter schrieb.

Berlin im März 1848: die Deutsche Revolution zu Zeiten Heinrich Heines
de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Revolution_1848/1849
Der logische Abschluss dieser Zeit war die Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871. Das wichtigste Zeichen und der wichtigste Indikator für das übrige Europa war eben diese Schaffung eines verfassungsmäßigen Parlaments. In diesen Jahren begann auch Russland seine wichtige Rolle in der Geschichte Deutschlands zu spielen.
Es genügt, an die Vereinbarung der drei Kaiser zu erinnern, die im Oktober 1873 in Wien unterzeichnet wurde. Das Abkommen wurde von den Kaisern Wilhelm I, Franz Josef I und Alexander II unterzeichnet.
Russland ist eines der wenigen Länder, die in jenen Jahren die Bedeutung der Schaffung des Deutschen Reiches vollkommen verstanden haben. Es reicht schon, an die Ereignisse nach dem Ende des Krimkrieges von 1856 zu erinnern. Eine ganze Koalition der Westmächte, angeführt von England und Frankreich, schloss sich dem Osmanischen Reich an. Eine wichtige Rolle spielte in diesen Jahren der damalige russische Außenminister Alexander Gorchakov in Wien. Gorchakov war damit beschäftigt, Österreich davon zu überzeugen, nicht gegen Russland zu kämpfen. Ganz am Anfang glaubte Russland, dass Frankreich der wichtigste potenzielle Verbündete sein könnte. Nach einiger Zeit wurde jedoch klar, dass Preußen der beste und ernsthafteste Verbündete Russlands werden könnte.
Nachdem Frankreich 1871 gegen Preußen verloren hatte, entstand in Russland das Gefühl, dass das sogenannte Krimsystem als veraltet angesehen werden kann. Der russische Zar beschloss, einige Artikel des Pariser Vertrags aufzuheben. Großbritannien hielt dies für unmöglich. Darüber hinaus hofften die Briten, Preußen heimlich für sich gewinnen zu können. Die Hauptidee war die Vereinigung der drei Länder - Großbritannien, Preußen und Frankreich, die zusammen gegen Russland stehen sollten. Bismarck spielte eine Schlüsselrolle dabei das nicht geschehen zu lassen - er weigerte sich rundweg, die Rolle des Trojanischen Pferdes im britischen Spiel zu spielen.
Diese Geschichte wurde 1919 bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrags weitgehend wiederholt. Mein hoch-geschätzter Mitautor, der Staatssekretär a.D. Willy Wimmer und ich haben darüber in unserem Buch „Und immer wieder Versailles - ein Jahrhundert im Brennglas" geschrieben. Dort untersuchen wir ausführlich die Situation vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, den demütigenden Plan der Angelsachsen gegen Deutschland und auch gegen Russland.
Wenn ich die heutigen Nachrichten lese und im Internet surfe, kann ich nicht umhin, als das Gefühl zu haben, dass Versailles noch lebt. Die angelsächsische Idee der Erniedrigung Deutschlands und Russlands besteht auch weiterhin. Insbesondere in den letzten Jahren haben wir echte Versuche gesehen, Deutschland erneut gegen Russland aufzubringen, um beide Länder an einen Punkt zu drängen, an dem es kein Zurück mehr gibt - zum Krieg.
Das jüngste Beispiel ist die Geschichte der sogenannten Vergiftung des oppositionellen russischen Bloggers Alexei Navalny. Während des Fluges nach Tomsk fühlte er sich plötzlich schlecht, verlor das Bewusstsein und wurde dringend ins Krankenhaus gebracht, wo er die notwendige Behandlung erhielt. Seine Verwandten wandten sich an Wladimir Putin mit der Bitte, Navalny zur Behandlung nach Deutschland fliegen zu lassen, da er angeblich von der Bundeskanzlerin Angela Merkel eine persönliche Einladung erhalten habe. Dazu muss man wissen, dass Herr Navalny vorbestraft ist, ein Strafverfahren gegen ihn läuft und er nach russischem Recht das Land nicht verlassen hätte dürfen. Erlaubt wurde es ihm trotzdem. Er wurde nach Berlin in die Charité gebracht. Einige Tage später erschienen unbestätigte Informationen darüber, dass Navalny einige Dosen eines chemischen Kampfmittels erhalten habe, vom Typ her ähnlich dem „Nowitschok“. Die Bundesregierung beschuldigte Russland sofort, gegen das Übereinkommen über die Nichtverbreitung chemischer Waffen verstoßen zu haben. Und das ohne die Daten des Labors vorzulegen, sondern sich nur auf Informationen stützend, die als geheim gelten. Lassen Sie mich betonen, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort an den Bundestag keine Fakten und Beweise dafür liefern konnte, dass Russland chemische Kampfstoffe eingesetzt und angewendet hat.
Doch das genügte, um neue Sanktionen gegen Russland anzukündigen. Einige besonders hitzköpfige, insbesondere von den Grünen und den Freien Demokraten, sind noch weiter gegangen. Ihre Forderungen grenzen tatsächlich an die Entscheidung, die diplomatischen Beziehungen zu Russland zu beenden.
Die Fraktion der „Grünen" forderte nach den Untersuchungsergebnissen der „vermutlichen Vergiftung" eine dringende Reaktion der Bundesregierung:
„Dazu gehört, dass man Dissidentinnen und Dissidenten den Schutz der EU garantiert und neue Wege gehen muss, um diese trotz immer stärkerer Einschränkungen und Repressionen durch den russischen Staat effektiv und unbürokratisch zu unterstützen.“
https://www.gruene-bundestag.de/presse/pressemitteilungen/nawalny-recherchen-bundesregierung-muss-endlich-konsequenzen-ziehen
Darüber hinaus fordern die Grünen, ohne dreiste Äußerungen gegenüber der Russischen Föderation und ihrem Präsidenten zu scheuen, eine einheitliche Position der EU, um die Nord Stream-2 zu stoppen.
Dabei handelt es sich um eine Partei, die sich selbst als höchst demokratisch betrachtet, sich im nächsten Jahr der Regierungskoalition anzuschließen hofft. Und dann könnte ihre aggressive Rhetorik zu knallharten Regierungsmaßnahmen werden.
Es ist klar, auf welche Ebene sich die Beziehungen zu Russland in diesem Fall bewegen würden.
Dafür kritisierte Gregor Gysi, einer der Anführer der Linken, die „Navalny-Untersuchung" scharf als unplausibel. Gysi bemerkte zu Recht, dass alle so genannten „Fakten" nach Belieben interpretiert werden können. Dafür wurde Gysi von der deutschen Presse sofort beschuldigt, „Moskaus Anwalt" zu sein.
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article222656270/Fall-Nawalny-Gregor-Gysi-bleibt-ein-Anwalt-Moskaus.html
Man möchte hoffen, dass Berlin die Absichten der Teilnehmer am „Fall Navalny" als einen weiteren Versuch Deutschland und Russland gegeneinander auszuspielen, richtig zu deuten versteht. Seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags ist Berlin gegen Russland ausgespielt worden. In einem kürzlich erschienenen Artikel schrieb ich, dass einfach der Wunsch besteht, Russland in den Augen der Weltgemeinschaft als ein echtes „Imperium des Bösen“ aussehen zu lassen. Und, wie wir aus der jüngeren Geschichte bereits wissen, sind gegen solche „Bösen“ alle Mittel gut. Bis hin zu den militärischen. Es ist nur nicht klar, warum Deutschland den Köder der britischen Strategen, die eindeutig versuchen die Skripals und Navalny auf eine Stufe zu stellen, dermaßen eifrig schluckt.
Es bleibt nur noch, dass einer der ganz Großen aus London, Washington oder Brüssel ein Reagenzgläschen mit weißem Pulver schüttelt und erklärt, dass es sich dabei um den in Russland hergestellten „Nowitschok“ handelt.
https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/beschuldigung-ohne-beweise/
Das Problem Europas besteht darin, dass es nach und nach den Selbstwert verliert, in dem es sich in die Lösung von Problemen vertieft, die von außen aufgedrängt werden.
Hat Europa eine eigene Philosophie und Zukunftsvisionen?
Die Forderung nach Philosophie und neuen politischen Kräften wird den Prozess des Wandels von Eliten, Macht und vielen veralteten Postulaten beschleunigen. Es gibt leider immer noch keine verständliche Philosophie, die die Gesellschaft einen soll. Seltsamerweise eröffnet die Pandemie in diesem Sinne völlig neue Horizonte. Die Situation erfordert nichtstandardisierte Lösungen, zu denen die derzeitigen Eliten in Europa und Deutschland nicht gerade fähig sind.
https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/das-ende-der-geschichte/
Der bekannte und einflussreiche russische Senator Alexei Puschkow, der für sein tiefgreifendes Wissen über Geschichte, einschließlich der Geschichte Deutschlands und Europas, bekannt ist, nahm kürzlich den Dialog mit mir auf.
Alexey Pushkov schreibt:
„Die herrschende Elite Europas befindet sich in einer historischen Falle, weil sie an einer Doktrin festhält, die die europäischen Gesellschaften zerstört. T. Sarrazin schrieb darüber überzeugend in dem Buch ‚Deutschland schafft sich ab‘. Diese Echos finden sich auch in der Massenkultur - sehen Sie sich das berühmte Video der Rockband ‚Rammstein‘ - ‚Deutschland‘ an, in dem eine schwarze Frau paradoxerweise, aber nicht ohne Grund, das zukünftige Symbol Deutschlands darstellt. In der Zwischenzeit kann die europäische liberale Elite keinen Weg finden und sucht auch keinen Ausweg aus dieser Lehrfalle, die mit der Selbstzerstörung Europas behaftet ist.“
Wenn es zwei Länder, zwei Staaten, zwei Völker auf dieser Welt gibt, die im Vergleich zu anderen Ländern, durch Blut, Siege und Niederlagen, Liebe und Hass eng miteinander verbunden sind, dann sind das zweifellos Deutschland und Russland. Seit Jahrhunderten betrachten Nachbarn diese Staaten, einige mit Neid, einige mit Hass, einige mit Liebe. Es ist nicht für jeden gut, dass diese Länder zusammen finden könnten. Während einer langen historischen Periode ihrer Entwicklung waren sie entweder Verbündete und Freunde, dann Gegner und Feinde. Diese beiden Staaten, die durch das königliche Blut, die Kultur und in gewissem Sinne sogar ein inneres Verständnis ihres Platzes in der Geschichte vereint sind, bestimmen maßgeblich die Entwicklung und das Leben Europas nd der ganzen Welt.

Quellen: Alexander Sosnowski/Willy Wimmer: Und immer wieder Versailles. Ein Jahrhundert im Brennglas. zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019

https://zeitgeist-online.de/exklusivonline/dossiers-und-analysen/1102-heil-dir-im-siegerkranz-zur-gruendung-des-deutschen-reiches-am-18-januar-1871.html

https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/heil-dir-im-siegerkranz-zur-gruendung-des-deutschen-reiches-am-18-januar-1871/

https://zeitgeist-online.de/exklusivonline/dossiers-und-analysen/1103-deutsches-reich-von-versailles-bis-versailles.html

Bilder @depositphotos https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaiser_Wilhelm_I._.JPG
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