Schlusspfiff in Berg-Karabach

Wenn am Sonntag in London die Fußball-Europameisterschaft zu Ende geht, endet möglicherweise auch eine Phase relativer Ruhe im Südkaukasus. Dabei spielen auch die Ukraine, Syrien und Libyen eine Rolle.

Für den aserbaidschanischen Machthaber Ilham Alijew war dieses sportliche Großereignis eine weitere willkommene Gelegenheit, den Status seines Landes zu demonstrieren und die enge politische Verbundenheit seines Landes zu Europa aufzuzeigen, zu welchem Aserbaidschan geographisch eigentlich nicht gehört. Scharen von Fans, Funktionären und Journalisten sollten die Prestigebauten in Baku und die organisatorischen Fähigkeiten des Landes bewundern. Alijew hätte sich ins eigene Fleisch geschnitten, wenn er eine Eskalation des Konflikts in Berg-Karabach zugelassen hätte. Ab Sonntagnacht fallen diese Fesseln weg. 

Selenskyj in Washington

Vierzehn Tage später - das Datum ist noch nicht genau bekannt - wird Wladimir Selenskyj nach Washington reisen (1). Gerne würde er die Administration Biden zu einem verstärkten Engagement der USA im Konflikt im Donbass bewegen, aber diese legt in solchen Fragen momentan große Zurückhaltung an den Tag. Der vollständige Abzug der US-Truppen aus Afghanistan steht unmittelbar bevor, aber weltweit stehen noch US-Truppen in den verschiedensten Krisen- und Kriegsgebieten. Auch Biden weiß um die Abneigung weiter Bevölkerungskreise in den USA gegenüber militärischen Interventionen, die in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs immer weiter ausuferten. Selenskyj weiß, dass er nicht viel konkrete Hilfe vom Westen erwarten kann. Bekommt er in Washington grünes Licht für eine Eskalation des Konflikts im Donbass, dann kann er die Kämpfe im Hinblick auf den ukrainischen Nationalfeiertag am 24. August intensivieren. Alijew seinerseits könnte dann seinerseits versuchen, davon zu profitieren und eine Eskalation des Konflikts in Karabach herbeizuführen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Ukraine und Aserbaidschan ihre Bemühungen koordinieren werden.

Völkerrechtlich gesehen ist Bergkarabach immer noch Teil Aserbaidschans. Dies schließt ein Eingreifen Russlands oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS aus. Die Existenz der Republik Bergkarabach – oder Artsakh, wie sie sich selbst nennt – hängt allein von ihrer Armee ab. Mit der Entsendung von Friedenstruppen hat Russland jedoch einen Weg gefunden, der Republik eine Art Sicherheitsgarantie zu geben. Es ist zu vermuten, dass die russische Delegation bei den Vereinten Nationen nun darauf hinarbeitet, das Waffenstillstandsabkommen vom vergangenen November zum Bestandteil einer Resolution des UN-Sicherheitsrates zu machen, um so eine völkerrechtliche Grundlage für ein militärisches Eingreifen zu schaffen, falls ein solches notwendig werden sollte (2). 

Abtausch von Territorien

Im Waffenstillstandsabkommen vom 9. November musste die Republik Artsakh all jene Gebiete zurückgeben, die sie im Krieg von 1992-94 den Aserbaidschanern abgenommen hatte. Eine Ausnahme davon bildet der Laçin-Korridor, ein wenige Kilometer breiter Geländestreifen zwischen dem Städtchen Berdzor (aserbaidschanisch Laçin) und der armenischen Provinz Syunik im gebirgigen Gelände des Südkaukasus. Das war ein Zugeständnis von Aserbaidschan an Armenien und Artsakh. Im Gegenzug erhielt Aserbaidschan das Recht auf freien Personen- und Warenverkehr zwischen dem aserbaidschanischen Mutterland und der Exklave Nakhichevan. Der entsprechende Korridor verläuft entlang des Flusses Arax an der Grenze zum Iran. Alijew forderte aber bereits einen Korridor durch die armenische Provinz Syunik und verband dieses in seiner Argumentation mit dem Laçin-Korridor (3). Implizit drohte er damit, den Laçin-Korridor zurückzuerobern, wenn ihm kein Korridor in Syunik gewährt wird. Wenn jetzt Armenien die Eisenbahn und die Straße entlang des Arax-Flusses wieder instand stellt, dann wird Ilham Alijew Mühe bekunden, seine Ansprüche auf einen weiteren Korridor zu begründen. Mit der Besetzung von Teilen des Distrikts Hadrut hat Alijew jedoch Teile des Kernlands von Artsakh erobert und damit gegen die Madrider Prinzipien verstoßen, die bereits in den Neunzigerjahren einmal als mögliche Basis für eine friedliche Lösung des Konflikts formuliert worden waren (4). Die wenigen ethnischen Armenier, die sich nach 1994 in den eroberten Gebieten niedergelassen hatten, sind geflohen, ebenso wie die Bewohner der Region Hadrut. Die armenische Bevölkerung, in welcher die Erinnerung an den Völkermord von 1915-16 nur allzu wach blieb, ist erneut traumatisiert (5). Trotz der erniedrigenden militärischen Niederlage im Herbst vergangenen Jahres erhielt der armenische Premierminister Nikol Paschinjan bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 20. Juni erneut das Vertrauen des Volkes (6). Er hat jedoch große Fehler gemacht und genießt heute noch weniger Vertrauen als vor dem Krieg. Seine Gegner wollten anfänglich das Wahlergebnis nicht anerkennen und sein Projekt einer breiten politischen Koalition macht wenig Fortschritte (7). Armenien verließ sich in den letzten Jahren zu sehr auf seine militärische Stärke und musste eine bittere Niederlage hinnehmen.

Aserbaidschans Präsident Alijew ist jetzt im Hoch und will den vollen Geschmack des Sieges auskosten. Nach mehr als 20 Jahren fruchtloser Verhandlungen im Rahmen der Minsk-Gruppe, die keinen Fortschritt brachten, erreichte er im vergangenen Herbst innerhalb von sechs Wochen Krieg einen großen Teil seiner Ziele (8). Er wird weiterhin auf militärische Mittel und Methoden setzen, um sein Endziel, die Wiedereingliederung von Berg-Karabach, zu erreichen. Hierbei ist die traditionelle Eitelkeit von Diktatoren zu berücksichtigen: Wahrscheinlich fiel die Entscheidung für den Krieg, der Ende September begann, bereits im Juli, nachdem die aserbaidschanische Armee in einem Grenzscharmützel gedemütigt worden war (9).

Geopolitische Implikationen

In der Türkei wird Erdoğan versuchen, vom aserbaidschanischen Sieg zu profitieren, um sich in der Gemeinschaft der islamischen Staaten zu profilieren. Andererseits versuchte er verschiedentlich, der NATO seine neo-osmanischen Ambitionen schmackhaft zu machen. Jüngste Beispiele sind sein Angebot, dass türkische Truppen den Schutz des Flughafens von Kabul übernehmen, sowie die Teilnahme türkischer Kampfflugzeuge am Luftpolizei-Dienst der NATO in Polen (10). Aber Erdoğan braucht die Kooperation Russlands und weiß, dass die Russen ihn in die Schranken weisen können, sei es mit wirtschaftlichen oder militärischen Mitteln. 

Die NATO und die USA haben hingegen kaum Möglichkeiten, in der Südkaukasus-Region militärisch zu intervenieren. Diplomatisch können sie sich jedoch an den Diskussionen über den künftigen Status von Bergkarabach beteiligen, wo ihre Zustimmung dringend erforderlich ist. Im Iran ist in der Person des Ebrahim Raisi gerade ein Hardliner zum Präsidenten gewählt worden, der aber wenig Handlungsfreiheit genießt, weil er die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen sein Land erreichen muss. Außerdem muss er die aserbaidschanische Minderheit im Lande unter Kontrolle halten und hat daher wenig Interesse an einem Konflikt mit Baku. Die anhaltende internationale Isolation des Irans macht es für den neuen Präsidenten auf der anderen Seite besonders wichtig, die traditionell guten Beziehungen zu Armenien zu pflegen.

Die Probleme im Südkaukasus bleiben jedoch die gleichen: Südossetien, Adscharien, Abchasien, die armenische Minderheit in Georgien, die dagestanische Minderheit in Aserbaidschan und der instabile Charakter des Alijew-Regimes in Baku bergen die Gefahr eines regionalen Konflikts. Ferner würden die USA die Region gerne als Aufmarschbasis gegen den Iran nutzen. 

Ein besorgniserregendes Problem ist der verworrene und oft nicht endgültig geklärte Verlauf der Staatsgrenzen in der Region. Eine klare Definition der Staatsgrenzen ist gerade jetzt besonders wichtig, damit die Konfliktparteien Unklarheiten nicht ausnutzen und bei Bedarf Grenzscharmützel entfachen können.

Gebt der Diplomatie eine Chance

Die Madrider Prinzipien beinhalten auch eine Klärung des völkerrechtlichen Status von Berg-Karabach. Eine Anerkennung der Republik Artsakh oder eine Eingliederung in Armenien würde wahrscheinlich einen neuen Angriff Aserbaidschans auslösen. Baku wird von einem solchen Angriff absehen, solange es hoffen kann, den Rest von Artsakh mit politisch-diplomatischen Mitteln wieder unter seine Kontrolle bringen zu können. Aber Alijew könnte nach langen Verhandlungen erneut die Geduld verlieren, wie er es im letzten Herbst geschah. Diskussionen über den Status von Artsakh zu führen oder Entscheidungen zu treffen, bevor die militärische Sicherheit der Republik gewährleistet ist, würde sich wohl konterproduktiv auswirken und die Existenz der Republik Artsakh selbst gefährden. Wenn die Diplomatie eine Chance haben soll, dann ist eine Schwächung des militärischen Selbstbewusstseins der Aserbaidschaner und der Türken unabdingbar. Beide, Alijew und Erdoğan glauben, mit Drohnen das sichere Rezept für den Sieg in der Hand zu haben. Ein gezielter Schlag gegen die Drohnenfähigkeiten der Türken würde deren Selbstvertrauen schwer treffen. Russland ist bestimmt in der Lage, den Streitkräften von Armenien und Artsakh die notwendigen Fertigkeiten zu vermitteln. Aber so eine Aktion muss nicht unbedingt im Kaukasus stattfinden: Überall dort, wo die Türkei derzeit ihre Drohnen verkauft, ergeben sich solche Gelegenheiten. Das betrifft auch die Ukraine. 

Aserbaidschan legte in den vergangenen Jahren ein bemerkenswertes Know-how bei der Koordination diplomatischer und militärischer Bemühungen an den Tag. Bei allem Verständnis für die Ungeduld und Frustration Aserbaidschans nach 20 Jahren Verhandlungen über die Rückgabe von fast einem Siebtel seines Staatsgebiets ist der Angriff vom 27. September vergangenen Jahres ein Stück weit als game-changer zu betrachten:  Durch die Missachtung der Madrider Prinzipien zeigte Alijew vor allem den westlichen Staaten der Minsker Gruppe seine Verachtung, was angesichts der notorischen Schwäche der europäischen Außenpolitik und der desaströsen EU-Osteuropapolitik nicht weiter tragisch ist. Wenn im Herbst die Ära Merkel in Deutschland zu Ende geht, wird der Zusammenhalt der EU noch schwächer werden. Aber die Russische Föderation ist und bleibt Teil der Minsker Gruppe und wird das Verhalten Alijews und Erdoğans nicht einfach so hinnehmen. Das russisch-türkische Verhältnis bleibt ambivalent.

Anmerkungen:

  1. Bis jetzt ist lediglich von Ende Juli die Rede:  https://tass.ru/mezhdunarodnaya-panorama/11631581, https://www.ukrinform.ru/rubric-polytics/3263380-vizit-zelenskogo-v-ssa-sostoitsa-v-konce-iula-kuleba.html

  2. Siehe http://kremlin.ru/acts/news/64384; Die englische Übersetzung des Abkommens ist online verfügbar unter http://en.kremlin.ru/events/president/news/64384.

  3. Vgl. Kaviar und Krieg im Kaukasus, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/kaviar-und-krieg-im-kaukasus/und https://oc-media.org/aliyev-threatens-to-establish-corridor-in-armenia-by-force/https://armenianweekly.com/2021/03/13/aliyev-once-again-threatens-armenia-with-war/https://armenian.usc.edu/aliyev-makes-territorial-claims-on-armenia-yet-again/https://www.azatutyun.am/a/31215235.html, https://www.civilnet.am/news/600496/aliyev-threatens-to-solve-the-meghri-corridor-issue-by-force-armenian-mfa-responds/?lang=en und https://jam-news.net/response-to-aliyevs-statements-claims-on-the-territory-of-armenia-yerevan-zangezur-syunik-sevan/

  4. Zu den Madrider Prinzipien siehe https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSS-Analysen_131-DE.pdf

  5. Die Armenier selbst verwenden den Begriff Aghet (Katastrophe). Die Türkei und Aserbaidschan wehren sich gegen die Verwendung des Begriffs "Genozid", während einige westliche Staaten diesen offiziell verwendeten, zuletzt US-Präsident Joe Biden. 

  6. Siehe unter anderem https://www.sueddeutsche.de/politik/armenien-bergkarabach-paschinjan-russland-1.5328217, https://www.deutschlandfunkkultur.de/parlamentswahl-in-armenien-abstimmung-ueber-paschinjans.979.de.html?dram:article_id=498839 und https://www.profil.at/ausland/armenien-nach-den-wahlen-der-schwierige-weg-in-eine-bessere-zukunft/400859408

  7. Siehe https://news.am/eng/news/652641.html und https://www.nzz.ch/international/armenien-wahlsieg-von-regierungschef-paschinjan-bestaetigt-ld.1632632?reduced=true

  8. Mitglieder der Minsker Gruppe sind die Ko-Vorsitzenden Russland, USA, Frankreich, sowie Belarus, Deutschland, Italien, Schweden, Finnland, die Türkei, Armenien und Aserbaidschan. Nach dem Rotationsprinzip sind auch die Länder der OSZE-Troika ständige Mitglieder. Siehe https://www.osce.org/minsk-group/108306

  9. Siehe eine Zusammenfassung unter  https://www.dw.com/de/armenien-und-aserbaidschan-bekriegen-sich-wieder/a-54198023

  10. Siehe https://ahvalnews.com/us-turkey/us-turkish-defence-ministers-hold-positive-talks-kabul-airport-security und https://www.dailysabah.com/politics/diplomacy/turkey-us-fighter-jets-carry-out-nato-patrols-over-iceland-poland.

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