Gift der Vermutungen. Alexei Nawalny

Von Oberst d.G. Gerd Brenner

Noch bevor überhaupt klar ist, was den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny im Flugzeug zwischen der sibirischen Stadt Tomsk und Moskau ohnmächtig werden ließ, überbieten sich Medien mit Sensationsnachrichten und Politiker aller Couleur mit Anschuldigungen an die russischen Behörden bis hin zu Staatspräsident Wladimir Putin. Die Ärzte in Omsk, wo Nawalny nach einer unplanmäßigen Zwischenlandung hospitalisiert wurde, sprachen von nicht weniger als fünf möglichen Erklärungen für die schwere Erkrankung Nawalnys. Auch über eine mögliche Behandlung Nawalnys in Deutschland wurde schon spekuliert, obwohl auch über die Reisefähigkeit des Patienten Uneinigkeit herrscht (1). Und natürlich machen bereits wieder Verschwörungstheorien die Runde, wobei die Presse gerne wieder an Vergiftungsfälle aus früheren Zeiten erinnert, für welche sie den Kreml und Staatspräsident Putin persönlich verantwortlich macht.

Erste Vermutungen gehen in die Richtung, dass Alexei Nawalny mit seinem Tee Gift verabreicht wurde, als er auf dem Flughafen von Tomsk auf seinen Flug nach Moskau wartete. Dies sei das einzige Getränk, das er vor seinem Flug zu sich genommen habe. Begleitet wurde er von seinem Assistenten Ilya Pakhomov. Dabei wurden die zwei – wenig überraschend – von Überwachungskameras gefilmt. Der Ausschnitt, der Nawalny und Pakhomov in einem Café am Flughafen zeigt, fand seinen Weg zum russischen Nachrichten-Kanal "Mash", auf welchem Leser des Kanals eigene Bilder und Videoclips veröffentlichen können (2). Dieses Überwachungsvideo zeigt, wie Nawalny sich ohne ein Getränk an einen Tisch setzte und wie ihm Pakhomov später ein Glas brachte (3). Ob sich darin wirklich der vergiftete Tee befand, ist freilich unklar. Auch konnte niemand am Tresen wissen, für wen das Getränk zubereitet wurde. Dass damit eigentlich Pakhomov ins Zentrum der Verdächtigungen rücken sollte, sei jetzt einmal beiseitegelassen. Anschuldigungen an ihn entbehren vorerst genauso jeglicher Grundlage, wie solche an die Adresse der russischen Regierung. Sie wären einfach nur Ausdruck mangelnder Seriosität.
Parallelen zum Mord an Litwinienko?
Am augenscheinlichsten ist die Parallele zum Fall des russischen Regierungskritikers Alexander Litwinenko, der 2006 in London an einer Vergiftung durch Polonium-210 (Po210) starb. Die Ermittlungen der britischen Behörden ergaben damals, dass die Hauptverdächtigen, die russischen Geschäftsleute und ehemaligen KGB-Mitarbeiter Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun, ihrem Opfer das besagte Polonium in eine Tasse Tee geschüttet hatten.
Die Menge an Polonium, die Litwinienko tötete, beträgt circa 1 Mikrogramm, das ist ein Millionstel Gramm. Experten gehen von dieser Menge an Polonium aus, weil Litwinienko erst nach drei Wochen starb. Wäre ihm eine größere Dosis verabreicht worden, wäre er früher gestorben. Diese Menge Polonium ist für das menschliche Auge gar nicht sichtbar soll um die 6 Millionen Euro kosten (4).
Ein erster Anschlag auf Liwinienko wurde am 16. Oktober 2006 in den Räumen einer Londoner Firma verübt (5). Anhand der radioaktiven Rückstände konnten die britischen Behörden den Weg von Lugowoi und Kowtun fast lückenlos nachweisen. Lugowoi soll ein zweites Mal Polonium mit sich geführt haben, als er sich vom 25. bis 28. Oktober in London aufhielt. Auch hier fanden die britischen Behörden Rückstande und radioaktive Strahlung an Lugowois Aufenthaltsorten. Dieser soll sogar die Ungeschicklichkeit gehabt haben, Polonium in seinem Hotelzimmer zu verschütten. Und am 1. November 2006 schließlich trafen sich Lugowoi, Kowtun und Litwinienko in der Hotelbar des Millenium Hotels, wo letzterem die tödliche Dosis verabreicht wurde. Lugowoi und seine Familie, die ihn auf seiner Geschäftsreise begleitet hatte, verließen London erst am 3. November. Später fand die deutsche Polizei Polonium-Rückstände in der Wohnung der Kowtuns in Hamburg. Und auch Andrei Lugowoi vergiftete sich mit Polonium, sodass er nach seiner Rückkehr nach Moskau in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste (6).
Der britische Richter Sir Robert Owen machte in seinem Abschlussbericht den Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats Russlands, Nikolai Patruschew für den Mordanschlag auf Alexander Litwinienko verantwortlich. Dieser habe mit Billigung von Präsident Wladimir Putin gehandelt. Etwas vorsichtiger war die Staatsanwaltschaft Hamburg, die auf der Basis der, von den britischen und russischen Behörden zur Verfügung gestellten Unterlagen keinen hinreichenden Tatverdacht gegen Dmitri Kowtun erkennen konnte, geschweige denn eine Verbindung zur russischen Regierung (7).
Polonium – ein seltenes und teures Mittel für ein Attentat
Nun ist Polonium nicht irgendein Gift, sondern ein, in der Natur extrem selten vorkommender metallischer Stoff. Von Polonium sind nicht weniger als 25 Isotope bekannt, von denen Po210 am häufigsten ist. Am ehesten ist es aus Uranerz zu gewinnen, im Umfang von einem Mikrogramm Polonium pro Tonne Gestein. Polonium wurde aber auch schon in Tabakqualm aus Tabakpflanzen, die mit Phosphatdünger behandelt worden waren, nachgewiesen. Ferner kann Polonium in Kernreaktoren durch den Beschuss von Bismut mit Neutronen künstlich hergestellt werden. Die jährliche Produktion von Polonium weltweit beträgt um die 100 Gramm (8). Polonium wurde für die Batterien in den sowjetischen Mondfahrzeugen Lunochod 1 und Lunochod 2 verwendet (9). Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass das Polonium für den Anschlag auf Litwinienko aus dem Produktionsprozess für derartige Batterien in Russland stammte. Offenbar konnten die britischen Behörden durch Vergleich von, aus Russland exportiertem Polonium und den gefundenen Rückständen am Tatort Ort und Zeitpunkt der Produktion festlegen. Aber das ist nur eine Option, denn Polonium ist einfach zu transportieren und könnte somit auch aus einem Drittland seinen Weg in die Hände des Attentäters gefunden haben.
Polonium-210 ist ein sogenannter alpha-Strahler mit einer Halbwertzeit von 138 Tagen, in denen es in das stabile Blei-Isotop Pb206 zerfällt.  Da alpha-Teilchen in der Luft eine Reichweite von nur wenigen Zentimetern erreichen und von praktisch jedem Hindernis aufgehalten werden können, ist Polonium210 von außen schwer zu detektieren, ganz im Unterschied zu radioaktiven gamma-Strahlern, die schnell nachzuweisen sind. Damit ist Polonium210 leicht unkontrolliert zu transportieren und dürfte in einer Sicherheitskontrolle an einem Flughafen kaum auffallen. Das wiederum macht den Weg des Stoffs bis in die Hände Lugowois und Kowtuns schwer verfolgbar. Der Detaillierungsgrad, mit welchem die britischen Behörden den Weg des Poloniums in London nachweisen konnten, zeugt von einem sehr unsachgemäßen Umgang der Attentäter mit dem gefährlichen Stoff. Oder war Absicht dahinter?
Die britischen Mediziner brauchten einige Zeit, um zu ermitteln, womit Litwinienko vergiftet worden war. Aufgrund des Haarausfalls tippten sie erst auf eine Vergiftung mit Thallium. Natürlich bedeutet der Einsatz eines derart seltenen Stoffs wie Polonium, dass Krankenhäuser wohl kaum Kenntnisse im Bereich von Gegentherapien haben können (10). In dieser Hinsicht war die Wahl von Polonium im wahrsten Sinne des Wortes eine todsichere.
Letzten Endes stellt sich die Frage, wer beschlossen hatte, Litwinienko mit diesem Mittel umzubringen. Als ehemalige Arbeitskollegen konnten sich Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun sicherlich leichter Zugang zu Litwinienko verschaffen, als ein gänzlich Unbekannter. Für diesen Zweck waren sie bestens geeignet. Erstaunlich ist, dass sie drei Mal zwischen London und Moskau hin und her reisten, angeblich jedes Mal mit dem extrem gefährlichen Polonium im Gepäck und – im Fall Lugowois – auch noch in Begleitung der Familie. Und noch erstaunlicher ist, dass sie zwei Mal nach erfolgtem Attentat nicht sofort ausreisten. Das lässt gegenüber den bisher kolportierten Theorien Misstrauen aufkommen. Vielmehr ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie lediglich dazu dienten, dem eigentlichen Attentäter den Weg zum Opfer zu weisen.
Noch mehr Misstrauen kommt auf, wenn man sich vor Augen hält, dass Schweizer Ermittler heute nicht mehr ausschließen, dass der palästinensische Präsident Jassir Arafat im Jahr 2004 mittels Polonium vergiftet worden war. Zu dieser Erkenntnis gelangten sie im Jahr 2010 – Jahre, nachdem der Tod Litwinienkos die Öffentlichkeit bewegt hatte (11). Auch die Frage nach einem eventuellen Zusammenhang zwischen dem Tod Arafats und dem Mord an Litwinienko ist bislang ungeklärt. 
Fazit
Angesichts der Fakten kann schon der Verdacht aufkommen. Lugowoi und Kowtun seien erst als "Türöffner" zu Litwinienko und dann als Mittel zum Legen falscher Spuren missbraucht worden.
Ganz klar drückte sich damals der Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz, Sebastian Pflugbeil, im Gespräch mit der deutschen Tagesschau aus:
"Wenn man Polonium in einer gut verschlossenen Flasche hat, kann man es sauber transportieren und muss nicht eine solche Dreckspur hinterlassen … Entweder handelt es sich bei den Tätern um Dilettanten oder - und das würde ich auch für möglich halten - die Spur ist absichtlich gelegt worden, um den Verdacht in eine bestimmte Richtung zu lenken"
Und weiter erklärte er, es gebe wesentlich unauffälligere Methoden jemanden umzubringen; hier sei geradezu eine Autobahn nach Moskau ausgewalzt worden (12).
Der Fall Skripal
Im Lichte der Vergiftung von Alexei Nawalny werden nun auch wieder Parallelen zum Attentat auf Sergej Skripal im englischen Salisbury 2008 gezogen, über welchen World Economy im Oktober letzten Jahres berichtet hatte (13). Auch hier hatte die Täterschaft eine extrem wirksame und extrem seltene Substanz gewählt, die eine eindeutige Spur nach Russland hinterlassen musste. Und auch hier sind die Hauptverdächtigen ehemalige Mitarbeiter der Nachrichtendienste Russlands, von denen man annehmen darf, dass Russland sie niemals einem anderen Land zur Durchführung einer Strafuntersuchung ausliefern würde. Und auch sie verließen Großbritannien nicht unmittelbar nach durchgeführtem Anschlag auf Skripal. Waren auch Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin, die "Tracker", welche den eigentlichen Attentäter zum Opfer führten und hinterher als Sündenböcke herhalten mussten?
… und Nawalny?
Wenn in den Fällen Litwinienko und Skripal bewusst falsche Spuren gelegt wurden, um die russische Regierung für die Morde bzw. Mordversuche verantwortlich zu machen, dann stellt sich die Frage nach der Motivation und dem Zeitpunkt: Im Fall von Skripal ist ein Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine denkbar, ebenso wie mit der Erdgaspipeline "North Stream 2". Und Nawalny? Spielten hier eventuell die Proteste in Belarus und Spekulationen um eine Intervention Russlands eine Rolle? Oder sollte kurz vor der Wiederaufnahme der Schlussarbeiten an "North Stream 2" erneut eine antirussische Stimmung erzeugt werden, nachdem dies mit dem angeblichen Auftragsmord an einem tschetschenisch-georgischen Oppositionellen in Berlin nur unzureichend gelungen war (14)? Die traurige Wahrheit an der politischen Atmosphäre von heute ist, dass die Wahrheit, wenn sie denn je ermittelt werden kann, nicht mehr zählt. Denn, zu dem Zeitpunkt, an welchem fleißige Ermittler in akribischer Arbeit die Fakten zusammengetragen und ihre Analysen beendet haben, sind die ursprünglichen politischen Absichten schon umgesetzt und die Öffentlichkeit mit anderen Geschichten beschäftigt. 

Anmerkungen:

  1.        Siehe zum Beispiel https://orf.at/stories/3178293/.

  2.        https://mash.ru/.

  3.        https://t.me/breakingmash/20027.

  4.        Zu Polonium siehe http://www.chemie-im-alltag.de/articles/0089/index.html und http://www.chemie-im-alltag.de/articles/0089/index2.html, sowie https://www.chemistryworld.com/news/qa-polonium-210/3003354.article. https://www.tagesspiegel.de/politik/fall-litwinenko-polonium-fuer-zehn-millionen-dollar/788784.html.

  5.        Hier und im Folgenden: The Litvinenko Inquiry Report into the death of Alexander Litvinenko, Chairman: Sir Robert Owen January 2016, online unter https://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20160613090753/https://www.litvinenkoinquiry.org/files/Litvinenko-Inquiry-Report-web-version.pdf.

  6.        https://www.spiegel.de/politik/ausland/giftmord-an-litwinenko-toedlicher-drink-im-fuenf-sterne-hotel-a-453322.html; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/polonium-affaere-erreicht-hamburg-unheimlicher-besucher-in-der-kieler-strasse-12-a-453874.html.

  7.        https://www.abendblatt.de/hamburg/article107599273/Die-Akte-Hamburg.html

  8.        http://www.chemie-im-alltag.de/articles/0089/index.html und http://www.chemie-im-alltag.de/articles/0089/index2.html und https://www.chemistryworld.com/news/qa-polonium-210/3003354.article

  9.        https://moon.nasa.gov/resources/37/lunokhod-1/.

  10.        https://www.chemistryworld.com/news/qa-polonium-210/3003354.article

  11.        https://www.zeit.de/wissen/2013-11/arafat-polonium-gift-forensik

  12.        https://www.dw.com/de/polonium-entwarnung-in-hamburg/a-2267385.

  13.        Hier und im Folgenden: Nowitschok, Skripal und North-Stream 2 - Beweise, Indizien, Wahrheit, Montag, 7. Oktober 2019, auf https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/nowitschok-skripal-und-north-stream-2-beweise-indizien-wahrheit/

  14.        https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/gba-mord-moabit-russland-101.html

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