Drangsalierung oder Paranoia?

Von Oles Libovetz

Der spätere US-amerikanische Verteidigungsminister, James Forrestal, Sohn irischer Einwanderer, diente im Ersten Weltkrieg als Marineflieger in der US-Marine (1). Nach Kriegsende ging er zurück ins Zivilleben und arbeitete zeitweise für die Demokratische Partei im Bundesstaat New York, wo er Franklin D. Roosevelt kennenlernte. Als im Jahr 1940 der nächste Krieg vor der Haustür stand, berief ihn der mittlerweile zum US-Präsidenten avancierte Roosevelt in den Regierungsdienst, wo Forrestal rasch vom Verwaltungsassistenten zum Marineminister aufstieg. Er führte die US-Marine durch den Zweiten Weltkrieg. Nach der Zusammenlegung der US-Teilstreitkräfte in ein einziges Ministerium 1947 wurde Forrestal der erste Verteidigungsminister der USA. In jener Zeit kam er zunehmend in Konflikt mit US-Präsident Harry Truman, der ihn schließlich entließ. Danach verschlechterte sich Forrestals geistiger Gesundheitszustand rapide, weswegen er psychiatrisch behandelt werden musste, angeblich wegen Depressionen. Sein Misstrauen gegen die Sowjetunion war mittlerweile offenbar schon so stark geworden, dass sich eine psychische Krankheit entwickelte: Verfolgungswahn. Während seiner Behandlung im Bethesda Naval Hospital erlag Forrestal seinen tödlichen Verletzungen, die er sich bei einem Sturz aus einem Fenster im sechzehnten Stock zugezogen hatte. Mehrere Biographen bezeichneten seinen Tod als Selbstmord. Angeblich soll er sich mit den Worten "The Russians are coming“ aus dem Krankenhausfenster gestürzt haben. 

Jagd auf einen Diplomaten?

Der Deutsche Dirk Schübel ist seit 1997 beim Europäischen Auswärtigen Dienst EAD beschäftigt und gilt dort dank seiner Sprachkenntnisse als Russland-Experte (2). Er war an der EU-Integration Ungarns beteiligt, diente danach mehrere Jahre lang in der EU-Gesandtschaft in Kiew und wurde später Gesandter der EU in Moldawien. Dort soll er besonders enge Beziehungen zum Mafia-Oligarchen Vladimir Plahotniuc unterhalten haben, dessen Firmen-Imperium auch einen Escort-Service umfasste. Böse Zungen behaupten, Schübel habe auch in diesem Teilbereich Dienstleistungen in Anspruch genommen (3). Nach ein paar Jahren an der Zentrale in Brüssel wurde Schübel vom EAD erneut nach Osten entsandt, diesmal nach Belarus. Nachdem sich die Zusammenarbeit mit der belarussischen Regierung in den ersten Monaten seiner Tätigkeit gut entwickelt hatte, bewogen die Proteste im Herbst vergangenen Jahres Schübel zu einem radikalen Kurswechsel. Als Folge der, von Brüssel beschlossenen Sanktionen, wurde er von der belarussischen Regierung aus Belarus herauskomplimentiert: zu Konsultationen in die Zentrale zurückgeschickt, wie das im Jargon der Diplomaten heißt. Seither ist Schübel von der Überzeugung beseelt, dass er vom belarussischen KGB gejagt werde.
Unklar ist, ob diese Jagd wirklich stattfindet oder ob Schübel diese Geschichte einfach nutzt, um sich in der Opferrolle zu präsentieren und seinen Marktwert in den Augen des Top-Managements des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu steigern.
Was aber beunruhigt Schübel so? Gemäß Berichten aus Belarus begann es angeblich im November letztes Jahres, als Schübel plötzlich die Eingangstore seiner Residenz unverschlossen vorfand. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm selbst oder einem seiner Mitarbeiter eine kleine Nachlässigkeit unterlaufen sein könnte. Auch an ein technisches Versagen wollte er nicht glauben. Vielmehr unterstellte er dem, gesetzlich für die Sicherheit von Diplomaten zuständigen Komitee für Staatssicherheit KGB, die Tore geöffnet zu haben. Eine Erklärung, weshalb der KGB so etwas getan haben soll, blieb er bislang schuldig, was ihn aber nicht daran hinderte, eine Beschwerde über diesen Vorfall an die EU-Kommission zu senden (4).
Als Dirk Schübel im Dezember 2020 auf dem Weg in den Weihnachtsurlaub nach Berlin fuhr, wurde er in einen kleinen Unfall verwickelt (5). Verletzt wurde glücklicherweise niemand, und die umgehend eintreffende Verkehrspolizei identifizierte den anderen Unfallbeteiligten als den fehlbaren Lenker. Kein Problem, möchte man meinen. Dieser eher harmlose Zwischenfall rief bei Schübel in der Folge aber einen regelrechten Spionagewahn hervor. Er behauptete, das Auto des belarussischen Unfallbeteiligten sei ein Dienstfahrzeug des KGB gewesen und der Fahrer einer dessen Mitarbeiter. Unklar ist, wie Schübel diesen als solchen identifizierte, denn es ist nicht davon auszugehen, dass ein Mitarbeiter des belarussischen KGB sich Fremden gegenüber als solchen vorstellt. Gemäß den Ermittlungen der Verkehrspolizei war der angebliche KGB-Angestellte nicht allein im Auto unterwegs, sondern in Begleitung seiner betagten Mutter. Dieser Umstand vermochte das Misstrauen Schübels nicht zu zerstreuen, sondern veranlasste ihn im Gegenteil noch, dies als Ausdruck besonderer Niedertracht des belarussischen KGB zu bezeichnen, der nicht davor zurückschrecke, betagte Menschen in Gefahr zu bringen, wenn es darum gehe, einen unliebsamen Diplomaten zu drangsalieren. Vollends konfus wurde die Geschichte, als Schübel noch behauptete, der Fahrer sei ein Anhänger der "demokratischen Bewegung" in Belarus.

Kein Einzelfall

Schübels Fall ist kein Einzelfall. Mehrere Diplomaten des Europäischen Auswärtigen Diensts beschwerten sich in der jüngsten Vergangenheit über angebliche Druckversuche seitens der Behörden von Belarus. Ein Mitarbeiter der französischen Botschaft beschwerte sich kürzlich in Paris und Brüssel, dass er die Spülmaschine eingeschaltet vorfand, als er nach Hause kam. In Brüssel hegt man keinen Zweifel daran, dass die Maschine nicht von besagtem französischen Diplomaten selbst, sondern ausschließlich von KGB-Leuten eingeschaltet worden sein kann. In diesem Fall bleibt unklar, was den KGB dazu bewog, das Geschirr des betroffenen Diplomaten einer Reinigung zuzuführen (6).
All dies wäre beinahe belanglos, wenn dieser Unsinn nicht zum Streitgegenstand zwischen dem Stellvertretenden Leiter für die EU-Ostpolitik, Luc Devigne und der Vertretung von Belarus bei der Europäischen Union geworden wäre. Devigne beschwerte sich im Brustton der Überzeugung über diese Art von "Harassment“ gegen westliche Diplomaten, die er als erwiesen betrachtet. Devigne geißelte die jüngsten Schritte der Republik Belarus, welche Flüchtlinge aus aller Welt ungehindert an die litauische Grenze reisen lässt, als eine:

 "… hybrid attack by Lukashenko, assisted by the Kremlin, not only against Lithuania but also against the whole of the EU. Like mines or bombs, people from far countries are thrown over the border for attacks against the sovereignty of the neighboring country" (7).
Der Umgang mit Flüchtlingen ist in der EU ein umstrittenes Thema: Während die einen gerne erneut die Arme öffnen und "Refugees welcome" skandieren würden, möchten andere sie am liebsten umgehend wieder dorthin schicken, wo sie herkamen. Wer Flüchtlinge an der Grenze anhält, läuft Gefahr, sich unbeliebt zu machen, so wie vor Jahren Viktor Orban in Ungarn. In der gegenwärtig unfreundlichen Atmosphäre zwischen der Republik Belarus und der EU ist es deshalb eine übertriebene Erwartungshaltung, wenn Brüssel glaubt, dass Minsk ausgerechnet in diesem Bereich kooperiert. Litauen wird in den nächsten Wochen und Monaten erfahren, wie weit es mit der europäischen Solidarität her ist (8).
In Minsk mag man sich die Frage stellen, ob man die Evakuierung belarussischer Diplomaten in der Nacht des 9. August 2020 in Großbritannien nun seinerseits den britischen Nachrichtendiensten anlasten solle. Diese wurde notwendig, als ein aufgebrachter Mob versuchte, ein Auto mit diplomatischen Kennzeichen aufs Dach zu drehen und die Passagiere aus dem Wagen zu zerren, Das belarussische Außenministerium mag sich auch fragen, wie ein Angriff mit Rauchbomben auf die Botschaft von Belarus in Polen am 11. August 2020 einzuordnen sei. Oder wie die Republik Belarus auf den Angriff auf ihre Botschaft in Frankreich am 24. August letzten Jahres reagieren soll, als Unbekannte Farbbeutel auf das Gebäude warfen. Auch in Deutschland, Belgien und anderen EU-Ländern ereigneten sich ähnliche Fälle mit belarussischen Diplomaten und ihrem Eigentum. In Übereinstimmung mit der internationalen Praxis zum Schutz diplomatischer Institutionen wurden die örtlichen Strafverfolgungsbehörden in allen Fällen informiert. Aber die Polizei konnte die Täter bislang nicht ermitteln, obwohl alle diese Objekte und ihr Umfeld mit Videokameras überwacht werden (9). 

Einschüchterung oder Paranoia?
Offene Tore, eingeschaltete Spülmaschinen, ein Bagatellunfall und als nächstes vielleicht eine schwarze Katze, die in Minsk oder Moskau die Straße überquert: Es stellt sich die Frage, ob der KGB eine Einschüchterungs-Kampagne führt, oder ob etwas Anderes dahintersteckt. Anders als im Fall des unglücklichen James Forrestal könnte ein herzzerreißender Schrei "The KGB is coming" aus der Kehle Dirk Schübels zu seinem weiteren Aufstieg führen. In Minsk wird man dann aber wissen, wie sich der EAD die zukünftigen gegenseitigen Beziehungen vorstellt. 

Anmerkungen:

 

  1. Die Umstände des Tods von Forrestal wurden nicht durch die Polizei, sondern durch einen Untersuchungsausschuss der US-Marine untersucht. Ihr Untersuchungsbericht, der bis 2004 geheim gehalten wurde, scheint eher oberflächlich, ja sogar schlampig abgefasst worden zu sein. Vgl. den Willcutts Bericht über den Tod von James Forrestal: http://jamesforrestal.ariwatch.com/WillcuttsReport.htm.  Biographie Forrestals: Arnold A. Rogow: James Forrestal, New York 1963. Siehe auch Marc Pitzke: "Der Sonderling im Pentagon", in: einestages vom 28. März 2014, online unter https://www.spiegel.de/geschichte/james-forrestal-mord-oder-selbstmord-des-us-verteidigungsministers-a-959861.html. Forrestal war ein entschiedener Gegner der friedlichen Koexistenz. So sagte er einmal: »Die stärkste Armee und die stärkste Marine gehören in die Hände der mächtigsten Nation« - Amerikas. Vgl. auch "Ende bei Nachtigall", in: Der Spiegel 10/1964, 03.03.1964, online unter https://www.spiegel.de/politik/ende-bei-nachtigall-a-ed03f722-0002-0001-0000-000046163347?context=issue. Wooley, Alexander: "The Fall Of James Forrestal". The Washington Post, 23.05.1999, online unter  https://www.washingtonpost.com/archive/lifestyle/1999/05/23/the-fall-of-james-forrestal/60c653b3-c537-462f-b523-5fdc5cd934aa/

  2. Siehe Oles Libovetz: Die Gesichter europäischer Diplomatie, bei World Economy, 18.06.2021, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/die-gesichter-europaeischer-diplomatie/. Vgl. Belnovosti/Белновости: "Восточное партнерство для восточного немца: лица европейской дипломатии", in: Белновости, 09.06.2021, online unter https://www.belnovosti.by/politika/vostochnoe-partnersto-dlya-vostochnogo-nemca-lica-evropeyskoy-diplomatii

  3. Ebd. 

  4. Siehe "Что общего у министра обороны США Форресгола и посла ЕС в Беларуси Дирка Шубеля?", bei newsland, 02.08.2021, online unter https://newsland.com/user/4297728425/content/chto-obshchego-u-ministra-oborony-ssha-forresgola-i-posla-es-v-belarusi-dirka-shubelia/7448471 und Dal.by, online unter http://www.dal.by/news/178/02-08-21-3/

  5. Siehe "Что общего у министра обороны США…", a.a.O. 

  6. Ebd. 

  7. Siehe DELFI: Politics Foreign Minister to present proposal to EU ministers on new sanctions for Belarus, online unter https://www.delfi.lt/en/politics/foreign-minister-to-present-proposal-to-eu-ministers-on-new-sanctions-for-belarus.d?id=87678261

  8. Gewisse Demokratiedefizite hinderten die EU allerdings nicht, an der Verbesserung der Beziehungen mit Turkmenistan zu arbeiten: http://diplomatic-world.com/?p=4380. Auch Hindernisse für visafreies Reisen mit Armenien sollen beseitigt werden, das mit großen Korruptionsproblemen kämpft: EU official names obstacles in starting visa liberalization dialogue with Armenia, online unter http://caucasuswatch.de/news/2230.html

  9. Siehe "Что общего у министра обороны США…", a.a.O. In dieselbe Kategorie gehören auch Bewurf der belarussischen Botschaft in Vilnius mit Kartoffeln: https://euroradio.fm/en/potato-attack-belarus-embassy-vilnius. Ungeklärt blieb bislang auch der Angriff auf belarussische Bürger in Minsk am 7. Juli durch schwarz gekleidete Aktivsten: https://www.tvr.by/eng/news/obshchestvo/v_kieve_soversheno_napadenie_na_belorusov/.

 

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