Aggressive Sowjetunion? Wäre ein Angriff möglich gewesen?

In einem Umfeld, in welchem sich die Rhetorik zwischen Ost und West zunehmend verschärft, erhalten derzeit jene Kräfte Auftrieb, die gerne an den Kalten Krieg erinnern. Heute wie damals dominierten in der Argumentation oftmals Überzeugungen über Fakten. Russland, so argumentieren die neuen kalten Krieger, strebe danach, seinen Einflussbereich auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit militärischen Mitteln auszudehnen und letzten Endes die Sowjetunion in neuer Form wiederherzustellen. Der Sowjetunion ihrerseits wurde immer unterstellt, sie versuche mit militärischer Macht die politische Kontrolle über Europa zu erlangen (1).
Die Überzeugung der Angriffsabsichten der Sowjetunion hielt sich die ganze Dauer des Kalten Kriegs über und kam 1985 explizit im Weißbuch des Bundesministers für Verteidigung zum Ausdruck (2). Mehr denn je stellt sich heute die Frage, ob diese Thesen einer unvoreingenommenen Überprüfung standhalten. Beginnen wir doch einmal mit den ersten Jahren des Kalten Kriegs: Ein, noch vor dem Zerfall der Warschauer Vertragsorganisation WVO (im Westen Warschauer Pakt genannt) veröffentlichtes Dokument ermöglicht einen Einblick in die Anfangsphase des Kalten Kriegs.
Bereits im Februar 1944 beurteilten die Stabschefs der Teilstreitkräfte der USA, die Joint Chiefs of Staff, die Absichten der Sowjetunion nach dem Krieg und vertraten die Auffassung, dass die Sowjetregierung große Teile der Roten Armee demobilisieren werde, um das verheerte Land wiederaufzubauen. Bis zur Erholung der sowjetischen Wirtschaft, welche die Stabschefs nicht vor 1952 erwarteten, werde die Sowjetunion versuchen, einen neuerlichen Krieg zu vermeiden. Sie werde zu ihrer eigenen Sicherheit aber danach trachten, die von ihr besetzten Gebiete unter Kontrolle zu halten (3). Diese Beurteilung sollte sich in der Folge als weitgehend richtig erweisen.
Ein ganz anderes Bild zeigte sich etwas mehr als ein Jahr später: Im Sommer 1945 befürchteten die Westalliierten angesichts der großen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion, die Sowjets würden Westdeutschland überrennen, den Rhein forcieren und ganz Frankreich einnehmen. Sie waren der Auffassung, dass es den Westalliierten nicht möglich sein werde, Westeuropa zu verteidigen und dass ein Rückzug nach Frankreich, bis an den Rand der Pyrenäen, und in Italien bis nach Sizilien nicht zu vermeiden sei (4). Als einzige Handlungsoption sahen sie einen strategischen Luftkrieg mit Kernwaffen gegen die Sowjetunion aus dem Mittelmeerraum heraus. Offenbar war im Hauptquartier der Westalliierten in der Zwischenzeit Panik ausgebrochen.
Während amerikanische und britische Generale an eine sowjetische Großoffensive glaubten, plante der Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen GSBTD, Marschall Sokolowski das genaue Gegenteil (5). Am 5. November 1946 genehmigte er einen Operationsplan ("Operativnyi Plan") zur Verteidigung der Sowjetischen Besatzungszone SBZ (6). Dieser Plan wurde im Jahr 1989 in der russischen "Militärhistorischen Zeitschrift" publiziert (7). Die Publikation konnte erfolgen, weil die 40jährige Sperrfrist für den 1948 archivierten Plan abgelaufen war.
Ausgangslage
Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurden Deutschland und Österreich in je vier Besatzungszonen aufgeteilt, wie dies den Abmachungen der Konferenz von Jalta entsprach. Auch auf dem Territorium der ehemaligen Verbündeten des nationalsozialistischen Deutschlands, vor allem Ungarn und Rumänien, blieben Truppen der Roten Armee stehen. Bulgarien, Rumänien und Ungarn hatten sich erst angesichts der sich abzeichnenden Niederlage auf die Seite der Sowjetunion geschlagen. In Deutschland entstand die sowjetische Besatzungszone SBZ, deren Abschnittsgrenzen 1949 zur Staatsgrenze der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik wurden.
Nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands standen die Alliierten vor der Aufgabe, nun auch noch Japan zur Kapitulation zu zwingen. Hierfür zogen vor allem die Amerikaner in aller Eile ihre Truppen aus Europa ab und verlegten sie nach Ostasien. Die ehemaligen Kolonialmächte Ostasiens, primär Großbritannien, aber auch die Niederlande, taten es den Amerikanern gleich. In Deutschland blieben nur schwache Besatzungskräfte zurück.
Gemäß den Abmachungen der Konferenz von Jalta schickte sich auch die Sowjetunion an, namhafte Kräfte nach Fernost und Sibirien zu verlegen, wo sie an der Invasion der japanisch besetzten Gebiete in China teilnehmen sollten. Dabei handelte es sich um erfahrene und bewährte Truppen, wie die 5. Armee, die sich bei der Eroberung von Königsberg viel Erfahrung im Kampf in Städten erworben hatte, sowie die 6. Garde-Panzer- und die 53. Armee, welche an den Kämpfen in den Karpaten, Budapest, Prag und Wien beteiligt gewesen waren.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1945 nahm das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte, die Stavka, umfangreiche Umgruppierungen der Truppen in Europa vor, von denen auch die 1. und 2. Belarussische Front, sowie die 1. Ukrainische Front betroffen waren. Es entstanden die Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland GSBTD, die Nordgruppe der Truppen in Polen und die Zentralgruppe der Truppen in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Drei Armeen wurden in die Sowjetunion abgezogen, drei weitere in Deutschland aufgelöst, zwei aus Österreich bzw. der Tschechoslowakei nach Ungarn verlegt (8).
Nach Kriegsende bestanden die sowjetischen Truppen in Deutschland aus 6 Schützen-, 5 Panzer- und 2 mechanisierten Korps (9). Da der Personalbestand eines Panzer- oder Mechanisierten Korps ungefähr jenem einer Schützendivision entsprach (10), kann man von einem Bestand von 18 Schützen-Divisionen und 7 gepanzerten Divisionen ausgehen. Nach der Reorganisation umfassten die sowjetischen Kräfte in Deutschland noch die 3. Stoß-Armee und die 8. Garde-Armee, sowie die 1. und die 2. Garde-Mechanisierte Armee mit insgesamt 18 Divisionen, sowie eine (Front-) Luftarmee. Dazu kamen noch direkt unterstellte Truppen der GSBTD, vor allem Artillerie und Luftabwehr. Die Stufe der Armeekorps entfiel vollständig. Bis zur Gründung den Nationalen Volksarmee der DDR im Jahr 1955 war die Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland, abgesehen von der Kasernierten Volkspolizei der DDR die einzige militärische Kraft im Osten Deutschlands (11). Trotz aller dieser Reduktionen blieben die sowjetischen Truppen in Deutschland denjenigen der Westalliierten zahlenmäßig deutlich überlegen.
Bereits ein Jahr nach Kriegsende ließen die jugoslawische Unterstützung zugunsten kommunistischer Rebellen in Griechenland und die Frage der Nutzung von Bosporus und Dardanellen zunehmend Spannungen zwischen den ehemaligen Verbündeten in Europa aufkommen. In dieser Lage nahm Marschall Sokolowski die Planung einer Verteidigungsoperation an die Hand. Er tat dies wohl kaum ohne Billigung seitens der Stavka (12) in Moskau, im Gegenteil, eher auf deren direkte Anordnung. Das ist wohl der Hintergrund der Aussage im Operationsplan, wonach der Wunsch, günstige Voraussetzungen für allfällige Kampfhandlungen in Deutschland und den Schutz der Zonengrenzen zu schaffen, Anlass für dessen Ausarbeitung war.
Wer war Sokolowski?
Wassily Danilowitsch Sokolowski diente zu Beginn des Großen Vaterländischen Kriegs als Stellvertreter des Generalstabschefs der Roten Armee. In den Jahren 1943 bis 1944 amtete er erst als Stabschef und später als Oberbefehlshaber der sowjetischen Westfront. Von 1944 bis 1945 war er Stabschef der 1. Ukrainischen Front und danach Stellvertreter von Schukow in der Führung der 1. Weißrussischen Front. Nach dem Krieg wurde er Schukows Nachfolger als Oberster Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland und Oberkommandierender der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland GSBTD. Im Jahr 1949 wurde er zum Ersten Stellvertretenden Verteidigungsminister der Sowjetunion ernannt und amtete von 1952 bis 1960 gleichzeitig als Chef des sowjetischen Generalstabs (13). In dieser Zeit präsidierte er ein Autorenkollektiv, welches das Werk "Militärstrategie" verfasste. Dieses bot einen seltenen und tiefen Einblick in das militärische Denken der Sowjets und fand auch im Westen große Beachtung (14). Sokolowskis Ansichten in militärischen Fragen waren relevant in der damaligen Sowjetunion und weit darüber hinaus.
Selbstverständlich sind auch Sokolowskis "Militärstrategie" und die sowjetische Militärenzyklopädie voll von Unterstellungen über "imperialistische" Absichten des kapitalistischen Westens. Die Mitarbeiter des Autorenkollektivs waren eben Kinder ihrer Zeit, die von ihrer Umgebung und ihren Erfahrungen geprägt waren. Und die Jahre zwischen der russischen Revolution und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren nicht eben geeignet gewesen, Vertrauen zwischen West und Ost zu schaffen.
Tief gestaffelte Verteidigung
Beim "Operativen Plan" vom 5. November 1946 handelt es sich nicht um einen Operationsplan im westlichen Verständnis, sondern um ein Dokument mit einer Beurteilung der Bedrohung und einer Zusammenfassung der operativen Idee, was in der westlichen Terminologie am ehesten dem Begriff der Absicht entspricht. Dazu kamen die Aufträge an die direkt unterstellten Kommandostellen und die Raumordnung, gefolgt von Anordnungen in den Bereichen der rückwärtigen Sicherstellung (Logistik) und der Führungsorganisation. Ausgefertigt wurde es vom Chef des Stabes der GSBTD und dem Leiter der Operationsabteilung. Dieses Dokument sollte die direkt unterstellten Kommandostellen und die Chefs der verschiedenen Dienste befähigen, die Planung in ihren Bereichen zu initiieren, sodass in einer späteren Phase die Zusammenarbeit innerhalb der Kräftegruppe organisiert und eine Gefechtsanordnung (russisch боевое распоряжение, boevoe rasporyazhenie) verfasst werden konnte. Letzteres ist im Operationsplan auch befohlen: Die Plan für die Zusammenarbeit sei bis 1. Januar 1947 zu präsentieren. Das Dossier des Operationsplans umfasst 56 Seiten und 3 Karten, was für heutige westliche Verhältnisse wenig sein mag, in der russischen Armee aber bis heute nicht ungewöhnlich ist. Im Unterschied zu den Überzeugungen, die im Westen verbreitet sind, wird in Russland auf der operativen Stufe die Auftragstaktik angewandt. Die gründliche Ausbildung, die Generalstabsoffiziere und Generale in Russland bis heute erhalten, lässt dieses Vorgehen zu. Für den Kenner russischer Beurteilungs- und Planungsverfahren ist dies alles wenig überraschend.
In seinem Operativen Plan geht der Stab der GSBTD von vier Stößen der westalliierten Truppen in die Sowjetische Besatzungszone SBZ aus, nämlich von einem Hauptstoß aus dem Raum Helmstedt über Magdeburg nach Berlin und drei Nebenstößen: Einen ersten erwarteten sie aus dem Raum Hamburg nach Schwerin, einen zweiten aus dem Raum Kassel nach Leipzig, und einen dritten aus Hof a.d.Saale ebenfalls in den Raum Leipzig.
Zur Abwehr dieser Angriffe befahl das Oberkommando der GSBTD den Ausbau von drei Verteidigungsstellungen hintereinander. Die vorderste verlief grob auf einer Linie Wismar – Bad Brambach, die zweite auf einer Linie Rostock – Plauen und eine dritte auf der Linie Damgarten – Königswalde. Der zweite Verteidigungsstreifen verlief 30 bis 70 km hinter dem Hauptverteidigungsstreifen und der dritte wiederum 25 bis 50 km hinter dem zweiten. Das sind auch für heutige Verhältnisse ungewöhnlich weite Abstände. Mit einer Ost-West-Ausdehnung von minimal 180 km zwischen der Westgrenze bei Wittenberge und der Oder bei Schwedt hatte die sowjetische Besatzungszone die operative Tiefe, die es braucht, damit eine operativ-strategische Kräftegruppierung sich mit mehreren Armeen zur Verteidigung einrichten kann.
Konkret legte Sokolowski die vordere Grenze des Hauptverteidigungsabschnittes wie folgt fest:

"… Wismar, Schweriner See, Ludwigslust, Lenzen, Elbe bis Barby (30 km südöstlich Magdeburg) und weiter entlang der Saale bis Saalburg (30 km westlich von Plauen), weiter Oelsnitz, Adorf, Brambach. Diese Linie der Vordergrenze erstreckt sich über 515 km". (15)

Diese Linie verlief auf circa 360 km entlang von Flüssen und auf über 150 km in offenem Gelände. Sie lag in einer Entfernung von 50 bis 120 km von der innerdeutschen Grenze, lediglich im weit in die SBZ einspringenden Wendland verlief sie entlang der Grenze, die dort durch die Elbe gebildet wird. Im äußersten Süden, im Vogtland kam sie wieder näher zur innerdeutschen Grenze zu liegen, denn dort musste möglicherweise der Anschluss an die Staatsgrenze der Tschechoslowakei bzw. die Verteidigungsstellung der tschechoslowakischen Volksarmee gewährleistet sein.
Vor der ersten Verteidigungslinie bis an die innerdeutsche Grenze verlief ein Sicherungsstreifen. Die Grenze selbst und dieser Sicherungsstreifen sollten durch nicht mehr als vier Schützenregimenter besetzt werden. Das reichte bestenfalls für die Besetzung der wichtigsten Straßenübergänge aus den Besatzungszonen der Westalliierten. Eine massive militärische Präsenz an der innerdeutschen Grenze war das nicht. Weiter hinten sollten aus Pionieren gebildete bewegliche Sperrabteilungen die gegnerischen Vorstöße verzögern und die vorstoßenden Truppen abnutzen. Eine bedeutende Rolle spielte die Artillerie, welche den Feuerkampf zugunsten der, in der Front eingesetzten Armeen (3. Stoß-Armee und 8. Garde-Armee) zu führen hatte. Beweglich eingesetzte Panzerabwehr-Artillerie sollte als Panzerabwehrreserve durchgebrochene gegnerische Truppen aufhalten. Die Reserveverbände der vorne eingesetzten zwei Armeen und die zwei Armeen der Reserve (1. und 2. Garde-Mechanisierte Armee) sollten Gegenangriffe führen, damit die Hauptverteidigungsstellung gehalten werden konnte. Diese Gegenschläge waren in eine Tiefe von 40 bis 80 km geplant. Ferner sollte die im nördlichen Abschnitt stehende 2. Garde-Mechanisierte Armee gegnerische Seelandungen im Raum Rostock zerschlagen. Gegenschläge über die innerdeutsche Grenze hinaus waren nicht vorgesehen. Das alles erinnert stark an die operative Aufstellung der Roten Armee in den Verteidigungsoperationen im Kursker Bogen 1943 und am Balaton-See 1945.
Seit dem Dezember 1941 hatte die Rote Armee Dutzende von Gegenangriffsoperationen geführt, aber entscheidende Erfolge hatte sie in zwei Verteidigungsoperationen errungen: Dank der Abwehr der deutschen Großoffensive im sogenannten Kursker Bogen im Jahr 1943 hatte die Rote Armee definitiv die Initiative gegen die deutsche Wehrmacht gewonnen. In der Verteidigungsoperation am Balaton-See in Ungarn wehrte die 3. ukrainische Front von Marschall Tolbuchin die von den Deutschen als "Operation Frühlingserwachen“ bezeichnete Offensive ab und zerschlug die deutsche Panzerwaffe definitiv, darunter auch jene SS-Panzerdivisionen, die nach dem Scheitern der Ardennenoffensive aufgefrischt und nach Ungarn verlegt worden waren. 
Wäre ein Angriff möglich gewesen?
Um die insgesamt fünf Schützendivisionen der 3. Stoß- und der 8. Garde-Armee zum Angriff in offenem Gelände zu befähigen, hätten sie mit Panzern verstärkt werden müssen. Zusammen mit den verbleibenden Panzerverbänden wäre die GSBTD wohl kaum zu mehr fähig gewesen, als auf einer Frontbreite von 50 bis 70 km zum Angriff überzugehen (16). Dazu hätten die Verbände aber erst von ihren Friedensstandorten in Versammlungsräume aufmarschieren müssen, denn die Dislokation der Truppen in der SBZ hätte keinen Angriff direkt aus den Friedensstandorten zugelassen. Dafür waren die Distanzen zwischen den Verbänden und zur Staatsgrenze zu groß. Die Truppen der GSBTD reichten wohl gerade, um die festgelegten Verteidigungsstreifen zu besetzen.
Angesichts der starken und einsatzerprobten Luftstreitkräfte der Westalliierten konnte Sokolowski realistischerweise nicht damit rechnen, seine mobilen Verbände ungestört beweglich einsetzen zu können. Für die dauerhafte Erringung der Lufthoheit fehlte es ihm an Bomben- und weitreichenden Jagdflugzeugen, welche die westliche Luftwaffe auf ihren Basen hätten angreifen können. Die Besetzung einer starken Linie im Gelände machte folglich Sinn. Sokolowskis Operationsplan beinhaltete auch Gegenangriffe zur Wiederherstellung der Lage, im Süden der SBZ bis auf eine Linie Magdeburg – Jena, im Norden bis an die innerdeutsche Grenze im Raum Wittenburg, Wittenberge und Salzwedel.
Mit einem Vorstoß aus der SBZ an den Rhein hätte Sokolowski eine offene Nordflanke in Ostsee, Jütland und Nordsee geschaffen, welche die sowjetische Seekriegsflotte angesichts der drückenden Überlegenheit der US-amerikanischen und britischen Flotten nicht zu schützen imstande gewesen wäre. Das hätte Sokolowski gezwungen, ständig starke Kräfte zur Abwehr einer Seelandung der Westalliierten bereitzuhalten. Aufgrund der Erfahrungen aus der Landung der Westalliierten in der Normandie musste Sokolowski sich dessen bewusst sein, dass er die Landung selbst wohl nicht werde verhindern können und dass er die Landungstruppe durch Gegenschläge zerschlagen musste. Das hätte Kräfte gebunden, die Sokolowski am Rhein gefehlt hätten.
Insgesamt ist die Verteidigungsoperation gekennzeichnet durch die Verteidigung entlang starker Geländehindernisse, eine beweglich geführte Verteidigung im zweiten und dritten Verteidigungsstreifen, über kurze Distanzen geführte Gegenschläge zur Abwehr gegnerischer Durchbruchsversuche, beweglich eingesetzte Panzerabwehr und massiven Artillerie-Einsatz. Sokolowskis Idee der Verteidigungsoperation trug den Gefechtsmöglichkeiten der eingesetzten Truppen, dem ungünstigen Verhältnis zwischen Raum, Auftrag und Kräften, sowie der zu erwartenden starken Tätigkeit der gegnerischen Luftstreitkräfte Rechnung.
Von einem überfallartigen, überraschenden Angriff auf 500 km Breite in Angriffsziele am Rhein, in über 300 km Tiefe, konnte somit auch nicht annähernd die Rede sein. Das Bild der Bedrohung, welches die amerikanischen und britischen Generale von der Sowjetarmee im Jahr 1946 skizzierten, war wohl weit übertrieben.
Die Verteidigung der Tschechoslowakei
Ein ähnliches Bild zeichnet der Schweizer Militärhistoriker Rudolf Fuhrer, der nach dem Zerfall der WVO die Dokumente der ostdeutschen, tschechoslowakischen, ungarischen und polnischen Streitkräfte sichtete und auf dieser Basis den Band über den Kalten Krieg in der Reihe der Geschichte des schweizerischen Generalstabs verfasste (17).
Die tschechoslowakischen Planungen waren darauf ausgerichtet, eine gegnerische Invasion grenznah aufzufangen und durch Gegenangriffe bzw. Gegenschläge die Ausgangslage wiederherzustellen. Die Tschechoslowaken rechneten damit, dass solche Gegenschläge erst möglich wären, wenn Verbände der Sowjetarmee zur Verfügung stehen. Damit rechneten sie ab dem fünften Kriegstag, denn sowjetische Verbände hätten erst aus Ungarn zugeführt werden müssen, wo die Zentralgruppe der sowjetischen Truppen stationiert war. In den Jahren 1945 und 46 waren die sowjetische 7. und 9. Garde-Armee aus der Tschechoslowakei abgezogen worden. Erst nach dem "Prager Frühling" kehrten sowjetische Truppen wieder dauerhaft in die Tschechoslowakei zurück.
Es ist davon auszugehen, dass spätestens nach der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei die Planungen der tschechoslowakischen Volksarmee mit jenen der sowjetischen Truppen in Deutschland abgesprochen wurden. Und nach der Gründung der Warschauer Vertragsorganisation im Jahr 1955 waren wohl die Auffassungen des sowjetischen Generalstabs auch für die ČVA verbindlich.
Nach dem Studium dieser Unterlagen in den Archiven urteilte Fuhrer: 

"In all diesen Planungen sind keine Absichten herauszulesen, Westeuropa anzugreifen" (18)
Fazit
Zumindest in den ersten zehn Jahren des Kalten Kriegs sprechen die militärischen Planungen der Sowjetunion, genauso wie jene der Tschechoslowakei nicht dafür, dass deren politische Führung die Absicht verfolgt hätte, Westeuropa militärisch zu unterwerfen und in ihren Einflussbereich einzugliedern. In dieser Hinsicht muss die westliche Bedrohungsperzeption revidiert werden. Aber auch östlich des "Eisernen Vorhangs" hatte man offensichtlich kein zutreffendes Bild der Absichten der Gegenseite in Bezug auf Mitteleuropa. Ein Stoß nach Schwerin, Berlin oder Leipzig war wohl das letzte, woran die britischen und amerikanischen Generale dachten. Aber Panik ist ein schlechter Ratgeber, damals wie heute. Umgemünzt auf heute ist die Konsequenz aus diesen Erkenntnissen, dass wir in Ost und West erst unsere Auffassung von der Bedrohung überprüfen sollten, bevor wir uns erneut auf der Basis weit übertriebener Bedrohungsperzeptionen in einen Kalten Krieg stürzen.
Infobox
Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland GSBTD 1946

3. Stoß Armee: 2 Schützen-Divisionen, 2 Mechanisierte Divisionen, 1 Panzer-Division

8. Garde Armee: 3 Schützen-Divisionen, 2 Mechanisierte Divisionen

1. Garde-Mechanisierte Armee: 2 Panzer-Divisionen, 2 Mechanisierte Divisionen

2. Garde-Mechanisierte Armee: 3 Panzer-Divisionen, 2 Mechanisierte Divisionen

Artillerie: 4. Artilleriekorps mit 3 Artillerie-Divisionen, 2 Panzerjäger-Brigaden

Luftabwehr: 5 Flugabwehr-Artillerie Divisionen

Flieger: 16. Luftarmee
Anmerkungen

  1. Zu dieser Thematik generell Ove Ovens, Die Nationale Volksarmee der DDR zwischen "Wende" und Auflösung; der Untergang der NVA im Lichte des Zusammenbruchs der DDR, Dissertation Universität Regensburg, Ingolstadt 2003, online unter https://epub.uni-regensburg.de/10188/1/Dissertation%20Teil%201.pdf. Besonders der ehemalige britische Verteidigungsminister Malcolm Rifkind hausiert gerne mit der These von der genetisch bedingten Aggressivität der Russen. Diese These vertrat er auch an einer Sicherheitskonferenz in Kiew am 14./15.04.2016 im Fairmont Grand Hotel Kiew, welcher auch der Verfasser beiwohnte. Möglicherweise ging es ihm damals aber mehr darum, sich beim ukrainischen Publikum anzubiedern.

  2. Siehe Der Bundesminister für Verteidigung, Weißbuch 1985, S. 49. 

  3. Siehe Ross, Steven T., American War Plans 1945–1950, New York/London 1988, S. 4f und Schnabel, James F., The Joint Chiefs of Staff and National Policy, in: History of the Joint Chiefs of Staff; Volume I: 1945-1947, hrsg. durch das Office of Joint History, Office of the Chairman of the Joint Chiefs of Staff, Washington (D.C.) 1996, S. 7f., online verfügbar unter https://www.jcs.mil/Portals/36/Documents/History/Policy/Policy_V001.pdf

  4. Vgl. https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/wer-loeste-den-kalten-krieg-aus/. Siehe auch Michio Kaku, Daniel Axelrod, To Win a Nuclear War: The Pentagon’s Secret War Plans, Boston 1987, S. 34f und 43f, online verfügbar unter https://books.google.ru/books?redir_esc=y&hl=ru&id=yOP2v_vy2GIC&pg=PA31#v=onepage&q&f=false

  5. Zu den amerikanisch-britischen Plänen vgl. https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/wer-loeste-den-kalten-krieg-aus/. GSBTD, russisch Группа советских оккупационных войск в Германии (Gruppa sowjetskich okkupazionnych wojsk w Germanii). 

  6. Siehe Artur Pech, Zum militarisierten Grenzregime der DDR, Grenzschutz und Grenzregime an der deutsch-deutschen Grenze, Standpunkte zu einer andauernden Kontroverse, in: DSS-Arbeitspapiere, hrsg. von der Dresdener Studiengemeinschaft SICHERHEITSPOLITIK, Heft 103 – 2011, Dresden 2011, S. 9-47; insbesondere S. 16-18, online verfügbar unter https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A32493/attachment/ATT-0/

  7. Russisch Военно-исторический Журнал, Voenno-istoricheskyj Zhurnal. Siehe Военно-исторический журнал 1989 № 02, onlineunter https://www.twirpx.com/file/978936/, S. 26-31. 

  8. Siehe Befehl für die Bildung der GSBTD, Директива Ставки Верховного Главнокомандования командующему войсками 1-го Белорусского фронта о переименовании фронта в Группу советских оккупационных войск в Германии, № 11095 29 мая 1945 г. 03.30, online unter http://militera.lib.ru/docs/da/berlin_45/16.html. Zur Bildung der Zentralgruppe der Truppen siehe Директива Ставки Верховного Главнокомандования командующему войсками 1-го Украинского фронта о переименовании фронта в Центральную группу войск, № 11096 29 мая 1945 г. 03.30, online unter http://militera.lib.ru/docs/da/berlin_45/16.html. Zur Bildungder Nordgruppe der Truppen siehe Директива Ставки Верховного Главнокомандования командующему войсками 2-го Белорусского фронта о переименовании фронта в Северную группу войск, № 11097 29 мая 1945 г. 03.30, online unterhttp://militera.lib.ru/docs/da/berlin_45/16.html. Zu den Armeen der Roten Armee bzw. Sowjetarmee siehe https://www.soldat.ru/doc/perechen/

  9. Zur Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland siehe http://svgvg.ru/index.php?option=com_content&view=article&id=3&Itemid=104 und https://svetochnews.ru/gruppa-sovetskih-okkupacionnyh-vojsk-v-germanii/und den entsprechenden Befehl der Stavka: Директива Ставки Верховного Главнокомандования командующему войсками 1-гоБелорусского фронта о переименовании фронта в Группу советских оккупационных войск в Германии, № 11095 29 мая 1945 г. 03.30, online unter http://militera.lib.ru/docs/da/berlin_45/16.html

  10. Vgl. Boris V. Sokolov, Unwiederbringliche Verluste der Roten Armee und der Wehrmacht 1939–1945, online unter https://www.stsg.de/cms/sites/default/files/dateien/texte/Sokolov_de.pdf.

  11. Die Kasernierte Volkspolizei wurde 1948 auf Befehl der sowjetischen Militäradministration in Deutschland gegründet und umfasste 40 sogenannte "Bereitschaften" zu 250 Mann. Siehe Torsten Diedrich, Rüdiger Wenzke, Die getarnte Armee. Geschichte der Kasernierten Volkspolizei der DDR 1952 bis 1956; Militärgeschichte der DDR. Bd. 1, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Berlin 2001. 

  12. Stavka stand für das Hauptquartier des Obersten Befehlshabers der russischen Armee im Ersten und im Zweiten Weltkrieg; russisch Ставка Верховного Главнокомандующего, Stavka Verkhovnogo Glavnokomanduyushchego.

  13. Zu Sokolowski siehe https://www.hdg.de/lemo/biografie/wassilij-d-sokolowski.html und https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/kataloge-datenbanken/biographische-datenbanken/wassili-danilowitsch-auch-dawidowitsch-sokolowski.

  14. Zum Buch "Militärstrategie" siehe die Kommentare in der deutschen Presse: https://www.spiegel.de/kultur/wer-fuehrt-den-ersten-schlag-a-c6345e0d-0002-0001-0000-000046407213?context=issue und https://www.zeit.de/1965/48/der-lokale-krieg-ist-moeglich

  15. Russisch Военно-исторический Журнал, Voenno-istoricheskyj Zhurnal, a.a.O., aus dem Russischen übersetzt. 

  16. Eine, mit einem Panzerbataillon verstärkte Schützendivision konnte auf einer Frontbreite von ca. 3½ bis 4 km angreifen, eine Mechanisierte oder eine Panzerdivision auf 5 km. Die Berechnung der Frontbreite basiert auf der Annahme, dass die GSBTD bis zu einen Drittel der Kräfte, d.h. 6 Panzer- oder Mechanisierte Divisionen in Reserve hält. 

  17. In einem persönlichen Gespräch mit dem Verfasser beklagte Hans-Rudolf Fuhrer im Jahr 2013, dass es bislang nicht möglich gewesen sei, die Dokumente des sowjetischen Generalstabs einzusehen. 

  18. Hans-Rudolf Fuhrer, Alle Roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht?“, in Military Power Review der Schweizer Armee, Nr. 2/2012, S. 50, online unter https://www.files.ethz.ch/isn/155690/MPR_2-12%20web.pdf.

 

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