Wer löste den Kalten Krieg aus?

Von Gerd Brenner, Oberst d.G.
In der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre machten die USA ausgiebig Gebrauch von ihrem Atomwaffenmonopol und widersetzten sich gestützt darauf erfolgreich einer weiteren Expansion der kommunistischen Ideologie und damit einer Ausweitung der Einflusssphäre der Sowjetunion.
Als sich die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, machte sich nicht nur der britische Premierminister Winston Churchill Gedanken über die Welt nach dem Krieg. Auf der anderen Seite des Atlantiks stellten auch die Stabschefs der Teilstreitkräfte der USA, die Joint Chiefs of Staff, Überlegungen zu diesem Thema an. Bereits im Februar 1944 beurteilten sie die Absichten der Sowjetunion nach dem Krieg und kamen zum Schluss, dass die Sowjetunion große Teile der Roten Armee demobilisieren werde, weil sie das verheerte Land wiederaufbauen müsse. Eine Erholung der sowjetischen Wirtschaft erwarteten sie erst gegen das Jahr 1952. Bis dahin, so schlossen die Stabschefs, werde die Sowjetunion versuchen, einen neuerlichen Krieg zu vermeiden. Sie werde zu ihrer eigenen Sicherheit aber danach trachten, die angrenzenden Staaten, welche die Rote Armee vom Nationalsozialismus befreien würde, unter Kontrolle zu halten (1).
Die US-Generale behalten Recht
Wie recht die US-Stabschefs mit ihrer Prognose hatten, zeigte sich nach Kriegsende in Europa sehr rasch: Kontingente der Roten Armee blieben nicht nur in den ehemaligen Feindstaaten Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien stehen, sondern auch in Polen und bis 1947 in Bulgarien. Polen bekam den Marschall der Sowjetunion Konstantin Konstantinovich Rokossovskyi, dessen Familie ursprünglich aus Polen stammte, als Verteidigungsminister aufoktroyiert (2). Und in allen Ländern, die neu der sowjetischen Einflusszone zugehörten, verhalf Stalin den Kommunisten an die Macht. Zusätzlich sorgte Stalin dafür, dass er zu den Territorien seiner neuen Satellitenstaaten einen militärisch nutzbaren Zugang erhielt. Mit der Annexion der Karpatenukraine im Osten der Slowakei sicherte sich die Sowjetunion einen Brückenkopf westlich der Karpaten und dadurch ungestörten Zugang zum Territorium Ungarns und der Tschechoslowakei. Mit der Annexion des Gebiets Kaliningrad im ehemaligen Ostpreußen bekam die sowjetische Kriegsflotte einen eisfreien Hafen an der Ostsee und war nicht mehr so einfach im Finnischen Meerbusen zu blockieren, wie dies in den Jahren 1941 bis 1944 der Fall gewesen war. Sie wurde dadurch auch unabhängig von den drei baltischen Republiken, die sich der Eingliederung in die Sowjetunion widersetzten. Damit hatte Stalin gegen eine allfällige Konfrontation mit den Westalliierten in Europa vorgesorgt. Ein neuer Krieg würde erst einmal weit von den Grenzen der Sowjetunion beginnen. Das Desaster des Sommers 1941 würde sich so hoffentlich nicht wiederholen.
Insgesamt ging die Demobilisierung der Roten Armee bzw. der Sowjetarmee langsamer vonstatten als die Westalliierten wohl erwartet hatten (3). Dennoch: Von über elf Millionen im Jahr 1945 sank die Zahl der Soldaten bis 1948 auf drei Millionen (4). Gleichzeitig wurde die Produktion von Waffen stark zurückgefahren. Während die Briten im Sommer 1945 noch über die Möglichkeit eines Kriegsausbruchs zwischen den Alliierten nachdachten, verlegte Stalin bewährte Truppen und erfahrene Kommandeure in den Fernen Osten, um auf Wunsch der Westalliierten am Krieg gegen Japan teilzunehmen (5). Das hätte das Misstrauen in London eigentlich etwas abbauen müssen.
Militärische Schwäche des Westens und Expansion des Kommunismus
Nach der deutschen Kapitulation zogen auch die Amerikaner rasch Truppen aus Deutschland ab, um sie nach Fernost zu verlegen. Als Japan im September 1945 kapitulierte, kam die US-Regierung unter Druck, große Teile ihrer Streitkräfte rasch zu demobilisieren und nach Hause zu bringen. Da die meisten westeuropäischen Länder in jenen Jahren mit dem Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und der Wirtschaft beschäftigt waren, wäre in einem neuen Konflikt von ihnen nicht viel Hilfe zu erwarten gewesen. Westeuropa stand in jenen Monaten militärisch in der Tat etwas schwach da. Auf der anderen Seite waren die Streitkräfte der Sowjetunion bis in die frühen Fünfzigerjahre damit beschäftigt, Partisanenbewegungen in der Ukraine und im Baltikum zu bekämpfen. Gleichzeitig ging in der Sowjetunion das Strafgericht über alle tatsächlichen oder vermeintlichen Kollaborateure mit den Deutschen während des Kriegs nieder.
In diesen Jahren unterstützten die Sowjetunion und vor allem Jugoslawien den Aufstand kommunistischer Rebellen in Griechenland (6). Schon kurz nach dem Abzug der Deutschen aus Griechenland im Jahr 1944 hatten die Briten zugunsten der pro-westlichen, monarchistischen Partisanen interveniert, sahen sich ab 1947 aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr in der Lage, diese weiterhin zu unterstützen und riefen die USA zu Hilfe. Die Türkei kam nach Kriegsende unter den Druck der Sowjets, welche in Bosporus und Dardanellen freie Fahrt für ihre Schiffe anstrebten und territoriale Forderungen im äußersten Osten Anatoliens stellten.  Der traditionelle Drang Russlands zu den warmen Meeren dürfte den Hintergrund für ersteres gebildet haben. Mit dem Widerstand von Griechen und Türken gegen kommunistische Einflussnahme begann die westliche Strategie des Containments und damit der Kalte Krieg.
Atomwaffen gegen die Sowjetunion
Durch die Operationsstudie "UNTHINKABLE" war Winston Churchill im Mai 1945 zur Erkenntnis gekommen, dass der Sowjetunion mit militärischen Mitteln nicht ohne weiteres beizukommen sei. Die Studie rechnete nicht mit dem Einsatz von Nuklearwaffen, obwohl den Briten eigentlich klar sein musste, dass die Amerikaner bald über eine solche verfügen mussten. Schließlich hatte die britische Regierung im Jahr 1943 ihr eigenes Kernwaffenprogramm aufgegeben, um am US-amerikanischen "Manhattan" Projekt teilzunehmen und wurde im Gegenzug laufend über die Fortschritte beim Bau der US-amerikanischen Atombombe informiert (7). Natürlich konnten die Briten in ihrer Operationsstudie "UNTHINKABLE" nicht eine Waffe ihrer Verbündeten einplanen. Dass die Amerikaner kaum bereit waren, ihre neue Erwerbung mit anderen zu teilen, zeigte alleine schon die Tatsache, dass sie lieber den amerikanischen B-29 Bomber von Boeing aufwändig umbauten, als auf einen der bewährten und zahlreich vorhandenen britischen Avro Lancaster Bomber zurückzugreifen. Die Special Version des britischen Bombers hätte die gut fünf Tonnen schweren Atombomben problemlos transportieren können, während bei der B-29 eine Vergrößerung der Bombenschächte notwendig war, welche Modifikationen am ganzen Rumpf notwendig machten (Projekt "Silverplate") (8). Im Gegensatz dazu war Spezialversion des Lancaster Bombers nicht nur verfügbar, sondern hatte sich schon ab Sommer 1944 in mehreren Missionen mit den schweren Bomben der Typen "Tallboy" und "Grand Slam" bewährt (9).
Im Juli 1945 erhielt der US-Kriegsminister Henry L. Stimson Schätzungen zur weiteren Produktion von Atombomben. Die Leitung des "Manhattan"-Projekts sagte voraus, dass eine zweite Plutoniumbombe bis zum 24. August fertig sein würde und weitere drei Bomben im September. Danach könnte die monatliche Produktion von Atombomben weiter gesteigert werden, bis zu einer Zahl von minimal sieben im Dezember (10). Diese Zahlen sollten sich später als allzu optimistisch herausstellen.
Noch im August 1945 entstand der Operationsplan, "TOTALITY", der den Einsatz von 30 Atombomben auf 20 Städte in der Sowjetunion zielte. Ob dieser Plan primär zwecks Täuschung und Verwirrung der sowjetischen Führung erstellt wurde, ist umstritten. Die schiere Größe des Landes und der Mangel an Atombomben und Bombenflugzeugen auf Seiten des Westens ließen jedoch die Hoffnungen auf einen nachhaltigen Erfolg eines Überfalls auf die Sowjetunion so weit schwinden, dass die Amerikaner davon absahen (11).
Angriff als beste Form der Verteidigung?
In den Jahren nach dem Krieg entstanden in den USA zahlreiche Operationsstudien und –pläne für die Verteidigung Europas vor einer befürchteten sowjetischen Invasion. Eine erste Studie wurde ab März 1946 unter dem Codenamen "PINCHER" diskutiert, der mehrere regionale Studien folgten (12). Angesichts der großen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion waren die US-amerikanischen, britischen und kanadischen Planer überzeugt, dass die Sowjetarmee Westdeutschland und die die Benelux-Staaten bis zum Rhein überrennen werde und bezweifelten, dass es möglich sein werde, Westeuropa zu verteidigen. Sie schlossen sogar einen Rückzug der westlichen Truppen bis an den Rand der Pyrenäen und bis Sizilien nicht aus. Die einzige kurzfristige Handlungsoption bestand nach ihrer Auffassung in einer strategischen Luftoffensive gegen die Sowjetunion, die aus Basen in Großbritannien, Ägypten, Pakistan und Okinawa geführt werden musste. Als einzige Möglichkeit, das sowjetische Territorium direkt anzugreifen, betrachteten die Planer eine Invasion der Schwarzmeerküste (13). Aber dafür brauchten sie selbst freie Hand in Bosporus und Dardanellen.
Konsequenterweise begannen die Amerikaner mit dem Aufbau einer Datenbank über mögliche Ziele auf dem Territorium der Sowjetunion. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Westalliierten systematisch Dossiers über mögliche Ziele von Bombenangriffen in Deutschland und den deutsch besetzten Gebieten erstellt. Diese Zieldossiers umfassten Luftaufnahmen, Zielkarten und nachrichtendienstliche Berichte. Das Zusammenstellen eines derartigen Dossiers konnte sich über Wochen oder sogar Monate erstrecken. Ab dem Januar 1946 begannen die Amerikaner damit, derartige Zieldossiers für die Sowjetunion zu erstellen. In den darauffolgenden sechs Monaten entstanden nicht weniger als 5'594 solcher Zieldossiers. Mit anderen Worten: Die USA begannen zu Beginn des Jahres 1946 mit systematischen Planungen für einen strategischen Bombenkrieg gegen die Sowjetunion.
In den Jahren danach beschränkten die USA die Nachrichtenbeschaffung über mögliche Ziele aber nicht auf die Sowjetunion, sondern dehnten sie allmählich über die ganze Welt aus. Die so geschaffene Datenbank, die sogenannte "Bombing Encyclopedia", enthielt im Jahr 1960 nicht weniger als 80'000 Einträge (14). So bekam die ganze Welt das nukleare Messer Amerikas an den Hals gesetzt.
Im Sommer 1947 begannen weitere Planungen für einen Krieg gegen die Sowjetunion. Ein erster, mit dem Codenamen "BROILER" benannter Plan basierte auf der Annahme, dass in einem, im Folgejahr ausbrechenden Krieg von Beginn weg Kernwaffen eingesetzt werden würden. Für diesen Fall beabsichtigten die Amerikaner zum Schutz ihrer Ostküste Grönland und Island zu besetzen, und planten den Abwurf von 34 Kernwaffen auf 24 Ballungszentren in der Sowjetunion (15). Diese Bomberoffensive, so schätzte das Joint War Plans CommitteeJWPC, würde 1 Million Menschen in der Sowjetunion verletzen oder töten und die Regierung zwingen, um Frieden zu bitten.
Die Planungen der kommenden Jahre blieben der ursprünglichen Beurteilung von 1946 treu und rechneten mit zunehmend größeren Zahlen einzusetzender Kernwaffen. Die Operation "SIZZLE" forderte schon 133 Atombomben auf 70 sowjetische Städte und die Produktion von 200 weiteren Bomben, damit 40% der industriellen Kapazität der Sowjetunion vernichtet werden konnten. Dabei würden 7 Millionen Sowjetbürger sterben. Und "OFFTACKLE" schließlich rechnete 1949 mit 220 Atombomben und 244'000 t konventioneller Bomben auf 104 städtische Ziele in der Sowjetunion, damit es gelinge, 85% des sowjetischen industriellen Potenzials und das Gros der sowjetischen Kampfflugzeuge zu vernichten. Weitere 72 Kernwaffen sollten für Folgeangriffe reserviert bleiben – worauf auch immer (16).
Während all dieser Jahre hatten die USA zu keinem Zeitpunkt weder die notwendige Anzahl Bomben, noch die Bombenflugzeuge, um diese Kriegspläne in die Tat umzusetzen (17). Schon die 50 geforderten Atombomben für die Operation "PINCHER" waren nicht vorhanden, sodass dieser Kriegsplan nicht anderes war als toter Buchstabe. Man müsste meinen, dass der erste erfolgreiche Test einer sowjetischen Kernwaffe, der Ende August 1949 im Testgelände von Semipalatinsk stattfand, solchen Planspielen ein Ende bereitet hätte. Weit gefehlt: Noch im Jahr 1949 begannen die Arbeiten am Operationsplan "DROPSHOT", der bis in die frühen Sechzigerjahre gültig blieb. Danach wurde dieser Kriegsplan durch den sogenannten Single Integrated Operational Plan (SIOP) abgelöst, der von 1961 bis ins Jahr 2003 der allgemeine Plan der Vereinigten Staaten für einen Atomkrieg blieb (18).
Ungenügende Mittel auf beiden Seiten
Dass bereits eine Umsetzung der Operationsstudie "UNTHINKABLE" im Jahr 1945 einen weiteren weltweiten Krieg ausgelöst hätte, liegt auf der Hand, von den Plänen der Folgejahre ganz zu schweigen. Das Innere der Sowjetunion wäre für die Bomber der Westalliierten von Basen in England, Spanien, Nordafrika, dem Mittleren Osten oder Ostasien aus allerdings nicht erreichbar gewesen.  Dafür wären Reichweiten von mindestens 3´000 km mit voller Bombenladung bei Flug in großer Flughöhe erforderlich gewesen. Solche Leistungsdaten erbrachten damals weder die britische Avro Lancaster noch die US-amerikanische Boeing B-29 Superfortress.
Ähnlich wie das Innere der Sowjetunion für die Westalliierten, so waren die Weiten des Atlantischen Ozeans unerreichbar für die Sowjetunion. Am Ende des Großen Vaterländischen Kriegs war die sowjetische Marine eine "Green Water Navy", das bedeutet eine Küstenflotte, die nicht darauf ausgerichtet war, auf den Weltmeeren über längere Zeiträume zu operieren. Der Bau von hochseetauglichen Schlachtschiffen der Sowjetskyi Sojus-Klasse war bei Kriegsausbruch aufgegeben worden. Ausgerüstet mit einer großen Anzahl von U-Boot-Jagdschiffen und Torpedobooten, schützte die sowjetische Marine während des Großen Vaterländischen Kriegs vor allem alliierte Konvois in Nordmeer und Barentssee, konnte aber in der Ostsee wenig ausrichten. Die sowjetische Flotte war 1945 nicht in der Lage, die britische Royal Navy in der Nordsee herauszufordern, sodass diese volle Handlungsfreiheit vor der norwegischen und dänischen Küste gehabt hätte und jederzeit an jedem Ort der langen, von Fjorden geprägten Küste hätte zuschlagen können. Wie schon die Deutschen, wären auch die Sowjets gezwungen gewesen, eine unverhältnismäßig hohe Anzahl an Heeresverbänden zum Schutz dieser Küste einzusetzen. Und natürlich wäre die Sowjetflotte nicht in der Lage gewesen, die transatlantischen Verbindungen zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten zu unterbrechen, ganz zu schweigen von Angriffen auf Flottenstützpunkte der Westalliierten in Großbritannien, Nordirland, Spanien, Portugal oder Nordafrika. Der Aufbau einer "Blue Water Navy", einer Hochseeflotte, begann in der Sowjetunion erst nach der Machtübernahme von Nikita Chruschtschow durch den damaligen Oberkommandierenden der Flotte, Admiral Sergej Gorschkow (19).
Ebenso mangelte es der Sowjetunion an einer, für den strategischen Bombenkrieg fähigen Flotte schwerer Bomber und Langstrecken-Geleitjäger. Bis zum Ende des Großen Vaterländischen Kriegs hatte die Sowjetunion gerade einmal 93 Stück der Petlyakov Pe-8 (TB-7) produziert, die den einzigen schweren viermotorigen Bomber der sowjetischen Streitkräfte darstellte (20). Die modernen Jagdflugzeuge der Konstrukteure Lavochkin, Yakovlev und Sukhoi waren am Ende des Krieges wohl "state of the art", hatten aber bei weitem nicht die Reichweite, um die wenigen Petlyakov Bomber bei Angriffen tief in feindliches Hinterland zu schützen (21).
Als Konsequenz ihrer Ausrüstung hätte die Sowjetarmee in den Jahren nach 1945 wohl in der Tat Westeuropa inklusive Skandinavien überrennen können, wie die Westalliierten prognostizierten, hätte danach aber kaum die Möglichkeit gehabt, den Krieg in ihrem Sinne zu beenden. Unfähig, den Strom an Truppen und Gütern aller Art aus den USA und den europäischen Kolonien weltweit zu unterbinden, und die Flotten und Fliegerbasen zu zerschlagen, wäre den sowjetischen Streitkräften nichts anderes übriggeblieben, als Angriffe aus der Luft und von See über sich ergehen zu lassen, ohne Aussicht darauf, diese je verhindern zu können. Sich in einen Krieg zu stürzen, der nicht zu gewinnen und nicht zu beenden ist, wäre wirklich töricht gewesen.
Nachwirkungen
Mit ihrer Vorhersage, die Sowjetunion werde bis in die frühen Fünfzigerjahre gezwungen sein, sich defensiv zu verhalten, behielten die US-Stabschefs recht. Zu Lebzeiten Stalins ging die Sowjetunion trotz ernster Krisen militärisch nicht in die Offensive, unterstützte aber kommunistische Kräfte weltweit – auch militärisch. Gleichwohl war es die Pflicht der Stabschefs, Vorkehrungen zu treffen für den Fall, dass sich ihre Prognosen als falsch herausstellen sollten. Dass sie für diesen Fall nur gerade eine Handlungsoption zur Hand hatten, nämlich einen strategischen Luftkrieg mit Kernwaffen gegen Bevölkerungszentren der Sowjetunion, war dem weltweiten Engagement und dem Mangel an Mitteln zuzuschreiben. Nachdem die Sowjetunion ihre eigenen Kernwaffen entwickelt hatte, nahm diese Form der Verteidigung Millionen von Toten im eigenen Land in Kauf, d.h. von denjenigen Menschen, zu deren Schutz man zu handeln behauptete. Vor dem Licht der, noch heute weit verbreiteten Theorie der kriegsentscheidenden Wirkung des Luftkriegs ist dies leider nicht überraschend. Es sollte bis zur Kubakrise dauern, bis US-Präsident Kennedy die Kontrolle über das US-Atomwaffenarsenal in seine Hände nahm.
Auch nach der Aufrüstung der Sowjetmarine unter der Leitung von Admiral Gorschkow ab Ende der Fünfzigerjahre war die sowjetische Flotte nie in der Lage, die kombinierten Flotten der USA, Großbritanniens, Frankreichs und ihrer Verbündeten ernsthaft herauszufordern. Die Eroberung großer Teile der Nordhemisphäre lag nie auch nur annähernd im Bereich der Möglichkeiten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten des Warschauer Vertrags (bzw. des Warschauer Pakts). Hier wurde während des Kalten Kriegs von Seiten des Westens möglicherweise auf Vorrat gejammert.
Die Gründung der NATO im Jahr 1949 war der logische Akt aller denjenigen Staaten, die ein gemeinsames strategisches Problem hatten: Die überwältigende militärische Übermacht der Sowjetunion zu Lande. Es machte Sinn, dass sich diese zu einem Defensivbündnis zusammenschlossen, um ein Gegengewicht zu bilden und die Seeverbindungen nach Übersee offen zu halten. Dieses strategische Problem existiert mittlerweile nicht mehr, denn die Streitkräfte der europäischen NATO-Verbündeten sind denjenigen Russlands heute zahlenmäßig überlegen. Die heutige NATO kann nicht mehr die selbe sein, wie jene des beginnenden Kalten Kriegs.
Anmerkungen:

  1. Siehe Ross, Steven T., American War Plans 1945–1950, New York/London 1988, S. 4f und Schnabel, James F., The Joint Chiefs of Staff and National Policy, in: History of the Joint Chiefs of Staff; Volume I: 1945-1947, hrsg. durch das Office of Joint History, Office of the Chairman of the Joint Chiefs of Staff, Washington (D.C.) 1996, S. 7f., online verfügbar unter https://www.jcs.mil/Portals/36/Documents/History/Policy/Policy_V001.pdf

  2. Siehe https://military.wikia.org/wiki/Konstantin_Rokossovsky

  3. Die Rote Armee, oder wie sie vollständig bezeichnet wurde, die Rote Arbeiter- und Bauernarmee (RKKA) wurde 1946 offiziell in Sowjetarmee umbenannt.

  4. Das steht im Widerspruch zur gängigen Auffassung, die Sowjetunion habe keine Demobilisation betrieben. Siehe Volker Wirtgen: Die Streitkräfte der Sowjetunion, München 1999, online verfügbar unter https://www.grin.com/document/96506 und Schröder, Hans-Henning, Geschichte und Struktur der sowjetischen Streitkräfte, ein Überblick, in: Adomeit/Höhmann/Wagenlehner (Hrsg.), Die Sowjetunion als Militärmacht, Stuttgart 1987, S. 41 - 47 und S. 53. Vgl. auch Elena Zubkova, Die sowjetische Gesellschaft nach dem Krieg, Lage und Stimmung der Bevölkerung 1945/46, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 47 (1999), Heft 3, S. 363-383, besonders S. 367, online verfügbar unter https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1999_3_2_zubkova.pdf

  5. Dazu gehörte unter anderem die 6. Gardepanzerarmee, die in der Dnepr-Karpaten-Operation, der Jassy-Kischinew-Operation, in Ungarn sowie in der Wiener und der Prager Operation gekämpft hatte. Die 5. Armee hatte sich in den Kämpfen in Ostpreußen bewährt. Unter den Kommandeuren sind vor allem Marschall Alexander Michailowitsch Wassilewski und Marschall Rodion Jakowlewitsch Malinowski hervorzuheben.

  6. Siehe https://www.bpb.de/apuz/142831/kurze-geschichte-neugriechenlands?p=2 und Perović, Jeronim, Die Albanien-Frage als Auslöser des Bruchs zwischen Stalin und Tito: neue Erkenntnisse zum sowjetisch-jugoslawischen Konflikt von 1948, in: Neue Zürcher Zeitung, 145, 24. Juni 2008, S.9, online verfügbar unter https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/62795/1/Perovic_Albanienfrage.pdf

  7. Am 19. August 1943 unterzeichneten Churchill und Roosevelt im Rahmen der Quebec-Konferenz ein Abkommen über die Entwicklung einer Kernwaffe. Die Briten übergaben ihr Material an die Amerikaner und erhielten im Gegenzug die Kopien der amerikanischen Berichte an den Präsidenten über den Fortschritt des US-amerikanischen Kernwaffenprojekts. Als Folge davon wurde das britische "Tube Alloys" Projekt faktisch in das US-amerikanische "Manhattan"-Projekt eingegliedert. Siehe https://avalon.law.yale.edu/wwii/q002.asp. Siehe auch Villa, Brian L. (1981). "Chapter 11: Alliance Politics and Atomic Collaboration, 1941–1943", in: Sidney, Aster, The Second World War as a National Experience, the Canadian Committee for the History of the Second World War, Department of National Defence, S. 144f, online unter http://www.ibiblio.org/hyperwar/UN/Canada/Natl_Exp/NatlExp-11.html

  8. Zur Avro Lancaster siehe https://web.archive.org/web/20201028081754/https://www.baesystems.com/en/heritage/avro-683-lancaster. Gebaut wurden 32 oder 33 davon in der sogenannten Special-Serie, welche die Bomben des Typs "GrandSlam" und "Tallboy" von über 5´000 kg Gewicht tragen konnten. Zur Boeing B-29 Superfortress siehe http://www.pwencycl.kgbudge.com/B/-/B-29_Superfortress.htm und Gorman, Gerald S., "Endgame in the Pacific: Complexity, Strategy and the B-29", Ft. Leavenworth (KS), 1999, online unter https://apps.dtic.mil/dtic/tr/fulltext/u2/a370327.pdf. Spezifisch zum Projekt "Silverplate": https://www.atomicheritage.org/history/project-silverplate

  9. Siehe Murray, Iain (2005), Big & Bouncy: The Special Weapons of Barnes Wallis, online verfügbar unter http://www.sirbarneswallis.com/Bombs.htm

  10. Siehe http://nuclearweaponarchive.org/Nwfaq/Nfaq8.html, besonders Kapitel 8.1.5 "Availability of Additional Bombs". 

  11. Siehe Michio Kaku, Daniel Axelrod, To Win a Nuclear War: The Pentagon’s Secret War Plans, Boston 1987, S. 31f, online verfügbar unter https://books.google.ru/books?redir_esc=y&hl=ru&id=yOP2v_vy2GIC&pg=PA31#v=onepage&q&f=false

  12. "GRIDDLE" für die Verteidigung der Türkei, "COCKSPUR" für Italien, "DRUMBEAT" für die Iberische Halbinsel und "MOONRISE" für Ostasien. In der Studie "BROADVIEW" wurde gar eine sowjetische Invasion Alaskas in Betracht gezogen. 

  13. Siehe Michio Kaku, Daniel Axelrod, a.a.O, S. 34f und 43f.

  14. Siehe https://geographicalimaginations.com/2012/08/03/bombing-encyclopedia-of-the-world/; https://limn.it/articles/the-bombing-encyclopedia-of-the-world/

  15. Später entstand der Plan "BUSHWACKER" für einen, am 1. Januar 1952 beginnenden Krieg, und "CHARIOTEER" für einen solchen im Jahr 1955. Siehe Michio Kaku, Daniel Axelrod, a.a.O, S. 40-42. Vgl. auch Сергей Варшавчик, Почему не были реализованы планы по ядерной бомбардировке СССР, bei RIA Novosti, 03.12.2015, online verfügbar unterhttps://ria.ru/20151203/1335028353.html

  16. Siehe Michio Kaku, Daniel Axelrod, a.a.O, S. 49f. Danach entstanden im Mai 1948 die Operationspläne "HALFMOON", sowie 1949 "TROJAN". 

  17. Siehe Schnabel, a.a.o., S. 135; Michio Kaku, Daniel Axelrod, a.a.O, S. 43-45; Ekaterina Blinova, From 1945-49 the US and UK Planned to Bomb Russia into the Stone Age; was the US cold war military doctrine“defensive” and who actually started the nuclear arms race? In: Canadian Dimension October 9, 2016, online verfügbar unter https://canadiandimension.com/articles/view/from-1945-49-the-us-and-uk-planned-to-bomb-russia-into-the-stone-age, sowie Ekaterina Blinova, Post WW2 World Order: US Planned to Wipe USSR Out by Massive Nuclear Strike, online verfügbar unter https://sputniknews.com/politics/201508151025789574-us-planned-to-wipe-out-ussr/.

  18. Siehe Ekaterina Blinova, From 1945-49 the US and UK Planned to Bomb Russia into the Stone Age; was the US cold war military doctrine“defensive” and who actually started the nuclear arms race? a.a.O. und Post WW2 World Order: US Planned to Wipe USSR Out by Massive Nuclear Strike, a.a.O., sowie Scott Shane, 1950s U.S. Nuclear Target List Offers Chilling Insight, in: New York Times, 22.12.2015, online verfügbar unter https://www.nytimes.com/2015/12/23/us/politics/1950s-us-nuclear-target-list-offers-chilling-insight.html

  19. Zur sowjetischen Flotte der Kriegsjahre und unmittelbar danach siehe https://www.oemz-online.at/pages/viewpage.action?pageId=12288238

  20. Zur Petlyakov Pe-8 (TB-7) siehe https://airpages.ru/eng/ru/pe8.shtml und http://airwar.ru/enc/bww2/pe8.html. Als einziger viermotoriger schwerer Bomber der Sowjetunion wurde sie in einer Stückzahl von 93 gebaut.

  21. Zu den gängigen sowjetischen Jagdflugzeugen dieser Zeit: Lavochkin http://www.aviastar.org/air/russia/a_lavochkin.php, Yakovlev http://www.aviastar.org/air/russia/a_yakovlev.php und Sukhoi http://www.aviastar.org/air/russia/a_sukhoi.php.

 

Bilder: Depositphotos
Die Meinung des Autors/Ansprechpartners kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 und 3 (1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“