Die Scheinheiligen

Von Wolfgang Bittner

Am 6. Dezember 2019 besuchte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz in Polen. Sie sei erschüttert und empfinde „tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden“, sagte sie in einer Rede in der Gedenkstätte im Beisein des polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki, der Angela Merkel den Ort und das Geschehen erklärte, während die Kameras klickten. Es seien „Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten“.(1)

 „Stunden der Demut“, heißt es dazu in den deutschen Medien, vom „Grauen der deutschen Geschichte“, von „deutschem Terror“ und „tiefer Scham“ ist die Rede.(2) 60 Millionen Euro verspricht die Bundeskanzlerin für die Erhaltung der KZ-Gedenkstätte. Sie beteuert: „Einen Schlussstrich kann es nicht geben“, sich als Deutsche der Verantwortung für diese Taten bewusst zu sein, sei „fester Teil unserer nationalen Identität“, das sei „nicht verhandelbar“. Weiter heißt es, künftige Generationen seien aufgefordert, „mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es in Blut ertränkte.“

In gleicher Weise hatte sich wenige Wochen zuvor schon der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geäußert. Anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs am 1. September 2019 in der polnischen Kleinstadt Wielun sprach er von dem „Menschheitsverbrechen“, das Deutsche in Polen verübt haben. Unter anderem sagte er: „Ich verneige mich vor den polnischen Opfern der deutschen Gewaltherrschaft. Und ich bitte um Vergebung.“(3)

In Wielun und auf der Gedenkfeier in Warschau zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, zu der keine russischen Repräsentanten eingeladen wurden, sagte Steinmeier weltweit beachtet: „Wir sprechen vom unermesslichen Leid, das Deutschland über Europa gebracht hat… Nein die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Je länger dieser Krieg zurückliegt, desto wichtiger wird das Erinnern.“ Der Bundespräsident betonte: „… unsere Verantwortung vergeht nicht… Wir wollen und wir werden uns erinnern. Und wir nehmen die Verantwortung an, die unsere Geschichte uns aufgibt… Als deutscher Gast trete ich barfuß vor Sie auf diesen Platz.“(4)

Was in Polen besonders aufmerksam wahrgenommen wurde, nachdem die Regierung Kaczynski vor zwei Jahren eine Billion Dollar Reparationen ins Gespräch gebracht hat,(5) war die Versicherung, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen sei, die Erinnerung nicht vergehe und die Verantwortung für die von Deutschen während des Zweiten Weltkriegs verübten Gräuel nach wie vor bestehe.

Aber 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellt sich die Frage, ob die Last der so von Merkel und Steinmeier in Erinnerung gerufenen „deutschen Schuld“ den Enkeln und Urenkeln überantwortet werden kann, insbesondere in finanzieller Hinsicht. Zumal die bislang festgeschriebene Alleinschuld Deutschlands am ersten und zweiten großen Krieg nach der jüngsten Geschichtsforschung, die immer mehr Einblick in die Archive erhält, einer genaueren Betrachtung bedarf.(6) Danach ist auch die Schuld Polens in dieser Frage noch lange nicht aufgearbeitet. Vergessen ist zudem, dass Jozef Pilsudski (von 1926-1935 Marschall der Zweiten Polnischen Republik) mehrere Kriege gegen Nachbarn Polens geführt hat, 1933 in Frankreich für einen Angriffskrieg gegen Deutschland warb und dass 1945 ein Drittel des Deutschen Reiches an Polen abgetreten werden musste.

In der Tat ist in Polen und in den Konzentrationslagern in deutschem Namen Ungeheuerliches geschehen, und wer sich damit befasst kann sich des Entsetzens nicht erwehren. Unbekannt ist jedoch, ob ein deutsches Staatsoberhaupt jemals an Orten wir Lamsdorf, Schwintochlowitz, Potulice oder Zgoda der Zehntausenden deutscher Opfer gedacht hat, die 1945 in diese polnischen Internierungs- und Arbeitslager verschleppt und zu Tausenden ermordet wurden.(7) 1979 gab es zu Lamsdorf eine Reportage des SPIEGEL.(8) Danach gerieten diese Verbrechen allmählich in Vergessenheit, ebenso wie die inhumane Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Osten des Deutschen Reichs.

Krieg ist immer etwas Furchtbares, das Menschen zu Opfern und zu Tätern werden lässt, und jedes Volk muss mit seiner Schuld umgehen. Das kann selbstverständlich nicht eine Relativierung der der ungeheuren Verbrechen der Nazis bedeuten, diese „deutsche Schuld“ lässt sich nicht leugnen oder relativieren. Aber die perpetuierten Selbstbezichtigungen, die es bei keinem anderen Volk gibt, erreichen nach mehr als sieben Jahrzehnten ganz offensichtlich das Gegenteil dessen, was sie zu bezwecken vorgeben.

Der Opportunismus, die Unterwürfigkeit und Scheinheiligkeit, die deutsche Politik im Grunde schon seit 1945 kennzeichnen, zeigten sich überdeutlich, als Frank-Walter Steinmeier in seiner Warschauer Rede auf das Verhältnis zu den USA – wie er es sieht – einging. Unter anderem sagte er: „Unsere Verantwortung, sie gilt auch der transatlantischen Partnerschaft. Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat – gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten – den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet.“(9)

Seine Demutshaltung bezeugte der deutsche Bundespräsident dann dem anwesenden Repräsentanten der USA, Mike Pence(10), der Präsident Donald Trump vertrat, mit den Worten: „Herr Vizepräsident, das ist die Größe Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind. Dieses Amerika hat der Welt die Augen geöffnet für die unbändige Kraft der Freiheit und der Demokratie – gerade auch uns Deutschen. Diesem Amerika war das vereinte Europa immer ein Anliegen. Dieses Amerika wollte echte Partnerschaft und Freundschaft in gegenseitigem Respekt.“ Und Steinmeier fuhr fort: „Schaut auf die Staatsgäste aus vierzig Ländern! Sie alle, deren Vorfahren in jenem Krieg gekämpft und gelitten haben, sie zeigen heute miteinander, dass der Wille zu einer gemeinsamen Zukunft stärker ist als die trennende Kluft der Vergangenheit… Das vereinte Europa setzt auf die Kraft von Humanismus und Aufklärung, auf Freiheit und Recht…“

Dass ein deutscher Präsident derart heuchlerisch Propaganda für die USA und zugleich gegen Russland betreibt, ist eine diplomatische Fehlleistung sondergleichen. Denn Russland, das die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs getragen hat, wurde wieder einmal beleidigt und gedemütigt. Kein Wort über die russischen Opfer, kein Staatsgast aus Moskau. Stattdessen eine Eloge auf die USA, die Deutschland 1945 zwar von der Nazi-Herrschaft befreit, zugleich aber, die Spaltung des Deutsches Reiches betrieben haben, die Bundesrepublik zum Frontstaat machten und weiterhin deren Souveränität durch Truppenstationierungen, Nötigung und Erpressung beschneiden. Abgesehen von den illegalen Wirtschaftssanktionen und den völkerrechtswidrigen Kriegen, mit denen die Vereinigten Staaten die ganze Welt überziehen.

Das Gedächtnis ist kurz. Einerseits schon wieder die Betonung deutscher Größe, wenn Steinmeier betont: „Weil Deutschland – trotz seiner Geschichte – zu neuer Stärke in Europa wachsen durfte, deshalb müssen wir Deutsche mehr tun für Europa“ – diese Großmannssucht, die schon einmal zum Ruin geführt hat und deutsche Soldaten 150 Kilometer vor St. Petersburg aufmarschieren lässt. Andererseits die scheinheilige, verlogene Vasallenpolitik, mit der die Spaltung Europas immer weiter vorangetrieben wird. Es ist aber nicht mehr nur in Westeuropa und Russland geteilt, sondern auch Westeuropa in Gestalt der EU ist inzwischen zweigeteilt: Auf der einen Seite befinden sich die von den USA aufgerüsteten militanten baltischen Staaten, Polen, Bulgarien und Rumänien, auf der anderen Seite stehen die übrigen EU-Staaten, die sich – mehr oder weniger – um ein vernünftigeres Verhältnis bemühen. Solange führende Politiker wie Frank-Walter Steinmeier, Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Annegret Kramp-Karrenbauer oder Heiko Maas ihre Geschichtslektion nicht gelernt haben, um danach zu handeln, ist Deutschland, und damit auch Europa, verraten und verkauft.

 Von Wolfgang Bittner erschien 2017 „Die Eroberung Europas durch die USA – Eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“, im März 2019 der Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ und im September 2019 „Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“.

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Quellenangaben

(1) Die Bundeskanzlerin, 6.12.2019, www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-zehnjaehrigen-bestehen-der-stiftung-auschwitz-birkenau-am-6-dezember-2019-in-auschwitz-1704518 (7.12.2019)

(2) Siehe z.B.: FAZ Online, 6.12.2019, www.faz.net/aktuell/politik/inland/angela-merkel-in-auschwitz-eigentlich-muesste-man-verstummen-16522499.html (7.12.2019), sowie: Welt Online, 6.12.2019, www.welt.de/politik/deutschland/plus204112020/Merkel-in-Auschwitz-Einmal-bricht-der-Kanzlerin-fast-die-Stimme.html (7.12.2019)

(3) Vgl. Die Zeit, 1.9.2019, www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/wielun-frank-walter-steinmeier-deutschland-polen-jahrestag-zweiter-weltkrieg (8.12.2019)

(4) Der Bundespräsident, 1.9.2019, www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/09/190901-Polen-Gedenken-Warschau.html (8.12.2019)

(5) FAZ Online, 5.9.2017, www.faz.net/aktuell/politik/ausland/polen-fordert-eine-billion-dollar-reparationen-von-deutschland-15183441.html (8.12.2019)

(6) Dazu: Wolfgang Bittner, Der neue West-Ost-Konflikt – Inszenierung einer Krise“, zeitgeist Verlag, 2019, S. 113-135.

(7) DasErste.de, Deutsche & Polen, www.deutscheundpolen.de/ereignisse/ereignis_jsp/key=lager_fuer_deutsche_1945.html(8.12.2019)

(8) Der Spiegel Nr. 25/1979 v. 18.6.1979, „Dann schossen die Polen auf unsere Köpfe“, 

www.spiegel.de/spiegel/print/d-40349655.html (8.12.2019

(9) Der Bundespräsident, a.a.O.

(10) Mike Pence, US-Vizepräsident, ehemaliger Gouverneur von Indiana: Abtreibungsgegner, Anhänger des Prosperity Gospel (Reichtum oder Armut sind gottgegeben) sowie des Kreatinismus (strikte Bibelgläubigkeit) und Gegner der Evolutionstheorie. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Mike_Pence (3.2.2019)

 

Erstveröffentlichung bei KenFM am 10.12.2019: https://kenfm.de/die-scheinheiligen/