World Economy im Gespräch mit Willy Wimmer, Staatssekretär a.D. Teil I.
Russland fühlt sich tief beleidigt wegen der EU-Resolution vom September 2019, in der der Sowjetunion eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben wird. Warschau sagt, dass der Molotow-Ribbentropp-Pakt die Tür zum Krieg öffnete.
Gerade Polen aber, spielte vorher eine absurde Rolle, als sie den Sowjets den Weg nach Prag verwehrte. Die Tschechoslowakei wurde zum Opfer und Polen kann seine Mitschuld daran kaum abstreiten. Polen hat gelitten, aber darf Warschau die eigene Mitschuld abstreiten?
Willy Wimmer:
Das ist eine weit über 1939 oder 1945, oder 1919 herausragende und hinausreichende Fragestellung. Denn wir sind inzwischen eng mit Polen zusammen - sowohl in der NATO als auch in der Europäischen Union. Das ist unser befreundeter, osteuropäischer Nachbar. Das muss man in der gesamten Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts so sehen.
Deswegen kommt es auch darauf an, so gut miteinander umzugehen, dass die zukünftige Entwicklung in Europa friedensbestimmend ist. Das ist die Konsequenz, die man aus dem vergangenen Jahrhundert ziehen muss.
Ich habe in meinen sehr langen, mehr als 10 Stunden dauernden Gesprächen mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt in Hamburg, immer wieder seine Klage gehört, dass die heutigen Staats- und Regierungschefs zu wenig die Konsequenzen aus den kriegerischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts ziehen. Und diese Entwicklungen auch offensichtlich nicht begreifen. Deswegen müssen wir es jetzt tun. Da gibt es zwei Dinge, die, aus meiner Sicht, absolut im Vordergrund stehen. Auf der einen Seite, die zielführende, ungewöhnlich offene Ansprache der Zwischenkriegszeit durch den russischen Präsidenten Putin bei seiner berühmten Rede in Sankt-Petersburg am 20. Dezember des vergangenen Jahres. Er hat auf der einen Seite darauf aufmerksam gemacht, dass es, natürlich, Anlässe gegeben hat, die zum Krieg geführt haben. Und auch, dass wir zu diesen kriegerischen Entwicklungen auch Vorgeschichten haben, die Sie und ich in unserem Buch „Und immer wieder Versailles“ schon so angesprochen haben, wie es der russische Präsident - offensichtlich als zukunftsorientiert - auch gemacht hat.
Das ist das eine. Und das zweite ist, wir haben mit der Entwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges gesehen, dass es offensichtlich eine Konstante für die Kriegsentwicklung des gesamten vergangenen Jahrhunderts gibt. Und diese Konstante besteht darin, dass es den angelsächsischen Mächten nur möglich ist mit anderen Staaten zusammen zu arbeiten, wenn sie diese zuvor unterworfen haben und an einer eigenständigen Entwicklung hindern. Und das ist unser heutiges Problem in Zusammenhang mit der Russischen Föderation - Russland will mit uns zusammenarbeiten, darf es aber nicht, weil es auf diesen grundsätzlichen angelsächsischen Widerstand in der Kooperation stößt. Die Angelsachsen können sich eine Zusammenarbeit mit Russland nur vorstellen, wenn sie die Entwicklungen in Moskau bestimmen. In diesem Zusammenhang kommt natürlich auch Polen ins Spiel. Das ist durch die Äußerungen des russischen Präsidenten Putin deutlich geworden.
Was war die Zusammenarbeit mit Polen nach Ende des Kalten Krieges? Wir wollten bei der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft mit Polen und den anderen Ländern auf dem Post-Sowjetischen Raum eng zusammenarbeiten.
Das war aber nicht im angelsächsischen Interesse. Deswegen wurde, deckungsgleich mit dem Ausscheiden von Hans-Dietrich Genscher als Bundesaußenminister 1992 in Bonn, die Politik gegenüber Polen geändert. Es sollte nicht mehr die europäische Wirtschaftsgemeinschaft sein, sondern, im amerikanischen Interesse, die NATO. Und zwar vor dem Hintergrund folgender Überlegung: Polen sollte darüber entscheiden, ob es der NATO beitreten kann. Wie die baltischen und auch andere Staaten.
Das hat völlig ausgeblendet, dass wir, als Bundesrepublik Deutschland, darüber hätten entscheiden müssen, ob diese Staaten, mit ihrer antirussischen Einstellung - die uns ja den nächsten Krieg bescheren kann - überhaupt Mitglied der NATO hätten werden können.
Diese Fragestellung ist in Deutschland, in Westeuropa völlig unterdrückt worden, weil man sie nicht haben wollte.
In dem Zusammenhang ist auch die Frage relevant, wie es denn zum Zweiten Weltkrieg gekommen ist und was bedeutet die große Militärparade am 24. Juni diesen Jahres in Moskau? Was die Entwicklung der Geschichte anbetrifft, würden wir gut daran tun, alles, aber auch alles, zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs auf den Tisch der politischen Überlegungen zu legen. Und die Geschichte nicht so selektiv zu behandeln, wie das eine Resolution des Europäischen Parlamentes in Strasbourg im September 2019 gemacht hat.
Wir haben in den letzten 30 Jahren schon das Verhängnis gesehen, dass Menschenrechte als politische und militärische Waffe benutzt worden sind. Und diese Resolution, die auf polnischen und baltischen Druck hin zustande gekommen ist, betrachtet jetzt die Geschichte als Waffe. Wenn wir diesen Weg gehen, dann schließen wir nahtlos an die Entwicklung der Zwischenkriegszeit an und verhindern jede Chance zur friedlichen Entwicklung in Europa. Was auf diesem Weg möglich war, hat nach der staatlichen Unabhängigkeit Polens im Jahre 1916 durch Deutschland und Österreich, die Entwicklung dieses Staates deutlich gemacht. Über Jahrzehnte hinweg, befürchtete man jedes Jahr den Einmarsch der polnischen Armee nach Berlin. Das waren die Machtverhältnisse, mit denen man rechnen musste und die gegeben waren. Die werden bei uns derzeit ausgeblendet, wie es nur geht. Und man macht das möglicherweise deshalb, um im Zusammenhang mit dem 01. September 1939, mit dem deutschen Angriff auf Polen, auszublenden, dass durch die angelsächsischen Mächte die Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg - nämlich Krieg unmöglich zu machen und ihn zu ächten, die Charta der Vereinten Nationen einzurichten, mit der Zuständigkeit des Sicherheitsrates für den Weltfrieden - untergebuttert worden ist. Wir befinden uns heute wieder in einer Situation, die den Rechtsstatus für einen Krieg ausdrücklich an einen Rechtsstatus knüpft, wie er am 01. September 1939 herrschte.
Wir machen heute mit der NATO-Politik nichts anderes, als das, was damals Gegenstand des Ausbruches eines Krieges zwischen Deutschland und Polen gewesen ist, der wenige Tage später durch England und Frankreich auf die Ebene eines Weltkrieges geschoben worden ist. Eins wird in diesem Zusammenhang messerscharf klar.
Die angelsächsische Politik bis heute, ist darauf ausgerichtet, eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland unmöglich zu machen und sicherzustellen, dass Russland das gleiche Schicksal widerfährt, das Deutschland durch den Ersten Weltkrieg und durch Versailles widerfahren musste.
Der französische Präsident Macron hat in diesen Tagen gesagt: ohne Versailles - kein Nationalsozialismus. Und ohne Versailles auf französischen Druck - keine Entwicklung hin zum Zweiten Weltkrieg. Wenn wir dann in diesem Kontext die Rolle des einen oder anderen Staates betrachten, kommen wir zu Ergebnissen, die spiegelbildlich die Entwicklungen dieser Zeit auf die heutige Zeit übertragen. Es sei denn, Präsident Trump hat Glück mit seiner Einladung zum Gipfeltreffen in Washington im September und es wird ein neues Signal der europäischen Kooperation von dort aus gesendet. Im Vorfeld einer amerikanischen Präsidentschaftswahl, bei der man nur hoffen kann, dass die Kriegstreiber die Wahl am 03. November nicht gewinnen werden.
Das ist die Situation einer Einordnung der polnischen Politik in der Zwischenkriegszeit in die heutige Situation und zwar so, dass wir Konsequenzen daraus ziehen.
Das hat möglicherweise etwas mit der deutschen Haltung zu tun, sich der eigenen Geschichte nicht zu stellen. Wir haben ja an der Politik der Bundesregierung im vergangenen Jahr gesehen, dass man die Konferenz von Versailles als den Dreh- und Angelpunkt für die negative Entwicklung im vergangenen Jahrhundert unter den Tisch hat fallen lassen. Am 18. Juni des vergangenen Jahres hätte man der tragischen Entwicklung in Europa umfassend gedenken können. Das hat die deutsche Regierung bewusst unterlassen, weil die europäische Ordnung offensichtlich immer noch auf dem beruht, was in Versailles gegenüber Deutschland, Österreich, Ungarn und der Türkischen Republik organisiert worden ist. In dieser Situation sind die erfolgreich gewesen, die die Geschichte und die Geschichte Europas als Waffe gegen Russland nutzen wollen - das sind polnische und baltische Kräfte. Das ist die Situation, die wir im vergangenen Jahr gehabt haben und das macht allerdings deutlich, dass dem kein Erfolg beschieden sein wird.
Bilder @depositphotos @Gerd_Alschwede
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