Von Hans-Georg Münster
Wenn eine militärische Auseinandersetzung verloren zu gehen droht, sollen „Wunderwaffen“ als letztes Mittel noch die Wende bringen. Erst waren es deutsche Panzer und Raketenwerfer, mit denen die ukrainischen Truppen die russische Armee zurückwerfen sollten. Das misslang. Jetzt sollen F-16-Kampfflugzeuge von Lockheed Martin die Wende bringen. Ob dies gelingt, ist fraglich. Es droht aber etwas ganz anderes: eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Denn kleine Ursachen könnten eine große Wirkung haben wie 1914, als Europa nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo in einen Weltkrieg hineinrutschte.
Der australische Historiker Christopher Clark pflegt die damaligen Politiker als „Schlafwandler“ zu bezeichnen. Die heutige Generation europäischer Politiker fällt ebenso durch politische Ignoranz und zudem völlige Unkenntnis von militärischenSachverhalten auf. Je nach Tagesform werden verbal Panzer, Marschflugkörper, Raketensysteme und Flugzeuge an die Front geworfen. Der Begriff Verhandlungen kommt in der Sprache von deutschen und anderen Politikern, die sonst gerne von „Dialog“ schwätzen, gar nicht vor. Das geht selbst dem Leiter der amerikahörigen Münchener Sicherheitskonferenz, dem früheren deutschen Diplomaten Christoph Heusgen, zu weit: "Es darf nicht so ausgehen wie im Ersten Weltkrieg mit Hunderttausenden von Toten. Es ist deshalb richtig, dass man überlegt, wie man zu einer Verhandlungslösung kommt."
Über Verhandlungslösungen denken vielleicht oppositionelle Kräfte wie die deutsche AfD (die auch deshalb so unter Druck gesetzt werden) nach, die Regierungen in Europa nicht. Im Gegenteil. Nachdem die deutsche Regierung gerade feststellen musste, dass sie nach dem (vielleicht nur vorübergehenden) Ausfall der US-Hilfsleistungen noch mehr Milliarden für die Ukraine wird aufbringen müssen und kleinlauter geworden ist, macht nunmehr die „Kampfjet-Koalition“ umso lauter von sich reden. Dazu gehören europäische Länder wie Großbritannien, Norwegen, Dänemark, Belgien und die Niederlande, die mit einer Lieferung von Mehrzweckkampfflugzeugen des Typs F-16 (produziert vom US-Konzern Lockheed Martin) der Ukraine zum Sieg verhelfen wollen.
In Kiew ist die Freude groß: Mit den Kampfflugzeugzeugen will man die Lufthoheit wieder zurückgewinnen. Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste soll die Ukraine nur noch über 40 Kampfflugzeuge der sowjetischen Typen MiG und SU verfügen. „Um einen Ausweg aus dem Stellungskrieg zu finden, ist es notwendig, Luftüberlegenheit zu erlangen“, schrieb der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyi in einem Aufsatz. Die niederländische Verteidigungsministerin Kajsa Ollongren schrieb auf X (früher Twitter): „Die Lufthoheit der Ukraine ist für die Abwehr der russischen Aggression von entscheidender Bedeutung.“ Insgesamt 43 Kampfflugzeuge sind der Ukraine von Dänemark (19) und den Niederlanden (24) zugesagt worden. Diese Länder nutzen inzwischen modernere Flugzeuge für ihre Luftwaffen.
Ob die Erringung der Lufthoheit mit den F-16 Maschinen gelingen kann, ist fraglich. Rüstungsexperten schreiben in Blogs, dass die F-16 Maschinen auf hochwertige Start- und Landebahnen angewiesen sind. So wurde im deutschen Internet-Portal „Telepolis“ Justin Bronk, ein Luftkriegsanalytiker des britischen Royal United Service Institute (RUSI) mit dem Hinweis zitiert, dass die F-16 einen großen Lufteinlass unter der Nase habe, der „alles vom Boden direkt ansaugt. F-16 benötigen in der Regel also sehr saubere, sehr gut gewartete Flugplätze.“ Die gibt es im NATO-Gebiet wie in Rumänien oder in Polen, aber nicht in der Ukraine. Ein Ausbau ukrainischer Flugplätze, um diese für die F-16 benutzbar zu machen, würde der russischen Abwehr nicht verborgen bleiben und zu Angriffen auf diese Flugplätze führen.
Es gibt daher in der Kampfjet-Koalition und in der Ukraine Überlegungen, die F-16-Maschinen von Polen oder Rumänien aus starten zu lassen. Auf dem Stützpunkt Baza Aeriana 86 Borcea im Südosten Rumäniens werden derzeit schon ukrainische Piloten an F-16-Maschinen ausgebildet. Allein schon die technischen Gegebenheiten zeigen, wie unsinnig solche Szenarien sind. Die Flugzeuge müssten nach dem Start zunächst möglichst im Tiefflug unterhalb des Radars über der Ukraine fliegen, was enorm Zeit und Treibstoff kostet und die Traglast von Waffen reduziert. Für eine ausreichende Reichweite und Teilnahme an Luftkämpfen wäre in vielen Fällen eine Zwischenlandung zum Auftanken auf einem ukrainischen Flughafen notwendig, der von der russischen Luftwaffe leicht attackiert werden könnte. Die Wartung der F-16 müsste auf jeden Fall auf NATO-Luftstützpunkten in Polen oder Rumänien stattfinden. Denn die Ukraine verfügt weder über die Wartungseinrichtungen noch über entsprechend geschultes Personal. Pro Flugstunde mit der F-16 werden acht Stunden Wartungsarbeiten angesetzt, was die Dimension aufzeigt.
Ob viele F-16-Maschinen zur Wartung zu den NATO-Stützpunkten zurückkommen würden, ist eine ganz andere Frage. Denn die Schnellausbildung an solch einer Maschine mit komplizierter Technik dürfte kaum für einen Einsatz mit Luftkampf ausreichen. Erfahrene US-Piloten hatten auf der F-16 11.000 Flugstunden und mehr. Der deutsche Militärexperte Ralph Thiele, ehemaliger Chef des Stabes am NATO Defense College, sagt, das Geheimnis der Kampffliegerei sei die Erfahrung. „Die paar Flugstunden machen sie zu Amateuren“, beurteilt Thiele die ukrainischen Piloten.
Ein anderer, militärisch und global ungleich bedeutenderer Aspekt kommt hinzu. Wenn ein F-16-Kampfflugzeug vom rumänischen Stützpunkt Borcea starten würde, weiß die russische Luftwaffe nicht, ob es sich um ein rumänisches (NATO-)Flugzeug oder um eine ukrainische Maschine handelt. Die rumänische Luftwaffe verfügt ebenso wie die polnische noch über F-16 Kampfflugzeuge. Würde dort ein NATO-Flugzeug abgeschossen, wäre dies ein direkter Angriff Russlands auf NATO-Territorium und könnte möglicherweise zu einem Gegenschlag der westlichen Allianz führen.
Vielleicht ist dies der Grund, warum US-Präsident Joe Biden den Wunsch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach amerikanischen F-16 Maschinen, die ausgemustert auf einem Flugfeld in einer amerikanischen Wüste stehen, mit einem glatten „Nein“ zurückwies. Doch auch das Zögern des US-Präsidenten und die Blockade von Ukraine-Hilfen im US-Kongress ändern nichts daran, dass sich die amerikanische Politik frühestens nach einem Sieg der Republikaner bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst grundlegend ändern und den Weg für Gespräche auch über die Neuziehung von Grenzen, wie sie der legendäre frühere US-Außenminister Henry Kissinger vorgeschlagen hatte, ebnen könnte. Kissinger hatte schon 2022 gewarnt, Europa solle seine Stabilität „nicht wegen ein paar Quadratkilometern im Donbass“ aufs Spiel setzen.
Doch bis dahin sprechen nur die Waffen. „Der Unwille, miteinander zu sprechen, bringt Europa näher an einen großen, europäischen Krieg, der das Risiko birgt, sich zu einem Weltkrieg auszuweiten, denn ein heißer Krieg der USA gegen Russland kann weltweit Folgekriege nach sich ziehen“, wird auf dem Portal „Telepolis“ kommentiert. Das zeigt die Dimension, worum es geht. Rüstet der Westen die Ukraine weiter auf, verstrickt er sich immer tiefer in das Kriegsgeschehen. Schließlich könnte der kleine Ort Borcea für den Beginn eines Weltkrieges stehen – wie einst Sarajewo.
Bilder: depositphotos
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