Von Hans-Georg Münster
Es ist still geworden um die Bellizisten in Deutschland. Nachdem Kanzler Olaf Scholz (SPD) die „Zeitenwende“ ausgerufen und Verteidigungsminister Boris Pistorius das Ziel ausgegeben hatte, die Bundeswehr kriegstauglich zu machen, hatten sich Politiker wie Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Roderich Kiesewetter (CDU) in allen Medienkanälen mit Forderungen übertroffen, der Ukraine möglichst noch mehr und noch weitreichendere Waffen zu liefern, etwa den deutschen Marschflugkörper „Taurus“, der Moskau erreichen könnte. Doch Taurus bleibt bisher im Bunker, und trotz ukrainischer Jubelmeldungen über den angeblichen Vormarsch nach Kursk (Russland) wurden die Kriegstrommeln in Berlin leiser und verstummten zuletzt.
Das hat außen- wie innenpolitische Gründe. Wer historische Parallelen zum ukrainischen Vormarsch auf Kursk sucht, ist schnell bei der „Ardennenoffensive“ der deutschen Wehrmacht Ende 1944. Der anfängliche Erfolg der deutschen Truppen an der Westfront gegen die personell und materiell erheblich besser ausgestatteten Alliierten wurde von der NS-Propaganda massiv ausgeschlachtet und nährte in Deutschland Hoffnungen auf einen Waffenstillstand anstelle der von den Alliierten geforderten „bedingungslosen Kapitulation“ (zu der es dann im Mai 1945 auch kam). Der deutsche Vorstoß blieb Anfang 1945 im schwierigen Gelände der Ardennen stecken.
Der ukrainische Präsident Selenskyi legte in der Folge des Einmarsches in russisches Gebiet einen „Siegesplan“ auf den Tisch, mit dem Russland durch militärische Aktionen gezwungen werden soll, „den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden“. Im Gegensatz zur Propaganda aus Kiew kam es kaum noch zu positiven Meldungen für die ukrainischen Truppen aus den Kampfgebieten; in der westlichenPresse wurde allerdings noch über gezielte Schläge gegen russische Depots und Flugplätze im Landesinnern berichtet. Die von Selenskyi vom Westen geforderte zusätzliche Unterstützung gab es bisher nicht. Ein Vorstoß Großbritanniens, der Ukraine den Einsatz weitreichender westlicher Waffen auf russisches Gebiet zu erlauben, verlief im Sande – auch weil die Regierung in Berlin nicht mitziehen wollte. Damit wurde zumindest eine weitere Eskalation des Konflikts und eine mögliche Ausweitung auf ganz Europa zunächst einmal vermieden.
In der deutschen Politik und Öffentlichkeit spielte die Außenpolitik seit August nur noch eine nachgeordnete Rolle. In der Stadt Solingen hatte ein junger Araber mehrere Deutsche ermordet, was große Empörung in der Bevölkerung auslöste und die migrantenfreundlichen Koalitionsparteien SPD, Grüne und FDP sowie die CDU/CSU unter enormen Druck setzte. Seitdem ist von stärkeren Grenzkontrollen und von Ausweisungen unberechtigt im Land lebender Asylbewerber die Rede. Zugleich bekommt Deutschland die Folgen des Verzichts auf die Lieferung preiswerter Energie aus Russland und den Verlust des russischen Marktes für seine Produkte immer stärker zu spüren. Die Meldungen über Produktionsrückgänge und Betriebsschließungen häufen sich. „Die Deindustrialisierung ist in vollem Gange und wir befinden uns in einer Strukturkrise“, beklagt etwa der Verband der bayerischen Metallarbeitgeber. Deutschland, einst Industrielokomotive in der entwickelten Welt, ist lahm geworden. Statt Spitzenreiter zu sein trägt das Land mit seiner früher blühenden Automobil-, Chemie- und Maschinenbauindustrie in allen Wirtschaftstabellen die rote Laterne. Durch die Embargo-Politik gegen Russland haben die Berliner Politiker den Ast abgesägt, auf dem die deutsche Wirtschaft saß.
In der Öffentlichkeit blieb daher eine Bemerkung von Bundeskanzler Scholz im Bundestag am 11. September 2024 zur Ukraine fast unbemerkt: Neben den Hilfen und Krediten werde man alles tun, dass ein Frieden ausgelotet werden könne. Dazu gehöre auch, auszuloten, wie man Russland an den Tisch bekommen könne, hatte der Kanzler gesagt. Das hörte sich schon etwas anders an als frühere fast bedingungslose Hilfszusagen und eine großzügige Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge aus der Ukraine, von denen bisher 1,6 Millionen aufgenommen wurden und mit großzügigen Sozialleistungen bedacht werden. Das hat zu erheblicher Unruhe in der einheimischen Bevölkerung geführt, die unter Wohnungsmangel leidet und viele Einschränkungen hinnehmen muss.
Die Wähler reagierten so, wie das viele Beobachter erwartet hatten. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September feierten die eine weitere Unterstützung der Ukraine ablehnenden Parteien AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Triumphe. Die Restparteien aus dem Bundestag, sofern sie nicht wie FDP und auch Grüne gleich ganz aus den Landtagen flogen, müssen jetzt auf das zuvor als „Putin-Freunde“ beschimpfte BSW als Koalitionspartner zurückgreifen. Mit der AfD will keine der alten Parteien koalieren. Im Bundestag wird sogar ein Antrag auf ein Verbot der stark gewordenen rechten Oppositionspartei vorbereitet. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), die das zweithöchste Amt im Staat bekleidet, gibt offen zu, dass man daran denkt, die Opposition auszuschalten: Ein Verbot verhindere, dass staatliche Gelder in diese Organisation fließen, „damit kann man Strukturen zerschlagen“. Das „Zerschlagen“ oppositioneller Strukturen ist ein Kennzeichen von autokratischen Regierungen und wurde bisher von Berliner Politikern vor allem der russischen Regierung vorgeworfen. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld hält die Bundesrepublik inzwischen für eine „totalitäre Demokratie“.
Aber um in drei ostdeutschen Landtagen Mehrheiten zusammenzubekommen, sind dortige CDU-Politiker bereit, den Kriegskurs ihres Vorsitzenden Friedrich Merz und des CDU-Bundesvorstandes zu verlassen und nähern sich dem BSW an. Auch der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), der für seine Wiederwahl im neuen Landtag die Stimmen des BSW braucht, geht inzwischen weit über die Äußerungen von Scholz im September in Bundestag hinaus. In einem gemeinsamen Appell, der am 4. Oktober 2024 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht wurde, fordern Woidke und die designierten CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen und Sachsen, Mario Voigt und Michael Kretschmer, einen Waffenstillstand in der Ukraine. Sie fordern die Bundesregierung auf, Russland an den Verhandlungstisch zu bringen: „Wir wollen eine aktivere diplomatische Rolle Deutschlands in enger Abstimmung mit seinen europäischen Nachbarn und Partnern.“
Das ist eine Wende um 180 Grad: Statt mehr Waffen plötzlich Verhandlungen. Zugleich wenden sich die drei Politiker gegen die Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen in Deutschland, die die Bundesregierung in nibelungenhafter Treue zu ihrem wichtigsten Verbündeten zugesagt hatte. Diese Zusage ohne öffentliche Diskussion und ohne Beteiligung des Parlaments gegeben zu haben, dürfte sich noch als schwerer Fehler erweisen: Schon demonstrierten in Berlin mehrere zehntausend Menschen gegen die Stationierung der US-Raketen und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Es sieht so aus, als wäre die deutsche Friedensbewegung zu neuem Leben erweckt worden.
Mehr noch: Der Ruf der ostdeutschen CDU-Politiker für Verhandlungen mit Russland dürfte die bisher strikt kriegsbereite CDU in eine Zerreißprobe stürzen. CDU-Chef Merz sieht offenbar nicht, dass seine eigene Partei vor einer Spaltung steht und fordert weitere Unterstützung der Ukraine: „Russland wird erst zu Gesprächen bereit sein, wenn das Regime von Putin erkennen muss, dass ein weiteres militärisches Vorgehen gegen die Ukraine aussichtslos erscheint.“ Es sind nicht nur ostdeutsche CDU-Politiker, die sich um die Vorgaben von Merz nicht mehr scheren. Auf der Friedensdemonstration in Berlin sprach neben BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht mit Peter Gauweiler auch ein sehr prominenter CSU-Politiker. Er sagte unter großem Beifall: „Ich halte es für hellen Wahnsinn, jetzt deutsche Raketen nach Russland schießen zu lassen.“ Ein so breites Bündnis von links bis rechts ist sensationell.
Noch glaubt Merz mit dem Kriegskurs die Bundestagswahl im September 2025 gewinnen zu können. Führende CDU/CSU-Politiker verteilen untereinander bereits die Posten im nächsten Kabinett und ignorieren die Volksweisheit, dass man das Fell des Bären nicht vor der Jagd verteilen soll. Denn Scholz und die SPD haben noch eine Option, um die Wahl nicht völlig zu verlieren. Sie könnten Gespräche mit Russland anstoßen, müssten dafür aber über ihren eigenen Schatten springen. Guten Zugang nach Moskau hätte nur einer: der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, der im Zuge der Berliner Kriegsbereitschaft zum „Outlaw“ abgestempelt und verbannt wurde. Seine Rehabilitierung wäre zwar das Eingeständnis eines Irrtums, aber wenn Politik in einer Sackgasse angekommen ist, muss sie umkehren. Schröder als Sonderbeauftragter der deutschen Regierung hätte das Zeug und die Kraft, mit Gesprächen ein Ende der Kampfhandlungen in die Wege zu leiten.
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