Wer sind Sie, Fluggast P. des Ryanair-Flugs FR4978?

Von Oles Libovetz

Die Festnahme des belarussischen Oppositionellen, Bloggers und Neonazis Roman Protasevich auf dem Flughafen am 23. Mai in Minsk wirft nach wie vor hohe Wellen. Besonders in Bezug auf die Herkunft des elektronischen Drohbriefs bestehen noch offene Fragen, die mit einer Bombendrohung gegen eine Lufthansa-Maschine am Tag darauf und jener gegen eine Ryanair-Maschine am vergangenen Wochenende noch drängender wurden. Ein Prozess gegen Protasevich könnte der EU noch ein paar peinliche Momente bescheren.

Vor einigen Wochen nahmen die russischen Behörden in Moskau mehrere Angehörige der belarussischen Opposition fest, die in die Planung eines Putsches und eines Mordanschlags auf den belarussischen Präsident Aljaksandr Lukaschenka (russ. Lukaschenko) und eine Reihe seiner Mitarbeiter verwickelt gewesen sein sollen (1). Einer davon soll eigens für ein entsprechendes Gespräch aus den USA nach Moskau angereist sein. Es ist erstaunlich, wie offen die Herren in einem Moskauer Restaurant mit weiteren Personen über Mord und Staatsstreich sprachen. Über dieses Gespräch veröffentlichten die russischen Behörden auf YouTube ein Video (2). Interessant ist, dass die Gesprächsteilnehmer aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt wurden. Die plausibelste Erklärung für diesen Vorgang ist, dass die Betroffenen in eine Falle gelockt wurden. Inzwischen überstellte Russland die festgenommenen Oppositionellen an die belarussischen Behörden, welche ihrerseits ein Video über ein Gespräch veröffentlichten, welches in irgendeiner belarussischen Amtsstube entstanden sein muss (3). Darin geben die Betroffenen ihre Beteiligung an den Umsturz- und Mordplänen freimütig zu. Sie machen nicht den Eindruck, misshandelt worden zu sein. Der Grund für ihre freimütigen Geständnisse könnte darin liegen, dass der belarussische Staatsanwalt ihnen eröffnete, dass er bereit sei, auf eine Forderung nach Verhängung der Todesstrafe zu verzichten und stattdessen auf eine langjährige Haftstrafe zu plädieren, wenn sie kooperieren; konkret könnten das gut und gerne 15 Jahre sein. 

Unabhängig davon, wie die belarussische Justiz jetzt mit den verhafteten Oppositionellen nun verfährt, zeigt dies, wie weit die belarussische Opposition zu gehen bereit ist. Diese Ereignisse waren möglicherweise ein Game-changer für Lukaschenka, der sich danach entschloss, die belarussische Opposition noch konsequenter zu verfolgen als zuvor und dabei auf weitere westliche Sanktionen zu pfeifen. 

Protasevich beim Neonazi-Bataillon "Azov"

Einer, der bestimmt zur Gewaltanwendung bereit ist, ist der am 23. Mai auf dem Flughafen Minsk festgenommene Roman Protasevich. Eine Teilnahme an den Kämpfen im Osten der Ukraine in den Reihen des neonazistischen ukrainischen Freiwilligen-Bataillons "Azov" wird er kaum mehr abstreiten können (4). Ihm werfen die belarussischen Behörden ebenfalls die Beteiligung an Umsturzplänen vor. Sein diesbezügliches Geständnis, das kurz nach seiner Festnahme aufgenommen und ebenfalls auf YouTube veröffentlicht wurde, mag bestimmt aufgrund der Misshandlungen entstanden sein, die er offensichtlich erfuhr (5). Wenn ihm der belarussische Staatsanwalt aber erklärte, dass er in der Lage sei, eine Verbindung zwischen Protasevich und dem Mordkomplott an Lukaschenka nachzuweisen, dann wird auch Protasevich sich zur Kooperation entschieden haben, um die Gefahr eines Todesurteils abzuwenden. Der belarussische Staatsanwalt vergaß möglicherweise zu erwähnen, dass die Volksrepubliken von Lugansk und Donetsk Auslieferungsanträge stellen könnten, um Protasevich wegen seiner Teilnahme an den Kämpfen im Donbass strafrechtlich zu belangen (6). Da stehen dann wohl Vorwürfe wie Terrorismus und eventuell auch Kriegsverbrechen zur Debatte und damit weitere langjährige Haftstrafen. Die Republik Belarus hat die LNR und DNR zwar noch nicht anerkannt, aber das könnte sich ändern. Hinter vorgehaltener Hand hatten russische Diplomaten schon vor langer Zeit Kritik an Belarus geübt, weil dieses gegenüber belarussischen Staatsbürgern in den Reihen der neonazistischen ukrainischen Freiwilligenbataillone allzu viel Nachsicht an den Tag gelegt hatte (7). 

Für die weitere Entwicklung von Belang ist auch die Art und Weise, wie Protasevich als Fluggast des Ryanair-Flugs FR4978 identifiziert wurde. Beim Ryanair-Flug Athen – Vilnius handelte es sich um einen EU-Binnenflug, auf welchem die Grenzbehörden keine Ausweispapiere verlangen. Sicherlich musste Protasevich sich aber beim Einchecken ausweisen. Damit war zumindest der Fluggesellschaft klar, wer in Athen ihr Flugzeug bestieg. Außer bei Codeshare- oder Anschlussflügen ist anderen Fluggesellschaften die Einsicht in Passagierlisten nicht möglich. Das alles war beim Ryanair-Flug FR4978 nicht der Fall, sodass davon auszugehen ist, dass ausschließlich Mitarbeiter dieser Fluggesellschaft Zugriff auf die Passagierliste hatten. Der Informant kann in praktisch jeder Station des Ryanair-Flugnetzes gesessen haben, von Belfast bis Akaba und von Lanzarote bis St. Petersburg (8). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass der Tipp an die belarussischen Behörden aus Vilnius selbst kam, denn die Einreisebestimmungen nach Lettland verlangen derzeit Covid-bedingt, dass Passagiere sich vor Einreise online bei der zuständigen litauischen Behörde registrieren (9).

Bereits im Athener Flughafen will Protasevich einen russischen Geheimdienstmitarbeiter bemerkt haben, der ihm "blöde Fragen stellte" und versuchte, seinen Pass zu fotografieren (10). Diese Beobachtung postete Protasevich über Telegram an einen Freund, bevor er an Bord ging. Wie er angeblich einen russischen Geheimdienstmitarbeiter identifizierte, erklärt er uns nicht. In der Tat meldete aber der Aviation Herald, dass in Athen drei russische Staatsbürger zugestiegen seien, die nach der unfreiwilligen Zwischenlandung in Minsk den Weiterflug nach Vilnius nicht angetreten hätten (11). Sollte es sich bei den dreien wirklich um Mitarbeiter von Nachrichtendiensten gehandelt haben, dann hätte ihre Funktion in der Operation darin bestanden, festzustellen, ob Protasevich wirklich im Flugzeug sitzt. Aber irgendwoher müssen auch sie einen Tipp auf Ryanair-Flug FR4978 erhalten haben, denn um ihn zum Flughafen zu verfolgen, seinen Flug festzustellen, einen Flugschein zu kaufen und sich dann mit Protasevich in die Warteschlange vor dem Check-in zu stellen, dazu reichte die Zeit wohl nicht. Sie mussten schon vorher gewusst haben, wann Protasevich nach Vilnius fliegt. Diese Überlegungen wird man sich auch in der belarussischen Opposition machen – und entsprechend nervös werden. Belarussische Oppositionelle werden bei der Buchung von Flügen inskünftig darauf achten, belarussischen Luftraum weiträumig zu umfliegen, beispielsweise über Skandinavien ins Baltikum. 

Wirre Bombendrohung

Auf der Pressekonferenz der belarussischen Behörden erklärte der Leiter der Zivilluftfahrt-Behörde, der Flughafen Minsk habe am 23. Mai von der Adresse ahmed_yurlanov1988@protonmail.com eine E-Mail in englischer Sprache erhalten, welche eine Bombendrohung gegen den Ryanair-Flug FR4978 enthalten habe, mit einem Hinweis auf die kürzlich beendeten Kampfhandlungen rund um den Gaza-Streifen:

"We, Hamas soldiers, demand that Israel cease fire in the Gaza Strip. We demand that the European Union abandon its support for Israel in this war. We know that the participants of Delphi Economic Forum are returning home on May 23 via flight FR4978. A bomb has been planted onto this aircraft. If you don’t meet our demands the bomb will explode on May 23 over Vilnius. Allahu Akbar."(12)

In dieser E-Mail wird die Wahl des Fluges damit begründet, dass auf diesem Teilnehmer am Delphi Economic Forum zurück nach Vilnius reisten, das am 15. Mai zu Ende gegangen war (13). Ob wirklich Geschäftsleute und Regierungsvertreter diesen Flug nutzten, ist bis dato unklar. Das Datum der Drohung, zwei Tage nach Ende des Raketenkriegs zwischen Israel und Gaza macht stutzig, denn die, in der Mail erhobene Forderung nach Feuereinstellung durch die Israelis, war ja schon erfüllt. Der Zeitpunkt der Mail, die auch bei der Flughafenbehörde in Vilnius einging, gab Anlass zu Spekulationen. Ein Journalist will herausgefunden haben, dass die Mail 24 Minuten nach Einflug der Ryanair- Maschine in belarussischen Luftraum eingegangen sei (14). Unklar ist auch, wie allfällige Terroristen die Bombe ausgerechnet über der Stadt Vilnius zur Explosion bringen wollten. Es wäre hingegen verständlich, dass sich der Flugkapitän und die Flugsicherung nicht auf Spekulationen über die technische Phantasie nahöstlicher Bombenbauer einlassen wollten und vorerst einmal davon ausgingen, dass diese über Mittel und Methoden verfügen, die Bombe im litauischen Luftraum zur Explosion zu bringen. Über den Namen des Absenders, Yurlanov, wurde ebenfalls ausgiebig spekuliert. Sinn machen solche Spekulationen aber nur, wenn man davon ausgeht, dass der Urheber der Drohung seinen richtigen Namen angab. Das ist wohl nicht anzunehmen (15). 

Wenn es möglich war, die Anwesenheit von Protasevich auf dem Ryanair-Flug 4978 rechtzeitig nach Minsk zu melden, dann müsste es eigentlich auch problemlos möglich gewesen sein, eine glaubwürdige Bombendrohung zeitgerecht an die belarussische Flugsicherung zu übermitteln, welche den Flug ja sicher schon weit außerhalb belarussischen Luftraums auf ihrem Radar hatte. Die stümperhafte Redaktion des Drohungsbriefs bzw. Mails und die offenbar verspätete Übermittlung passen nicht zur Überwachung von Protasevich und seiner Reiseroute.

Der Irrflug der Ryanair-Maschine

Inzwischen veröffentlichten die belarussischen Behörden die Abschrift der Funkgespräche zwischen der Ryanair-Besatzung und der Flugverkehrsleitung in Minsk (16). Natürlich kann diese Abschrift gefälscht sein. Erfahrungsgemäß werden im modernen Informations-Krieg aber nicht ganze Inhalte, sondern nur Teile davon gefälscht. Die Abschrift basiert sicherlich auf der Aufzeichnung der Funkgespräche in der Flugverkehrsleitung in Minsk. Zumindest die Antworten der Besatzung des Ryanair-Flugzeugs müssten durch den Cockpit-Voice-Recorder der Maschine aufgezeichnet worden sein. Da dieser die Geräusche im Cockpit aber nur während einer begrenzten Zeit aufnimmt, sind die entscheidenden Gespräche spätestens nach dem Abflug der Maschine in Minsk überschrieben worden (17). Hingegen werden sich die Piloten sicherlich an die entscheidenden Gespräche erinnern und könnten widersprechen, wenn die Abschrift nicht mit ihren Erinnerungen übereinstimmt. Ryanair hat sich bisher zu dem Vorfall nicht geäußert, was nicht überrascht: Schließlich will die irische Fluggesellschaft Passagiere befördern und sich nicht in politische Ränkespiele hineinziehen lassen. 

Beim Verhalten des Ryanair-Flugs fallen einige Ungereimtheiten auf: Eigentlich müsste man annehmen, dass der Kapitän eines Passagierflugzeugs nach Eingehen einer Bombendrohung unverzüglich die Landung auf dem nächstgelegenen Flughafen ins Auge fasst und erst danach die Glaubwürdigkeit der Bedrohung zu prüfen beginnt. Aber es vergingen 20 Minuten, bis der Kapitän offenbar die Gefahr erkannte, in welcher er schwebte, und einen Notfall erklärte. Er tat dies erst, als er sich im Raum Lida im Norden von Belarus vor die Wahl gestellt sah, entweder den Landeanflug auf das 90 km entfernte Vilnius einzuleiten oder den Ausweichflughafen Minsk anzufliegen (18). Ausgehend von der Vermutung, dass die belarussische Flugsicherung einem Flugzeug mit einer Bombe an Bord wahrscheinlich nicht den direkten Überflug über die Stadt Minsk erlaubt, sondern eine Route am Nordrand der Stadt entlang vorgeschrieben hätte, kann man die Flugstrecke mit ca. 180 km veranschlagen. Anstatt dessen drehte FR4978 um, flog erst in Richtung Südost und nahm im Raum Stowbtsy eine Kursänderung auf den Flughafen Minsk vor. Dieser Flugweg ist fast doppelt so lang wie der kürzeste (19). Piloten sind gesetzlich dazu verpflichtet, eine Treibstoffreserve für eine halbe Stunde Flugzeit nicht anzutasten. Der an Bord befindliche Treibstoff reichte folglich aus, um den Ausweichflughafen Minsk sicher zu erreichen. Der Flugkapitän hatte offenbar nicht den Eindruck, unter Zeitdruck zu stehen. 

Auch andere Verhaltensweisen passen nicht zur Bombendrohung und man gewinnt den Eindruck, die Besatzung sei sich des Ernstes der Lage nicht bewusst gewesen. Überraschend ist zum Beispiel, dass der Flugkapitän der Ryanair-Maschine das Flugzeug nicht sofort nach dem Ausrollen evakuieren ließ, sondern in eine zugewiesene Wartefläche nahe des Terminalgebäudes rollte. Dazu gehört, dass das Bodenpersonal sich danach sofort dem Flugzeug näherte. Auch sie waren sich offenbar der Gefahr nicht bewusst. 

Absolut nachvollziehbar ist hingegen, dass die Besatzung der FR4978 sofort nach Erklärung des Notfalls ein Absinken von der Reiseflughöhe 39'000 auf 10'000 Fuß (ca. 3'000 m) beantragte. Eine Bombe in einem Flugzeug hat eine unvergleichlich höhere Wirkung, wenn sie in großer Flughöhe ein Loch in die Außenhaut eines Flugzeugs reißt. Dann richtet die aus der Kabine mit großem Druck entweichende Luft einen viel größeren Schaden an, als die Bombe selbst. Viel geringer sind die Folgeschäden bei einer Explosion in einer nicht unter Druck stehenden Kabine (20). Deshalb empfehlen Fluggesellschaften und Flugzeugbauer Piloten, bei Eingang einer Bombendrohung in tiefer Flughöhe und niedriger Geschwindigkeit zu fliegen, um die Belastung auf Flugzeugrumpf und -struktur niedrig zu halten. Beides hat der Pilot der FR4978 getan. Im Verlauf des Flugs nach Minsk reduzierte die Flugbesatzung die Geschwindigkeit des Flugzeugs auf 280 km/h, was nur wenig über der üblichen Landegeschwindigkeit einer Boeing-737 von um die 260 km/h liegt (21). Wenn man dann noch davon ausgeht, dass der Pilot infolge Seitenwinds auf der Landebahn 31R in Minsk um 10:18 Uhr mit etwas mehr als dieser Geschwindigkeit landete, dann wird klar, dass Reiseflug und Anflug fließend ineinander übergingen (22). Dieses Verhalten passt genau zu einer Bombendrohung. 

Wenn die Bombendrohung eine, von den belarussischen Behörden fingierte war, wie jetzt allgemein behauptet wird, dann wäre es diesen andererseits problemlos möglich gewesen, der Weltöffentlichkeit eine eigens gebaute Bombe zu präsentieren, die angeblich gefunden worden war, und ihre Herkunft aus dem Nahen Osten zu demonstrieren. Darauf haben die Belarussen bislang verzichtet. 

Intervention der belarussischen Luftwaffe

Der Oberkommandierende der belarussischen Luftwaffe erklärte in der Pressekonferenz der belarussischen Behörden, er habe unmittelbar nach Eintreffen eines Hilfsbegehrens am 23. Mai um 09:58 Uhr den Start eines Jagdflugzeugs befohlen, welches um 10:04 Uhr vom Fliegerhorst Baranovichi abgehoben habe. Eine Reaktionszeit von sechs Minuten entspricht in etwa der Bereitschaft, welche westliche Luftwaffen unter Quick Reaction Alert verstehen, welche in ihrer höchsten Stufe einen Start innerhalb von fünf Minuten nach Alarmierung fordert. In dieser Frist ist es nicht möglich, die Bewaffnung eines Flugzeugs zu ändern. Wenn die belarussische MiG-29 in Erwartung einer Luftraumverletzung durch NATO-Kampfflugzeuge mit Luft-Luft-Lenkwaffen bestückt war, dann flog sie eben auch mit dieser Bewaffnung einem zivilen Passagierflugzeug entgegen. Luftpolizeidienst wird manchmal auch aus dem Ausbildungsbetrieb heraus geleistet: In diesem Fall bricht ein Flugzeug eine Luftkampf-Übung ab und führt die befohlene Mission mit der Bewaffnung aus, welche für die Übung ans Flugzeug gehängt wurde. Damit ist es völlig unerheblich, womit die MiG-29 der belarussischen Luftwaffe ausgerüstet war, als sie sich dem Ryanair-Passagierflugzeug näherte. 

Die polnische Flugsicherung und auch die Luftwaffe sollten eigentlich in der Lage sein, die Glaubwürdigkeit der Aussagen der belarussischen Luftwaffe zu beurteilen, denn sie verfügen über Radargeräte, die durchaus den Flugverkehr – auch den militärischen – im Raum Baranovichi überwachen können (23). Ganz bestimmt trifft dies auch für das 30 km von der litauischen Staatsgrenze gelegene Lida zu, wo angeblich ein belarussisches Kampfflugzeug die Ryanair-Maschine zur Umkehr zwang. Wenn ein belarussisches Jagdflugzeug zu einem anderen Zeitpunkt als 10:04 Uhr in Baranovichi losgeflogen, oder sich im Raum Lida der Ryanair-Maschine genähert hätte, dann könnten die Polen dies beweisen. Bislang erfolgte dies nicht.

Eine MiG-29 erreicht ihre Spitzengeschwindigkeit von ca. 2.2 Mach nur in großer Höhe. In tiefen Flughöhen, wo die Luft dichter und der Luftwiderstand höher ist, erreicht sie nur wenig mehr als 1.1 Mach, was in etwa 1'350 km/h entspricht (24). Bei einem Flug in einer Flughöhe von wenigen tausend Fuß mit dieser Geschwindigkeit hätte sie im Raum zwischen Baranovichi und Minsk permanent Überschallknall verursacht, der am Boden deutlich zu hören und sogar zu spüren gewesen wäre. Auch im dünn besiedelten Belarus hätten wohl zahlreiche Bewohner in sozialen Netzen darüber berichtet. Das blieb bis heute aus, was den Schluss nahelegt, dass die Maschine mit hoher Unterschallgeschwindigkeit flog; das könnten um die 1'000 km/h gewesen sein. Unter Berücksichtigung dieser Zeitverhältnisse, der Flughöhen, Geschwindigkeiten und Distanzen tauchen Zweifel daran auf, ob die MiG-29 die Ryanair überhaupt noch erreichte, bevor diese den Landeanflug nach Minsk einleitete. Diese Berechnungen bestätigen jedenfalls die Aussagen des Oberkommandierenden der belarussischen Luftwaffe, wonach die MiG sich zum Zeitpunkt der Landung von FR4978 über dem Flugplatz Machulishchy südlich von Minsk befunden habe. 

Abfangmanöver werden in der Regel von zwei Kampfflugzeugen geflogen, wobei eines davon sich neben das Cockpit der abzufangenden Maschine setzt, Sichtkontakt aufnimmt, versucht über Notfrequenzen, die allen Linienpiloten bekannt sind, Funkkontakt aufzunehmen und im Extremfall extrem helle Leuchtkörper ausstößt, welche kaum zu übersehen sind (25). Das zweite Kampfflugzeug folgt der abzufangenden Maschine und hält sich bei Bedarf bereit, seine Waffen einzusetzen. Mit einem einzigen Kampfflugzeug ist ein derartiges Abfangmanöver nicht möglich, denn es fehlt entweder am Element der Kontaktaufnahme oder an demjenigen der Drohung. 

Offene Fragen und Hüftschüsse der EU

Derzeit sind im Zusammenhang mit dem Ryanair-Flug FR4978 noch viele Fragen offen. Verwirrend ist die Faktenlage in Bezug auf den Ursprung einer Bombendrohung. Wenn es wirklich eine Bombendrohung gab, dann kam sie möglicherweise auf eine andere Art zur Flugsicherungsbehörde in Minsk, als die belarussischen Behörden erklärten. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die belarussischen Behörden die die wahre Quelle der Drohung zu verbergen suchen, möglicherweise, um diese zu schützen. Das Verhalten der Flugbesatzung passt nur teilweise mit der Bombendrohung zusammen. Über die Gründe für den großen Umweg südlich an Minsk vorbei kann man derzeit nur spekulieren. Von einem Zwang zur Umleitung nach Minsk unter Drohung von Waffeneinsatz durch die belarussische Luftwaffe kann aber keine Rede sein. 

Die mangelnde Faktenlage und die vielen offenen Fragen hinderten die EU nicht daran, sofortige Sanktionen zu beschließen. In den letzten Jahren hat die belarussische Regierung die Einreise nach Belarus vereinfacht: Bei Einreise am Flughafen Minsk und einer Aufenthaltsdauer von maximal 30 Tagen entfällt die Visumpflicht. Damit wäre es Bürgern europäischer Länder einfach möglich, sich vor Ort einen eigenen Eindruck von der Lage im Belarus zu verschaffen. Es wäre der belarussischen Regierung schon im vergangenen Jahr ein leichtes gewesen, mit Hinweis auf die Covid-Pandemie Demonstrationsverbote zu verhängen und die Bewegungsfreiheit der Bürger einzuschränken, wie dies verschiedene westeuropäische Länder taten. Darauf verzichtete die belarussische Regierung. Mit ihren vorschnellen Sanktionen hat die EU die gegenseitigen Verbindungen unterbrochen. 

Wenn Protasevich in absehbarer Zukunft vor Gericht zu seiner neonazistischen und kriminellen Vergangenheit befragt wird, droht der EU neuerdings ein Imageverlust, denn dann wird sich ein weiteres Mal zeigen, wie gerne die selbsternannten Saubermänner aus Brüssel bereit sind, mit nützlichen Neonazis zusammenzuarbeiten.

Anmerkungen

 

  1. Vgl. https://markneukirchen-politik.de/mdr-beim-luegen-erwischt/ und taz.de/Lukaschenko-Habe-einen-Putschversuch-vereitelt/!5762011/.

  2. Es handelte sich dabei u.a. um Alexander Feduta, Igor Makar und Grigory Kostusev. Siehe https://youtu.be/PpV9s6YIflo und https://www.youtube.com/watch?v=PpV9s6YIflo

  3. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=-v52t1DINYA

  4. Siehe Fabrizio Verde: Il fascista Roman Protasevich è finito dove merita, online verfügbar unter https://www.lantidiplomatico.it/dettnews-il_fascista_roman_protasevich__finito_dove_merita/8_41479/. Главари «Азова» намекнули, служил ли в их полку «змагар» Протасевич, in: EurAsia Daily, 25.05.2021, online verfügbar unter https://eadaily.com/ru/news/2021/05/25/glavari-azova-nameknuli-sluzhil-li-v-ih-polku-zmagar-protasevich. Vgl Александр Коц: Роман Протасевич о службе в «Азове»: «Если не остановить российскую орду, следующая будет Белоруссия», onlineverfügbar unter https://www.kp.ru/daily/27283/4419308/. Zur Thematik von belarussischen Nationalisten im Krieg im Donbass siehe А.Шарий: "Протасевич и "Азов". Это другое", online verfügbar unter https://ua-katarsis.livejournal.com/937942.html. Protasevich erschien auch auf dem Titelblatt "Чорне сонце" ("schwarze Sonne") des Bataillons "Azov"; siehe Чорне сонце, Nr. 15/2015, 03.07.2015, online verfügbar unter https://archive.org/details/black_sun/Chorne_Sontse_15_20150703/mode/2up. Vgl. die entspr. Einträge auf Twitter unter https://mobile.twitter.com/kooleksiy/status/1396992260080869382 und https://mobile.twitter.com/kooleksiy/status/1396992252640174083., sowie bei FOIA Research: https://www.foiaresearch.net/person/roman-protasevich. Die Echtheit des Portraits wurde überprüft: siehe Марина Ліснічук: Протасевичу приписали службу в "Азові" на Донбасі: у Bellingcat розкрили правду, online unter https://news.obozrevatel.com/ukr/abroad/protasevichu-pripisali-sluzhbu-v-azovi-na-donbasi-u-bellingcat-rozkrili-pravdu/amp.htm

  5. Siehe https://www.youtube.com/watch?v=xJL5rE0k79Y.  

  6. Siehe http://en.lug-info.com/news/one/lpr-willing-to-assist-belarus-in-investigation-against-protasevich-21974

  7. Zu Belarussen im Donbass siehe "The Belarusians fighting on both sides of the Ukraine conflict", in: The Guardian, online verfügbar unter https://www.theguardian.com/world/2014/jul/29/belarus-fight-both-sides-ukraine-russia-conflict, und Volha Charnysh: Belarusians in Ukraine Conflict: Freedom Fighters or the Far-Right?, in: BelarusDigest, 10.12.2014, online verfügbar unter https://belarusdigest.com/story/belarusians-in-ukraine-conflict-freedom-fighters-or-the-far-right/

  8. Die Destinationen der Ryanair sind einzusehen unter https://www.ryanair.com/at/de/preiswerte-flugziele

  9. Siehe den entsprechenden Hinweis auf der Homepage des Auswärtigen Amts https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/litauensicherheit/200620

  10. Siehe https://www.sueddeutsche.de/politik/belarus-lukaschenko-protassewitsch-ryanair-nexta-1.5302956?reduced=true

  11. Siehe http://avherald.com/h?article=4e7d7208&opt=0

  12. Siehe Pressekonferenz der belarussischen Behörden auf YouTube: https://youtu.be/cx7KqfFAWR4. Das Protokoll der Gespräche zwischen den Fluglotsen und der Besatzung von FR4978 ist an zahlreichen Orten veröffentlicht worden, u.a. im Aerotelegraph, unter https://www.aerotelegraph.com/aus-sicherheitsgruenden-empfehlen-wir-in-minsk-zu-landen

  13. Siehe die Homepage des Forums: https://delphiforum.gr/

  14. Siehe https://www.thedailybeast.com/bomb-threat-cited-in-belarus-hijacking-came-24-minutes-after

  15. Das tut der US-amerikanische Investigativ-Journalist Michel Weiss, der auch eine jüdische oder bulgarische Herkunft nicht ausschließen will. Vgl. https://www.thedailybeast.com/bomb-threat-cited-in-belarus-hijacking-came-24-minutes-after. Solche Spekulationen sind wohl nutzlos.  

  16. Online verfügbar unter https://www.aerotelegraph.com/aus-sicherheitsgruenden-empfehlen-wir-in-minsk-zu-landen

  17. Die Vorschriften der Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO schreiben für Flugzeuge der Klasse der Boeing-737 einen Cockpit Voice Recorder mit einer Aufzeichnungszeit von 2 Stunden vor: https://www.skybrary.aero/index.php/Cockpit_Voice_Recorder_(CVR)

  18. Die ersten Informationen zum umgeleiteten Flug waren etwas unklar. Siehe https://edition.cnn.com/2021/05/23/europe/belarus-activist-emergency-landing-intl/index.html. Vgl. Peter Haisenko: Erzwungene Landung in Minsk? – Die Geschichte stinkt!, in:https://www.anderweltonline.com/klartext/klartext-20211/erzwungene-landung-in-minsk-die-geschichte-stinkt/

  19. Zu diesem Flugweg siehe auch Ian Petchenik: Ryanair flight 4978 to Vilnius forcibly diverted to Minsk, online verfügbar unter https://www.flightradar24.com/blog/ryanair-flight-4978-to-vilnius-forcibly-diverted-to-minsk/

  20. Wenn eine Bombe aber ein Loch in die Kabinenaußenhaut reißen soll, muss sie möglichst nah an dieser, idealerweise unmittelbar daran befestigt sein. Frachtcontainer für Flugzeuge halten heutzutage in einem gewissen Maß einer Explosion im Innern stand.

  21. Siehe https://www.bredow-web.de/Berlin_Tegel/Boeing_737-800/boeing_737-800.html

  22. Zu den Wetterverhältnissen in Belarus an jenem Tag siehe https://www.timeanddate.de/wetter/weissrussland/minsk/rueckblick

  23. Vgl. https://www.radartutorial.eu/02.basics/rp32.de.html

  24. Siehe https://www.bredow-web.de/Luftwaffenmuseum/Kampfjets/MiG-29/mig-29.html. Die Schallgeschwindigkeit ist von Druck und Temperatur abhängig. Der angegebene Wert bezieht sich auf 20°C und Meereshöhe.

  25. Eine Darstellung und Beschreibung dieses Verfahrens findet sich online unter https://www.faasafety.gov/files/notices/2010/Oct/Intercept_Procedures.pdf.

Bilder: Depositphotos u.a
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