Von Hans-Georg Münster
Vor einigen Jahren waren wir im Urlaub an der Ostsee, die man zu DDR-Zeiten auch „Meer des Friedens“ nannte. In einer Buchhandlung fiel der Blick auf ein Werk, das damals in den Bestsellerlisten stand: „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies. Das Werk schildert eine Epoche des Friedens in Mitteleuropa. Seit Jahrzehnten hat man keinen großen Krieg mehr erlebt. Es erzählt von Schriftstellern und Künstlern, die von Land zu Land reisen, hier und dort leben – und vor allem in tiefem Frieden lebten. Gustav Klimt hatte sein weltberühmtes Werk „Der Kuss“ einige Jahre zuvor vollendet - ein Bild, dem die spätere Friedensbewegung den Titel „Make Love not War“ hätte geben können. Ein Jahr später versank Europa in einen bis dahin nie erlebten Krieg: Der Erste Weltkrieg begann.1913 - das war die apokalyptische Übergangszeit. In so einer Zeit leben wir jetzt auch.
„Wir erleben eine Zeitenwende“, hat Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich in einer Sondersitzung des Bundestages festgestellt. Das ist richtig. Diese Zeitenwende findet jedoch nicht nur in der entfernten Ukraine statt, wo Kämpfe toben, deren Ursache man in Mitteleuropa und Deutschland nicht erkennen kann und nicht erkennen will, weil das geopolitische und strategische Bewusstsein längst abhanden gekommen ist. Zur Zeitenwende gehören Waffenlieferungen an die Ukraine, einen Staat, der schon in Friedenszeiten die Voraussetzungen für den Empfang deutscher Waffen wie die Einhaltung demokratischer Spielregeln und von Menschenrechten nicht erfüllt hätte.
Zur Zeitenwende gehört auch eine Aufstockung des deutschen Verteidigungsetats um 100 Milliarden Euro, die man leider als Kriegsvorbereitungen bezeichnen muss. Dass dies ausgerechnet von der SPD, die seit Jahrzehnten Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und Aufrüstung ablehnte und von den als Friedenspartei schlechthin geltenden Grünen betrieben wird, hätte bei Machiavelli Ovationen ausgelöst. Zeitungen mit einst klarer pazifistischer Ausrichtung wie die Frankfurter Rundschau werden zur Kriegstrommlern: „Die Ukraine wünscht Waffenlieferungen und sie bekommt sie. Das ist alles andere als verwerflich, es ist das Gebot der Stunde.“
Und was ist mit der Bundeswehr selbst? Noch vor wenigen Tagen hatte der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, festgestellt, die Bundeswehr könne kaum etwas ausrichten. Die Truppe stehe seit Jahren wegen der Sparpolitik „mehr oder weniger blank da“ und habe nur begrenzte Optionen gegenüber Russland. Inzwischen werden die Töne im Militär propagandistischer: „Dieser Gefechtsverband ist ein sehr scharfes Schwert, und dieses Schwert ist in den letzten Wochen noch schärfer geworden“, sagt der deutsche Kommandeur des NATO-Verbandes in Litauen, Daniel Andrä. „Wir haben einen Feind und eine reale Bedrohung, die täglich spürbar ist“, so der deutsche Oberstleutnant.
Feind Russland? Kriegspartei ist Deutschland inzwischen schon durch Waffenlieferungen geworden; aber um in einen Krieg einzutreten, bedarf es mehr als der Auffüllung des Waffenarsenals; man braucht Mannschaften, die das Kriegsgerät bedienen können. Und es gehört ein geistiges Klima dazu, in der die Kriegsbereitschaft wachsen kann. Es gibt keine Erlebnisgeneration mehr, die noch berichten könnte wie einst der junge Franz Josef Strauß, der wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg sagte, ein Deutscher, der noch einmal eine Waffe in die Hand nehmen werde, dem solle die Hand abfallen. Doch Erinnerungen verblassen, und einige Jahre später schon betrieb selbst Strauß als Verteidigungsminister Aufstellung und Aufrüstung der westdeutschen Armee.
Im älteren Schulbüchern für Geschichte sind Bilder zu sehen, wie ein Jahr nach dem Sommer des Jahrhunderts junge deutsche Männer lachend in Güterwaggons klettern und ihren Mädels zuwinken. Auf einen Waggon hat jemand mit Kreide geschrieben: In acht Tagen in Paris. Kein Mann kam bis Paris, die meisten von ihnen starben im alliierten Kugelhagel in den Hügeln bei Verdun, wo man bis heute ihre Gräber besuchen kann.
Das alles ist längst vergessen, und eine Politiker-Generation und ein Volk, die nicht wissen, wo sie herkommen, wissen auch nicht, wo sie hingehen. Nicht die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist das Thema der Stunde in Deutschland, sondern es werden junge Menschen freiwillig zu den Waffen laufen, um für das angeblich Gute zu kämpfen. Die Kinder von „Fridays for Futures“ werden die neuen Divisionen des Westens gegen Putin und Russland sein.
Gefördert wird dies von einer hysterisch-aggressiven gesellschaftlichen Stimmung, die besonnenen Zeitgenossen Angst macht. Der von Politikern und den regierungsnahen Medien geschürte Hass gegen alle, die sich nicht dem linken Gender-Mainstream ergeben, fand bereits eine gnadenlose Fortsetzung gegen diejenigen, die den angeblichen vom Menschen gemachten Klimawandel bestreiten, kritische Fragen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie stellen und sich nicht sofort impfen lassen wollen. Mit eben solchem Furor richtet sich die gesellschaftliche Stimmung jetzt gegen Russen, die hier in Deutschland leben und sich nicht sofort laut und deutlich von Putin und am besten auch gleich von Russland komplett distanzieren. Beispielhaft sei der Fall des Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Walerie Gergijew, genannt, der vom Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter aus dem Amt gejagt wurde. Sein „Verbrechen“: Er wollte sich nicht von Putin distanzieren.
Die nächsten Schritte könnten sein, das Tschaikowsky nicht mehr gespielt und Tolstoi nicht mehr gelesen werden darf. Die Publizistin Vera Lengsfeld, die jahrzehntelang Unterdrückung in der DDR erlebte und erlitt, sagt: „Es wird weltweit ein Hass gegen die Russen und Russland geschürt, der nicht nur ekelhaft und irrational, sondern auch kontraproduktiv und gefährlich ist. Die Russen sind anders als offenbar die meisten Westler tief mit ihrem Land verbunden. Sie werden die Kübel Schmutz, die der Westen über ihr Land und seine Bewohner ausgießt, nicht vergessen. Keine gute Verhandlungsgrundlage für die Zeit nach Putin.“
Welch kleine Geister in Berlin regieren und in Deutschland Leitartikel schreiben, sieht man daran, dass sie Waffen in die Ukraine schicken, mit denen Russen erschossen werden sollen, während sie andererseits keine Scham und keine Skrupel kennen, sich von den Russen Erdgas, Öl, Kohle, Palladium und andere wertvolle Rohstoffe liefern zu lassen. Wenn diese Leute ihre Emotionen ablegen würden und nüchtern zu kalkulieren begännen, würden sie sehr schnell zum Ergebnis kommen, dass dies nicht lange gut gehen kann.
Der Blick ins Bücherregal zeigt neben dem „Sommer des Jahrhunderts“ ein unscheinbares Werk mit dem Titel „Draußen vor der Tür“. Es stammt vom Schriftsteller Wolfgang Borchert, der den drei Jahre nach der Schlacht von Stalingrad in seine zerbombte Heimatstadt Hamburg zurückkehrenden Wehrmachtssoldaten Beckmann beschreibt. Beckmann ist körperlich und seelisch nur noch ein Wrack. An den Landungsbrücken trifft er einen Beerdigungsunternehmer, wohlgenährt und mit bester Laune. Seine Geschäfte laufen blendend. In Wirklichkeit ist der Beerdigungsunternehmer der Tod. Ein alter Mann tritt hinzu. Es ist Gott, der um das Schicksal seiner Kinder trauert, das er nicht mehr ändern könne. Während die Menschen an ihn nicht mehr glauben würden, sei der Tod ihr neuer Gott geworden.
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