Der Anlass für das Interview war für die Redaktion die gerade laufende Diskussion um einen russischen Journalisten, der von mehreren liberalen Medien in Russland und Europa diffamiert wurde. Lettland hat, basierend auf dieser Diskussion, den Journalisten sogar zur Persona non grata erklärt.
WE: Ist es denn in Ordnung, wenn gegen einen Journalisten wegen seiner Äußerungen zu geschichtlichen Dingen vorgegangen wird?
Willy Wimmer:
Man sollte in der heutigen Situation, wo es die veröffentlichte Presse ausgesprochen schwer hat in Anbetracht der Veränderungen, die wir seit 20-30 Jahren in Europa haben, ausgesprochen vorsichtig sein, wenn man sich mit Journalisten auseinander setzt. Weil wir in einem Europa leben, in dem an allen Ecken und Kanten die Meinungs-, Gewissens-, Redefreiheit und auch die Pressefreiheit mit Füßen getreten und beschnitten werden. Hier muss man sich wirklich Fragen, ob nicht ein Journalist, der etwas im historischen Kontext gesagt hat, als Ausrede für ganz andere Dinge herangezogen wird. Wir haben in diesen Tagen und Wochen, vor allem mit dem Untersuchungsausschuss über das zweite Impeachment-Verfahren gegen den ehemaligen amerikanischen Präsidenten Trump gesehen, dass das große Ringen auf der ganzen Welt eigentlich nur darum geht, dass wir unsere Meinungsfreiheit behalten dürfen. Die ist in den Vereinigten Staaten großzügiger und historisch gewachsener als in anderen Ländern, das muss man zweifellos sehen und deswegen kann ich aus meiner Sicht der Dinge nur appellieren Maß zu halten und nicht den Eindruck zu erwecken, dass man Journalisten an den Kragen will, bloß, weil man andere Ziele hat.
WE: Ein russischer Autor und Journalist, (Vladimir Solovjev) hat neulich etwas über die Geschichte gesagt und zwar über die Persönlichkeit von Adolf Hitler. Daraufhin erklärte ihn das lettische Außenministerium zur Persona non grata, mit der Begründung, Solovjev hätte mit seinen Äußerungen die Nazis glorifiziert. Sieht es nicht etwas danach aus, als würden ausgerechnet die Letten, die selbst üblicherweise problemlos Märsche von ehemaligen Waffen-SS-Legionären erlauben, nun versuchen die eigene Verantwortung auf andere zu übertragen? Ist es überhaupt „normal“ auf diese Weise gegen einen Journalisten vorzugehen? Ist das nicht eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit?
Willy Wimmer:
Das ist eine sehr komplexe Frage, weil eine unmittelbare Nähe zu diesem Vorgang nicht gegeben ist. Aber es gibt ein interessantes Buch aus einer britischen Feder und zwar von dem sehr angesehenen Militärhistoriker John Keegan. Er hat ein Buch veröffentlicht, ich sage den Titel mal in meiner Übersetzung, „Der Kampf um die Geschichte“. Das heißt, wir erleben zu jedem Zeitpunkt den wir uns denken können, dass Auseinandersetzungen ausgetragen werden über die Frage, wer die Deutungshoheit über die Geschichte hat. Und wir können eigentlich nur froh sein, wenn aus diesem Kampf um die Geschichte nicht der nächste Krieg wegen der Geschichte ausbricht. Daher ist die Situation, die Sie hier gerade beschreiben, aus meiner Sicht, ein Zeichen dafür, dass die Dinge in Europa völlig im Unstand sind. Eigentlich hat es ein gutes Signal gegeben, als sich vor gut zwei Jahren der russische Präsident Putin in Sankt Petersburg über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts in einer sehr konstruktiven Weise eingelassen hat. Man hätte es eigentlich in ganz Europa aufgreifen sollen und müssen, als Bemühung, sich wirklich mal darüber im Klaren zu sein, mit was wir es in Europa zu tun haben und wie komplex die gesamten Verästlungen der Geschichte sind. Es hat zwar ein halbes Jahr später auch der französische Präsident Macron in einer großen deutschen Zeitung aufgegriffen, aber eine Diskussion, die so dringend notwendig wäre, ist daraus nicht entstanden.
Und eine dritte Anmerkung in diesem Zusammenhang, die die Region anbetrifft. Es hat vor einer Reihe von Jahren eine große Serie der BBC bei Phoenix in Deutschland Wiederhall gefunden. Es war eine Serie mit dem Titel „Die Geschichte der Juden“. Und in dieser Serie, die wirklich ausgezeichnet und sehr nüchtern gewesen ist, wurde im Detail beschrieben mit welchem sensiblen Gebiet wir es in diesem Kontext mit den baltischen Staaten, der Ukraine und auch dem heutigen Russland zu tun haben. Sensible Gebiete sind eigentlich immer ein gutes Zeichen dafür, dass man mit Vorsicht an Dinge heran gehen muss, um nicht das Gegenteil davon zu erzielen, was man als gute Absicht vielleicht im Hinterkopf gehabt hat. Deswegen frage ich mich, was es Lettland eigentlich angeht, wenn in Russland eine Auseinandersetzung stattfindet.
WE: Wir haben in Deutschland auch eine ähnliche Offensive erlebt, dass verschiedene öffentlich-rechtliche und auch nicht-öffentlich-rechtliche Organisationen versuchen auf Medien einzuwirken und dabei mal mehr, mal weniger Druck ausüben.
Willy Wimmer:
Wir haben seit dem Umzug nach Berlin in Deutschland aus meiner Sicht eine verhängnisvolle Entwicklung. Das sehen wir insbesondre in Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts. Wir hätten allen Anlass in Deutschland die Verfassung hochzuhalten in den Fragen des Artikels § 5, aber auch in den Fragen eines verbotenen Angriffskrieges. Wenn es darum geht Konsequenzen aus der jüngeren Geschichte zu ziehen, wäre es nicht besser möglich, als durch eine auf Dauer angelegte Respektierung der Charta der Vereinten Nationen und dem Gewaltmonopol zur Verhinderung eines Krieges, das in dieser Charta grundgelegt ist. Das ist mit dem Krieg gegen Jugoslawien zerschossen worden und zwar auf Befehl der NATO. Das muss man nüchtern sehen. Genau so ist es mit den Fragen, die Sie angesprochen haben zur grundgesetzlich angelegten Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Glaubensfreiheit. Das ist ein Katalog von Freiheiten, die wir nicht vom Staat gewährt bekommen, sondern die wir haben, weil wir Menschen sind. Das sind Menschen- und Bürgerrechte in unserem Verfassungsverständnis. Und hier haben wir seit dieser Zeit, seit 20-22 Jahren, eine Entwicklung, dass wegen der ständigen Brüche des Grundgesetzes durch unsere eigene Regierung, wir eine Politik in der Presse haben auf Gedeih und Verderb das durch zu knüppeln, was die Regierung will. Und die Regierung ist erfindungsreich in ihrem Vorgehen die öffentliche Meinung zu spalten, zu strangulieren und jetzt - in Zusammenhang mit freien Netzmedien - auch denen die Handschellen anzulegen.
WE: Eine leicht provokative Frage. Man bekommt so den Eindruck, dass nicht nur Deutschland, sondern auch andere Länder, die inzwischen zu Europa gehören, die Presse- und Meinungsfreiheit im eigenen Land und auch in den Nachbarländern anderweitig nutzen. Was in dem eigenen Land möglicherweise verboten ist, ist einem anderen erlaubt und ganz normal. Nehmen wir Demonstrationen als Beispiel. Während sie in Deutschland untersagt und/oder verpönt sind, werden Demonstrationen in Belarus oder auch in Russland unterstützt und als demokratisch bezeichnet. Wird da etwas verdreht oder versteht man für sich selbst unter „Freiheit“ etwas anderes, als für die anderen?
Willy Wimmer:
Ich glaube, dass die Bibel eine sehr gute Antwort auf ihre Frage gibt. Dass man nämlich den Splitter im Auge des anderen sieht, aber den Balken im eigenen Auge nicht. Und in diesem biblischen Satz wird genau das ausgedrückt, was wir an staatlich bezuschusster Heuchelei in den zurückliegenden Jahrzehnten - und hier muss ich wieder den Krieg gegen Jugoslawien ansprechen - in unseren Medien erleben. Ich habe selbst einen Vorgang erlebt, bei dem mich ein führender Journalist einer großen deutschen Zeitung, im Auftrag der Zeitungseigentümer anrief, um mich in Sachen Jugoslawien zu befragen, weil die Eigentümer der Auffassung waren, dass die eigene Redaktion nicht in der Lage sei ein solches Gespräch zu führen. Vor allen Dingen die außenpolitische Redaktion - die Redaktion einer großen deutschen Zeitung. Das macht doch schon alles deutlich. Ich muss da im Profibereich gar nicht weiter darüber räsonieren. Ich habe es am eigenen Leib miterlebt, was es bedeutet, wenn die Presse nicht mehr frei ist in diesem Land. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung, die an die Substanz dieser Republik geht, wie zahlreiche andere Fragen auch. Wenn ein ehemaliger Verteidigungsminister - Rupert Scholz - einer der angesehensten Rechtsgelehrten in diesem Land, in Zusammenhang mit Regierungsentscheidungen dauernd davon spricht, dass wir es mit einem fortdauernden Verfassungsbruch zu tun haben, da weiß man eigentlich in Berlin, worum man sich kümmern soll, bevor man nach Minsk oder anderswo schaut.
WE: Herr Wimmer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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