Warnung vor „Kriegseuphorie“ in Deutschland / Wie Berlin mit kleinen Schritten in die große Katastrophe rutschen kann

Von Hans-Georg Münster 

Ist Deutschland eigentlich noch ein souveränes Land, das auf seine Interessen und vor allem auf die Interessen seiner Bürger achtet? Diese Frage stellt sich in den letzten Tagen immer häufiger, und wenn man sieht, wie der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk die gesamte deutsche Staatsführung wie einen alten Tanzbären am Nasenring durch Berlin zieht, dann fällt es schwer, die Frage nach der Souveränität nicht mit einem Nein zu beantworten. Mit einer Regierung, deren Inkompetenz alle Phantasievorstellungen übersteigt, treibt Deutschland in die schwerste Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik und - wenn es ganz schlecht läuft, in den nächsten Krieg.

Melnyk, das muss man ohne Zweifel zugestehen, ist wie sein Regierungschef Selinskyj in Minsk ein Meister des öffentlichen Auftritts. Er kann Stimmungen aufgreifen und anheizen, er kann Meinungen kanalisieren, und vor allem versteht er es, sich und sein Land als Opfer zu präsentieren, was bei den überwiegend politisch grün orientierten Journalisten auf fruchtbaren Boden stößt. In deren Köpfen hat sich das Gut-Böse-Schema fest eingebrannt – ein Relikt aus der Geschichte, wonach die Deutschen grundsätzlich Täter sein müssen und differenziertes Denken ein Tabu ist. Von Geopolitik verstehen diese Journalisten nichts. 

Melnyk ist der Star deutscher Fernseh-Talkshows und angesagter Interviewpartner in allen Zeitungen.Als Diplomat kennt er keine Scheu und legt sich selbst mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an, der aus Melnyks Sicht die Unverschämtheit begangen hatte, die Berliner Philharmoniker zu einem Solidaritätskonzert mit der Ukraine einzuladen, obwohl in dem Orchester russische Musiker mitspielen. Die sei ein Affront, posaunte Melnyk auf allen Kanälen, und er setzte Steinmeier weiter unter Druck, indem er ihm vorwarf, zu lange an der Pipeline Nord Stream 2 festgehalten und auch sonst zu russlandfreundlich gewesen zu sein.

Das Echo war gewaltig, und in Berlin ist es ein offenes Geheimnis, dass Steinmeier kurz vor dem Rücktritt stand. Es ist in der Geschichte der Diplomatie wohl einmalig, dass ein Staatsoberhaupt sich nach verbalen Angriffen eines Botschafters eines fremden Landes entschuldigen muss. Der Bundespräsident erklärte, sein Festhalten an der Pipeline Nord Stream 2 sei ein Fehler gewesen, und in seiner Einschätzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin habe er sich geirrt. Mühsam redete sich der Präsident mit der Bemerkung heraus, der Putin des Jahres 2001 sei nicht mehr der des Jahres 2022.

Auch andere deutsche Regierungsmitglieder mussten sich schon harte Kritik von Melnyk gefallen lassen, zum Beispiel Finanzminister Christian Lindner (FDP), der zögerlich auf die Forderung nach mehr Waffen für die Ukraine reagiert hatte. Kritik erfuhr auch die Berliner Bürgermeisterin Giffey (SPD), weil sie eine Demonstration von Russen in Berlin nicht verboten habe. Die russischen Demonstranten hatten gegen die immer weiter um sich greifende Diskriminierung protestiert. Dass es in der Bundesrepublik ein Demonstrationsrecht gibt, war dem ukrainischen Botschafter offenbar entgangen. Er kann sagen, was er will: Es hat für ihn keine Konsequenzen. Wenn ein deutscher Politiker es gewagt hätte zu sagen: „Alle Russen sind gerade unsere Feinde“ – es wären unzählige Anzeigen wegen Rassenhass auf den deutschen Politiker niedergeprasselt, ein Rücktritt wäre wahrscheinlich gewesen. Melnyk hat diesen Satz in einem Interview in der FAZ gesagt. Es passierte nichts. Der verbreitete Hass auf Russen fällt auf fruchtbaren Boden. Die Direktorin der Uni-Klinik München erklärte in einem Schreiben: „Aufgrund der schweren Menschenrechtsverletzungen durch den geistesgestörten Putin lehnen wir grundsätzlich die Behandlung russischer Patienten ab“ (zitiert nach Steingarts Morning Briefing). Das Schreiben wurde zurückgezogen, Russen werden wieder behandelt. 

Unvergessen sind für politische Beobachter die Szenen, als Melnyk auf der Diplomaten-Tribüne des Bundestages wenige Tage nach Beginn der militärischen Auseinandersetzung in der Ukraine stürmisch von den Abgeordneten begrüßt worden war. Offenbar wussten die deutschen Abgeordneten nicht, wem sie da applaudierten. Es gibt nur wenige Zeitungen in Deutschland, in denen auch Artikel abseits der Jubelarien für die Berliner Regierung zu lesen sind. So befasste sich in der Süddeutschen Zeitung der eigentlich schon im Ruhestand befindliche frühere Innenpolitik-Chef Heribert Prantl mit der Person Melnyk und stellte offen die Frage, ob der Botschafter nicht die falschen Vorbilder habe.

Prantl erinnerte in seinem Artikel daran, dass Melnyk im Jahr 2015 als Botschafter das Grab des ukrainischen Partisanenführers und Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera in München besucht und dort Blumen niedergelegt habe. Auf Twitter ließ er damals wissen, dass Bandera „unser Held“ sei. Prantl nennt diesen Personenkult befremdlich. Bandera sei verurteilter Mörder des polnischen Innenministers Bronislaw Pieracki im Jahr 1934. Er sei einer der Anführer des radikal antisemitischen Flügels der Organisation ukrainischer Nationalisten gewesen. Dieser Flügel habe nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Lemberg die Polizeigewalt übernommen und sich an Pogromen gegen die jüdische Zivilbevölkerung sowie an der Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener beteiligt. Allerdings waren die Nazis gegen Banderas Versuch, damals schon einen ukrainischen Staat auszurufen und schafften ihn ins KZ Sachsenhausen, woher er aber als Hitlers „Ehrenhäftling“ bessere Bedingungen als andere Gefangene bekam. Bandera lebte nach dem Zweiten Weltkrieg in München und wurde 1959 nach Feststellung des Bundesgerichtshofs im Auftrag des KGB ermordet.

Noch 2015 hatte die Bundesregierung Melnyk in die Schranken gewiesen. Nachdem der Besuch am Grab Banderas bekannt geworden war, erklärte der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth: „Die Bundesregierung verurteilt die von der Organisation ukrainischer Nationalisten, OUN, teilweise unter Leitung Banderas begangenen Verbrechen an polnischen, jüdischen und ukrainischen Zivilisten und Amtsträgern. Dabei ist sie sich bewusst, dass ein erheblicher Anteil an diesem Verbrechen in Kollaboration mit deutschen Besatzungstruppen begangen wurde.“. Heute lässt die Bundesregierung Melnyk gewähren, und in der Stuttgarter Zeitung werden die Angriffe auf den Bundespräsidenten sogar als „diplomatischer Volltreffer“ gewürdigt.

Während die ungarische Regierung Melnyks dortigen Botschafterkollegen ins Außenministerium in Budapest einbestellte und ihn ermahnte, die ukrainische Regierung solle mit der Beleidigung Ungarns aufhören, schweigt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu den Umtrieben des Diplomaten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bilanzierte traurig: „Schon lange hat man die deutsche Politik nicht mehr so getrieben gesehen - von den Ereignissen und von anderen Ländern. Oppositionsführer ist der ukrainische Botschafter und der nimmt sich heraus, die höchsten Repräsentanten des deutschen Staates völlig undiplomatisch zu beschimpfen. So kann es gehen, wenn man jahrelang die Augen vor der Realität verschließt.“ 

Man kann das auch drastischer formulieren: Die Berliner Regierungs-Dilettanten haben geglaubt, dass ihre Nachbarländer sie allesamt lieb haben würden wie die Kinder in einer Kita-Gruppe. Doch Politik ist kein Kindergarten, und Politiker, die die geopolitische Situation ihres Landes nicht mehr begreifen, sind auch nicht in der Lage, ihr Land zu schützen.

BILD- STEPAN BANDERA

Von den großen europäischen Industrienationen liegt Deutschland Russland am nächsten. Die kurzen Handelswege und kurzen Wege für Energielieferungen waren ein kaum zu überschätzender Vorteil für die deutsche Wirtschaft. Nach und nach werden die Wege nach Russland und von Russland mit Sanktionen versperrt. Grund sind Bilder im Kriegsgebiet, ob sie nun echt sind oder nicht, die dafür sorgen, dass sämtliche Schwüre, man dürfe die Verbindung nach Russland nicht komplett kappen, inzwischen nicht mehr gelten. „Ein Energie-Embargo ist nicht nur möglich, es ist geboten“, fordert der Grünen-Politiker Anton Hofreiter. Das Europa-Parlament verlangte inzwischen auch ein komplettes Energie-Embargo, und es stellt sich die Frage, wann die Bundesregierung einem kompletten Energie-Embargo zustimmen wird.

Seit Ausrufung der „Zeitenwende“ in Berlin durch Kanzler Olaf Scholz (SPD) wechseln die politischen Positionen wie das Wetter. Erinnert sei daran, dass die Regierungsparteien SPD und Grüne stets jede größere Erhöhung des deutschen Verteidigungsetats abgelehnt hatten. Jetzt gibt es 100 Milliarden Euro für neue Waffen. Anfangs wollte man noch keine Waffen in die Ukraine liefern, dann lieferte man alte Waffen aus DDR Beständen (zum Teil unbrauchbar), jetzt soll es schon der Bundeswehr-Schützenpanzer Marder werden. Die NATO macht Druck und will Kampfpanzer aus tschechischen Beständen in die Ukraine schicken – mit deutscher Zustimmung. 

Bei den Energieimporten preschte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor und brachte das Importverbot für russische Kohle auf den Weg. Der im Stil einer Gouvernante agierenden von der Leyen ist es offenbar völlig egal, dass Deutschland für seine Industrie und Kraftwerke jetzt Kohle zu überhöhten Preisen auf dem Weltmarkt einkaufen muss. Und andere Länder wie Polen machen Druck, auch den Import von Gas aus Russland zu unterbinden, was Deutschland noch härter treffen würde. Jetzt rächt es sich, dass die deutsche Regierung den polnischen Nachbarn wegen dessen angeblicher Demokratiedefizite regelmäßig zu kritisieren pflegt. In Berlin darf man sich nicht wundern, dass die polnische Regierung so reagiert, wie sie reagiert. 

EU-Ratspräsident Charles Michel erklärte, er halte einen Importstopp von russischem Öl und Gas für unumgänglich, um den Krieg zu beenden. Das würde Deutschland in die schwerste Wirtschaftskrise seit 70 Jahren stürzen. Schon jetzt ist die Inflation so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr; der wichtigste Industriezweig, die Autoindustrie, ist im März in eine tiefe Krise gestürzt, und für ihre Zukunft sieht die Autobranche schwarz. Transportpaletten sind in Deutschland kaum noch zu haben, weil die zur Herstellung erforderlichen Nägel aus Stahl hergestellt werden, der aus Russland kommt, aber wegen des Embargos nicht mehr geliefert werden darf.

Welche Gefahr Politiker für ihre Völker darstellen, die blinden Aktionismus mit Staatskunst verwechseln, zeigt ein Blick in die Geschichte. 1914 stürzte die Welt nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo in einen Krieg. Auch damals hatten die europäischen Regierungen erst agiert, dann reagiert und schließlich die Kontrolle über die Situation verloren. Viele kleine Schritte führten zu grundlegenden Veränderungen und schließlich direkt in den Weltkrieg. Im nächsten großen Weltkrieg war es ähnlich: Hatte nicht der amerikanische Präsident Roosevelt seinen Bürgern und Wählern versprochen, die USA aus den Zweiten Weltkrieg herauszuhalten? Schließlich kämpften und starben US-Soldaten an allen Fronten. 

Bei Politikern wie Kanzler Scholz und Baerbock ist die Gefahr von Unfällen und Kontrollverlusten durch ihren Aktionismus nicht auszuschließen. Bisher will man die NATO aus dem Krieg in der Ukraine heraushalten, doch was ist, wenn auch das nächste Embargo-Paket unwirksam bleibt? Kommt dann die Flugverbotszone? Die angebliche Selbstbeschränkung der NATO ist nichts anderes als eine Illusion. Es besteht die Gefahr, dass die Berliner Regierung mit kleinen Schritten in die große Katastrophe schlittert. Schon warnt Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, vor einer „Kriegseuphorie“ in Deutschland: „Wir Deutschen neigen leider bekanntlich zu Extremen.“

Unabhängig davon, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht – ein Verlierer steht schon fest: Die Bundesrepublik Deutschland. EU-Kommissionschefin von der Leyen zeigte sich bei einem Besuch in Kiew wie gewohnt großzügig und überreichte Selinskyj einen Wunschkatalog, in dem dieser ankreuzen konnte, was die Ukraine für den Wiederaufbau braucht. Man darf sicher sein, dass Zelensky alles angekreuzt und noch zusätzliche Positionen angefügt haben dürfte. Bezahlen darf den Wiederaufbau der Ukraine nach dem EU-Finanzverteilungsschlüssel vorwiegend Deutschland, das ohnehin am meisten unter den EU- und US-Sanktionen leidet. Die anderen EU-Mitglieder sind zwar für mitfühlende Worte, aber auch zugeknöpfte Taschen bekannt. 

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