Von Helmut Roewer
In meiner Nachbarschaft wohnt eine ältere Dame, Ingrid Timpel, die seit Jahr und Tag schreibt: Akribische Tagesnotizen und einen Lebensbericht. Aus diesem Bericht gebe ich hier ihre Notate zum 29. April 1945 unverändert und unkommentiert wider. Oder doch nicht ganz. Mein Rat an alle, die derzeit zum Krieg aufrufen: Fragen Sie möglichst bald bei denjenigen nach, die den Krieg erlebt haben. Ein weiterer Rat: Beeilen Sie sich.
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Am 29. April 1945 vor 77 Jahren, war der Tag, an dem mein Leben aus den Fugen geraten ist.
Im Jahr 1945 war der Winter lang und sehr kalt. Wir Kinder, mussten Holz und brauchbaren Abfall sammeln, um die Stube warm zu bekommen.
Wir wohnten in Neubrandenburg, einer schönen norddeutschen Stadt mit einer geschlossenen Stadtmauer und vier Toren. Unser Haus stand in der Neutor Straße 32, direkt an einem der vier Tore.
Vor allen vier Toren, so auch vor unserem, dem „Neuen Tor“, errichtete man große Panzersperren, in der Hoffnung, die anrückenden Russen aufhalten zu können.
Später berichteten die Leute, die Panzer wären mit Leichtigkeit über die Sperre gefahren und dann rein in die Stadt.
Am 29. April 1945 begann unsere Flucht. Der Russe stand unweit vor den Toren unserer Stadt. Von fern hörte man es donnern und krachen. Meine Mutter machte sich mit drei kleinen Kindern auf den Weg.
Tage zuvor hatte meine Mutter wichtige Dinge in einem Koffer verstaut um sie zu vergraben: Silberbestecke, von Paten für uns Kinder, wichtige Unterlagen, der Neue Ulster unseres Vaters, zuletzt oben drauf ein Bild von der Konfirmation meines Bruders Max. Zuerst musste ein tiefes Loch im Rondell im Garten geschaufelt werden. Die Nachbarin schaute zu und fragte: „Können Sie nicht die SS-Uniform meines Mannes mit eingraben?“ So geschah es, im Jahr 1945. Später erfuhren wir, die Russen hätten mit ihren Bajonetten in den Gärten herumgestochert und alles gefunden.
Der Wehrmachtsgeneral - Oberst Remer hatte die Verteidigung der Stadt befohlen.
In der Folge wurde die Innenstadt zu 90 Prozent von der Russischen Armee zerstört.
Die Angst vor den Russen war so groß, dass viele hundert Frauen sich mit ihren Kindern im nahen Tollense See ertränkten. Auch eine Tante von uns hatte sich mit ihren vier Kindern ertränkt. Meine Cousine, Renate, war 18 Jahre, auch sie wurde von den Russen vergewaltigt.
Meine Mutter, wollte aus unserer Heimatstadt nicht fort, nicht fort von unserem zu Hause. Einmal hieß es, es können ja auch die Weißrussen sein, die tun uns nichts, sie sind nicht so grausam wie die Rotarmisten. Und die V 2 soll kommen! Meine Mutter sagte zu mir, ich kleide dich als alte Frau an und schwärze dein Gesicht! Die Menschen wollten in ihrer Not an all diese Dinge glauben.
Ich hörte ein Gespräch: Die Nachbarin von nebenan war bei uns: „Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Ahlgrimm, wenn es sein muss, ich habe Giftspritzen für alle.“ Sie hatte vier kleine Jungen. Von dieser Stunde an ließ ich meiner Mutter keine ruhige Minute mehr: „wir müssen fort.“
Der Geschützdonner kam immer näher. Einen Tag vor der Flucht bekam jede Familie noch 30 Eier, zu spät, viel zu spät. Wer sollte und konnte sie jetzt noch essen. Das Mittagessen, gebratener Hering, stand auf dem Herd. Meine Mutter holte noch die Fahrkarten, 37 Mark nach „Nirgendwo.“ Keiner wusste, wohin die Reise ging.
Es ging ein Aufruf an die Bevölkerung von Neubrandenburg, die Stadt sofort zu verlassen. Es fährt ein letzter Zug - ein Güterzug nach Nirgendwo - niemand wusste genaueres. Es sprach sich wie ein Lauffeuer herum.
Es blieb keine Zeit für einen Abschied von unserer Oma. Wir sollten sie nie wiedersehen. Sie starb im April 1947 an Hungertyphus. Sie saß am Ende vor den Trümmern ihres Hauses und konnte die Welt nicht mehr verstehen.
In großer Eile packte Mutter das Nötigste in den Rucksack. Die wichtigen Papiere und einige Fotos hatte sie in ihrer Tasche verstaut. Natürlich nahm ich meinen neuen Schulranzen und den Füllfederhalter mit. Mutter schloss die Haustür ein letztes Mal zu. Insgeheim dachte, hoffte sie, wir kommen bestimmt bald zurück. So zogen wir drei Kinder mit unserer Mutter los zum Bahnhof. Die Dunkelheit brach herein, meine Geschwister 6 und 3 Jahre waren müde, sie hatten Angst - und weinten.
Pünktlich um 21.30 fuhr der Zug ein. Es waren oben offene Güterwagen. Wir Kinder kauerten in einer Ecke auf der Erde, und rückten eng zusammen - es war sehr kalt in der Nacht. Mutter nahm die Decke und legte sie um uns herum, danach stellte sie sich schützend vor uns. Über uns flogen die Geschosse, es knallte und krachte überall. Der Himmel erhellte sich über uns vom Feuer - der brennenden Häuser -es wollte einfach nicht aufhören.
Es wurde langsam hell, der neue Tag brach an. Wir weinten und froren schrecklich.
Nach einiger Zeit - es kam uns ewig lange vor, denn der Zug fuhr langsam, hielt der Zug in Güstrow. Der Schaffner meinte, wer jetzt aussteigt, kommt nicht mehr weg. Der letzte Zug ist für unser Personal.
Über uns der Sternenhimmel und in der Ferne sah man Leuchtkugeln am Himmel. Wir schliefen auf der Erde im Zug ein. So ging die Fahrt weiter wir waren 2 Tage und Nächte unterwegs. Dann erreichten wir Lübeck.
Endlich angekommen brachte man uns in einer Schule unter. Sie sollte in den nächsten Wochen, mit vielen Hunderten Menschen, unser neues zu Hause sein. Viele, sehr viele Menschen, lebten und schliefen auf dem Fußboden in einem Raum.
Der Hunger und die Läuse waren unsere ständigen Begleiter. Die Läuse waren so nach und nach weg. Aber der Hunger ist für sehr, sehr lange Zeit geblieben. Es war niemand bereit sein Brot mit uns zu teilen, oder uns ein Kleidungsstück zu geben.
Später, viel später haben wir erkannt und begriffen welch ein Glück wir noch hatten.
Wir hatten alles aber auch alles verloren und führten zeitweise ein menschenunwürdiges Lebens, aber wir mussten nicht die Grausamkeiten, und die Entwürdigungen durch die Russen ertragen.
Am 29. April 1945 vor 77 Jahren, war der Tag, an dem mein Leben aus den Fugen geraten ist.
©Helmut Roewer/Ingrid Timpel, April 2022
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