Versailles als immerwährende Drohung

Von Willy Wimmer

In wenigen Tagen wird sich der deutsche Bundeskanzler auf den Weg zunächst nach Kiew und dann nach Moskau machen. Er sollte sich fragen, ob er sich mit dieser gewählten Reiseroute einen Gefallen tut. Besser noch wäre es, wenn er sich fragen würde, ob das deutschen Interessen dient und die können in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz nur in der Wahrung des Friedens bestehen. Eine Reise nach Moskau sollte so ablaufen, wie der französische Präsident Macron es vor wenigen Tagen vorgemacht hatte und wie es den internationalen Gepflogenheiten entspricht. Das hätte sich auch die deutsche Außenministerin merken sollen, anstatt in voller Kriegsbemalung sich an eine Kontaktlinie zu begeben und Gefallen daran zu finden, einseitig wahrgenommen zu werden. Es dient Deutschland nicht, wenn der deutsche Bundeskanzler schon beim Besuch in Moskau wie "eine politische und diplomatische Fehlfarbe" daher kommt. Deutschland sollte das auch bei der grünen Außenministerin nicht durchgehen lassen. Die Dame ist nicht Außenministerin einer internationalen Koalition von Nicht-Regierungsorganisationen, wie jüngste Personalentscheidungen zusätzlich deutlich machen.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz muss ohnehin aufpassen. Er wird mit seinem Besuch im eigenen Land und international, aber ganz gewiss auch in Moskau, an dem überaus eindrucksvollen Besuch des französischen Präsidenten Macron gemessen werden. Präsident Macron trat in Moskau so auf, als wäre ihm die Erinnerung an einen der "Väter Europas", dem ehemaligen französischen Präsidenten, General de Gaulle, sehr wohl bewusst. Macrons Botschaft in Moskau war glasklar: die bestehenden internationalen Formate in Europa und zwar kontinentübergreifend, müssen wieder mit Leben erfüllt werden. Ein Leben übrigens, das bis in die OSZE hinein, durch die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren geradezu abgesogen worden ist. Geradezu perspektivisch war allerdings seine in der Pressekonferenz mit Präsident Putin geäußerte Ansicht, die russischen Bedenken müßten nicht nur in aller Ernsthaftigkeit respektiert werden ,sondern zu einem völlig neuen internationalen Format in Europa führen, um die Zusammenarbeit friedensbezogen zu gestalten.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sollte sich nichts vormachen. Will er dem Treffen Macron/Putin entsprechen oder dem Bild, das sich für die ganze Welt in Washington geboten hatte? Seine freundschaftlichen Verbindungen zum französischen Präsidenten Macron sind sehr tragfähig. In Moskau wird sich herausstellen, ob sie jeder Belastung standhalten. Die Belastungsprobe wird darin bestehen, dass Olaf Scholz nur in einer Bekräftigung der von Präsident Macron in Moskau vorgestellten Perspektive Moskau wieder verlassen kann. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz muß bei seinem Besuch in Moskau "liefern" und das bedeutet deutsche Beiträge zu dem "Macron-Konzept für Frieden und Stabilität in Europa."
Es dürfte sich für Europa als Glücksfall herausstellen, dass in einer Lage, in der alles und jedes auf die Spitze getrieben wird, die beiden Persönlichkeiten, Präsident Putin und Präsident Macron, als erste sich zu einem ungewöhnlich langen Gedankenaustausch getroffen hatten. Wer sich sechs Stunden austauscht, der meint es ernst. Aber nicht nur das. Präsident Putin hat seit seiner berühmten Rede in St. Petersburg im Dezember 2019 über "Versailles 1919 und die Folgen für Europa und die Welt" sein fulminantes historisches Verständnis für den Frieden in Europa deutlich gemacht. Gut ein halbes Jahr später hat der französische Präsident Macron deutlich gemacht, wie er die Verantwortung Frankreichs für das historische Scheitern von "Versailles" bewertet und das alles unternommen werden müsse, daraus für die Zusammenarbeit in Europa Konsequenzen zu ziehen. Das war so ganz anders als die Kriegsschud-Bestimmungen, die auf amerikanischen Druck und durch amerikanische Beauftragte  "Versailles 1919" geradezu toxisch verunstaltet hatten. Wer "Versailles 1919" in Europa vermeiden will und seine Werte nicht auf das Spiel setzt, der kommt an dem nicht vorbei, was Präsident Macron auf der Pressekonferenz mit Präsident Putin gesagt hatte. Dieses historische Fundament für heutiges politisches Tun ist der Maßstab für das, was der deutsche Bundeskanzler kommende Woche in Moskau sagt.
Die Dramatik der Abläufe sieht man daran, dass von amerikanischer Seite alles unternommen wird, den auf Konfliktlösung ausgerichteten Gesprächsansatz des französischen Präsidenten Macron in der Luft zu zerreißen, bevor sich das Macron-Konzept sich so richtig festgesetzt hat. Anders kann man die gerade jetzt losgetretende Diskussion in den USA über die Lieferung gerade der problematischen Raketensysteme, die u. a.in Rumänien auf Russland gerichtet sind, in die Ukraine nicht bewerten. In Washington zieht man die Glacé-Handschuhe aus und will diese Raketensysteme möglichst nahe an die russisch-ukrainische Grenze verlegen. Der deutsche Bundeskanzler sollte sich darüber im Klaren sein, dass sein Besuch in Moskau nur bedeuten kann, das Konzept von Präsident Macron mit deutschen Überlegungen anzureichern. In Moskau steht für Europa sonst noch ganz anderes auf dem Spiel als der europäische Frieden.

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