Von Hans-Georg Münster
Im alten Rom gab es den Kaiser Caligula (Stiefelchen), der als Kind in viel zu großen Soldatenstiefeln herumgelaufen war und daher diesen Namen trug. Rund 2000 Jahre später erinnert in Deutschland Kanzler Friedrich Merz an diesen römischen Kaiser. Merz ist der Mann, dem die Stiefel der Macht zu groß sind und der in den nächsten Krieg hineinzustolpern droht. Die Idee von Merz, den Marschflugkörper „Taurus“ künftig in der Ukraine herstellen zu lassen, ist der Casus belli für Moskau. Das hat der deutsche Kanzler offenbar nicht begriffen.
Denn die Zusage von Merz beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyi in Berlin am Dienstag (28. Mai 2025) zur gemeinsamen Produktion weitreichender Waffen in der Ukraine bedeutet im Ergebnis nichts anderes als die Verlagerung der „Taurus“-Produktion in die Ukraine – offenbar soll damit der Eindruck eines direkten deutschen Kriegseintritts vermieden werden. Die Entwicklung eines völlig neuen Waffensystems würde etliche Jahre dauern. Daher macht nur ein Joint-Venture zwischen ukrainischen Rüstungsbetrieben und dem deutschen Taurus-Hersteller MBDA in Schrobenhausen (Bayern) Sinn. Die Konstruktionspläne und Bauteile, die in der Ukraine nicht selbst gefertigt werden können, würde MBDA zur Verfügung stellen. Die Ukraine würde damit ein Waffensystem mit einer Reichweite von über 500 Kilometern Reichweite in die Hände bekommen, das auch schwer verbunkerte Ziele angreifen und vernichten kann.
Die Bundeswehr müsste die Schulung ukrainischer Soldaten übernehmen, damit die Waffe (die natürlich nicht Taurus heißen würde) erfolgreich gegen Russland eingesetzt werden kann. Dass an eine deutsch-ukrainische Co-Produktion gedacht ist, wird auch daran deutlich, dass die Bundesregierung ab sofort keine Angaben mehr zu deutschen Lieferungen von Militärmaterial in die Ukraine machen will. Sonst könnte aus diesen Angaben auf den Aufbau einer Taurus-Produktion geschlossen werden.
Selenskyi dürfte symbolisch wichtige Ziele angreifen wollen: Dazu gehört neben der Krim-Brücke der Kreml in Moskau, der in Reichweite des Taurus liegen würde. Über andere weitreichende Waffensysteme verfügt die Bundeswehr nicht. Bundeswehr-Generalinspekteur Carsten Breuer hat zwar den „Aufbau der Fähigkeit zu sogenannten ,Deep Precision Strikes‘“ angekündigt. Das sind Präzisionsschläge gegen Ziele tief im feindlichen Gebiet. Doch dazu gibt es nur erste Vorüberlegungen. Vor 2029 ist mit der Realisierung eines solchen Systems nicht zu rechnen.
Wie unbeholfen Merz derzeit durch Europa und die Welt stolpert, machen seine Äußerungen zum Einsatz weitreichender Waffen gegen Russland durch die Ukraine in den letzten Tagen deutlich: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert worden sind“, hatte der Kanzler am vergangenen Montag in Berlin verkündet, was von der deutschen Presse sofort so interpretiert wurde, als habe Merz gerade eine zentrale sicherheitspolitische Hürde beseitigt und wolle eventuell in einem zweiten Schritt Taurus-Marschflugkörper an Kiew liefern. Doch weit gefehlt. Der angebliche Paradigmenwechsel entsprach längst der Praxis der westlichen Waffenlieferanten, die der Ukraine schon 2024 wegen ihrer zunehmend schwierigen militärischen Lage den Einsatz weitreichender Systeme (z.B. Storm Shadow mit 250 Kilometern Reichweite) auch jenseits ihrer Landesgrenzen erlaubt hatten. Das musste Merz einen Tag später bei einem Besuch in Finnland dann kleinlaut einräumen. Er erweckte damit den Eindruck, in Sicherheitsfragen nur unzulänglich informiert zu sein und allenfalls laienhafte Kenntnisse zu haben.
Noch immer hat Merz nicht begriffen, dass nur mit Verhandlungen ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine zu erreichen ist, auch wenn das mit der russischen Seite nicht einfach ist. Aber wer sich erinnert, wie erfolgreich die Abrüstungsverhandlungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion und die „Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa“ nach schwierigem Start und jahrelangen Fortschritten in kleinen Schritten schließlich doch waren, weiß, dass jede dauerhafte Lösung mit dem ersten Schritt beginnt. Merz praktiziert das Gegenteil: Es muss wie Musik in den Ohren von Selenskyi geklungen haben, als der Kanzler sagte: „Deutschland wird den Druck auf Russland erhöhen.“
Die Realität in dem Konflikt wird vom Kanzler offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Schon lange sehen deutsche Militärexperten wie der ehemalige Generalinspekteur Harald Kujat die Ukraine in einer kritischen Lage. Der österreichische Oberst Markus Reisner, einer der wenigen europäischen Militärs, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wies darauf hin, der Ukraine würden „die Soldaten ausgehen“. Entweder fallen sie bei den Kämpfen oder setzen sich ins westliche Ausland ab, bevorzugt nach Deutschland, wo inzwischen bis zu eineinhalb Millionen Ukrainer mit großzügiger staatlicher Unterstützung ein angenehmes Leben führen. Besonders bemerkenswert ist eine Analyse der amerikanischen Großbank JP Morgan Chase. Sie geht davon aus, dass es in diesem Jahr gravierende Entwicklungen in der Ukraine geben werde. „Da Europa die Waffen ausgehen, der Ukraine die Kämpfer ausgehen, die USA die Geduld verlieren und die transatlantische Einigkeit schwindet, wird Präsident Selenskyj wahrscheinlich gezwungen sein, irgendwann in diesem Jahr eine Verhandlungslösung mit Russland zu akzeptieren, die die Kämpfe einfriert, aber kein umfassendes Friedensabkommen darstellt“, heißt es in der Analyse, die ein bisher weitgehend verschwiegenes Thema aufgreift: Die europäischen Waffenarsenale sind offenbar weitgehend leer. Die Kapazitäten reichen für den Bedarf der ukrainischen Truppen bei weitem nicht aus.
Hinzu kommt ein weiteres Problem für Deutschland und andere Länder der selbsternannten „Koalition der Willigen“: Ihre Kassen sind genauso leer wie ihre Waffenarsenale. Das ist der wahre Grund, warum der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Norbert Röttgen jetzt direkt nach dem eingefrorenen russischen Auslandsvermögen greifen will: „Es sind insgesamt 300 Milliarden Euro an russischem Staatsvermögen eingefroren worden, davon rund 250 Milliarden in Europa", sagte der CDU-Politiker. Das russische Staatsvermögen sollte beschlagnahmt und für die Ukraine verwendet werden. Auch Merz hatte bereits erklärt: „Wenn es eine Möglichkeit gibt, das Geld auf sauberer juristischer Grundlage zu mobilisieren, werden wir es tun.“ Der Berliner Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) will ebenfalls an das russische Geld: „Aus meiner Sicht sind das exakt die Punkte, die Russland natürlich wirklich wehtun würden und damit auch die Wirkung entfalten, die wir mit den Sanktionen eigentlich beabsichtigen.“ Offenbar haben die Berliner Politiker ausgeblendet, dass es nur im Kriegsfall üblich ist, Vermögen des Feindes einzuziehen. Der Griff nach dem russischen Geld könnte sehr schwerwiegende Folgen haben.
Merz erinnert an einen uneinsichtigen Führer, der die Realität ausblendet: zu wenig Soldaten, zu wenig Waffen und zu wenig Geld. Er sollte daran denken, dass vermeintliche Wunderwaffen wie der Taurus das Kriegsglück genauso wenig wenden werden wie die legendäre „V2“ am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Bilder: depositphotos/ wiki
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