Stand des Konfliktmanagements in der Ostukraine

Ganz generell hat Selenskyj innenpolitisch wenig erreicht

Von Rudolf Guljaew

Vor etwas mehr als einem Jahr trat der jugendlich wirkende Wladimir Selenskyj, der faute de mieux zum Präsidenten der Ukraine gewählt worden war, sein Amt an. Kritiker zweifelten schon damals an den Fähigkeiten des Schauspielers und Kabarettisten, das Land in schwierigen Zeiten zu führen und verunglimpften ihn als Clown. Im Interesse des Landes und der ganzen Region hätte man ihm Erfolg gewünscht, aber es schaut so aus, als behielten seine Kritiker recht: Die Zwischenbilanz der Präsidentschaft Selenskyjs vor der Urlaubssaison fällt schwach aus.

Ganz generell hat Selenskyj innenpolitisch wenig erreicht: Im Kampf gegen die Korruption fehlt der Durchbruch nach wie vor. Es gibt zwar jede Menge neuer Ämter und Einrichtungen, aber kaum Erfolge, sodass der Verdacht aufkommt, das sei alles nur Theater für die Bevölkerung und den Westen, von dem die Ukraine dringend weitere Finanzhilfen in Milliardenhöhe benötigt (1). Vorerst wird Selenskyj allenfalls noch mit dem neu angefachten Skandal um das ominöse Telefongespräch zwischen dem damaligen US-Vizepräsidenten Joseph Biden und Präsident Petro Poroshenko von der Realität ablenken können, aber weiterer Schaden für die Reputation der ukrainischen Justiz ist vorhersehbar (2).
Und der nächste Korruptionsskandal ist bereits im Anzug: Die ukrainische Anti-Korruptions-Behörde untersucht eine Ausschreibung für 71'000 Schutzanzüge während der Covid-19-Pandemie, mit welcher die Regierung zum ersten Mal ihre eigenen Beschaffungsregeln im Gesundheitssektor umgangen hat (3). Gerade das schwache, von Korruption geprägte Gesundheitssystem muss dem Präsidenten Sorge bereiten. Zwar weist die Ukraine momentan noch gute Zahlen im Kampf gegen die Verbreitung des Corona-Virus aus, aber das mag auch damit zusammenhängen, dass sie im Vergleich zur Bevölkerungszahl bislang nur wenige Tests durchführte: etwas mehr als die Dominikanische Republik, etwas weniger als Botswana und fast zehn Mal weniger als das benachbarte Russland, von dem man wohl keine Hilfe annehmen wird (4). Mit anderen Worten, die Ukraine ist in dieser Beziehung im Blindflug. Selenskyj hat zwar restriktive Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus ergriffen, aber das wird die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft weiter stark belasten (5).
Sanierungsfall Ukraine
Die Ukraine wird zu einem finanziellen Sanierungsfall für den selbst wirtschaftlich hart getroffenen Westen werden. Und in ihrer grenzenlosen Ratlosigkeit fordert die Ukraine nun von Russland Entschädigung für die angeblichen Behinderungen der ukrainischen Schifffahrt in der Meerenge von Kertsch (6), deren Kapazität nach wie vor nur zu weniger als der Hälfte ausgenutzt wird. Den Zwischenfall vom 25. November 2018 hatte der damalige noch-Präsident Poroshenko aus innenpolitisch-taktischen Gründen provoziert. Die Flaute der Wirtschaft im Südosten des Landes rührt wohl auch daher, dass die Kunden aus dem benachbarten Russland mittlerweile ausbleiben. Gerade im Hafen und in den Werften Mariupols spürt man das deutlich.
Wie hoch Selenskyj das Wasser steht, zeigte die Idee der Ernennung des ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili zum stellvertretender Regierungschef mit Zuständigkeit für die Reformpolitik und Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds IWF (7). Hier folgte die Verkhovna Rada für einmal dem Präsidenten nicht. Mit der Ernennung Saakaschwilis zum Vorsitzenden der Reformkommission verärgerte Selenskyj auch prompt Georgien, das vorläufig seinen Botschafter aus Kiew abberief (8).
Keine Umsetzung der Minsker Abkommen in Sicht
Aber das größte Versprechen an seine Wählerschaft, die Beendigung des Kriegs im Donbass, löste Selenskyj bislang auch nicht ein (9). Im Gegenteil, in dieser Beziehung ist wenige Monate nach dem Amtsantritt Selenskyjs eher ein Rückschritt eingetreten: Gelang es in früheren Jahren in der Trilateralen Kontaktgruppe jeweils, zu Beginn der Schulferien, der Erntesaison, zum Schulbeginn, zu den orthodoxen Neujahrs- und Weihnachtsfeierlichkeiten, sowie zum Osterfest eine weitgehend funktionierende Waffenruhe zu vereinbaren, so scheiterten solche Versuche bislang. Diese Initiativen brachten in früheren Jahren zwar nicht den erhofften Durchbruch, verschafften der geplagten Bevölkerung im Konfliktgebiet aber wenigstens in der Regel um die 14 Tage Ruhe. Nicht einmal die Gefahr, dass viele der Soldaten beider Seiten an Covid-19 erkranken könnten, brachte die Konfliktparteien dazu, ihre Kräfte von der Front zurückzuziehen. Die Entflechtung der oftmals sehr nahe gegenüberliegenden Truppen in drei Zonen untergeordneter militärischer Bedeutung gelang zwar, aber mittlerweile bauen beide Seiten ihre Stellungen in diesen Entflechtungszonen wieder aus, verlegen Minen und verletzen den Waffenstillstand. Dort ist alles bereit für die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen.
Ein Abzug der schweren Waffen von der Front gelang auch nicht: Täglich berichtet die Special Monitoring Mission (SMM) der OSZE von schweren Waffen in der Sicherheitszone. Seit Anfang Mai verlegte die ukrainische Armee fünf Mal schweres Gerät, teilweise in Bataillonsstärke, via die Bahnhöfe von Druzhivka, Bakhmut, Kostiantynivka und Zachativka in die Konfliktregion (10) . Auch das Verbot des Verlegens neuer Minen wird auf beiden Seiten nicht eingehalten. Das bezieht sich nicht nur auf Panzerminen, sondern auch auf Personenminen, die eigentlich nach Ottawa Abkommen schon längst hätten vernichtet werden müssen. Am schwersten wiegt aber, dass die ukrainischen Regierungstruppen regelmäßig Wohngebiete beschießen. Gerade am 22. Mai ging die OSZE wieder einem solchen Fall nach, bei dem eine 25jährige Frau am 9. April bei Horlivka durch Granatsplitter getötet worden war (11). Die ukrainischen Regierungstruppen werden es wohl auch schwer haben, die Verantwortung für den Beschuss von Berezivske am 15. Mai, Syhnalne am 8. Mai, sowie Staromykhailivka, Sakhanka und Oleksandrivka am 7. Mai von sich zu weisen (12): Die Erzählungen von false flag-Aktionen der Rebellen sind doch schon zu abgegriffen.
Und so bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als immer wieder die Volksrepubliken von Donetsk und Luhansk, sowie Russland an den Pranger zu stellen, weil an Checkpoints der Volksmilizen die Patrouillen der SMM fast täglich an der Weiterfahrt in bestimmte Gebiete gehindert werden. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesen Einschränkungen und der Fortsetzung der Kampfhandlungen herzustellen, gelang der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten allerdings noch nicht, denn die betroffenen Checkpoints und die "Hotspots" der Waffenstillstandsverletzungen liegen teilweise weit auseinander: An den Hotspots in Horlivka (Gorlovka), Svitlodarsk (Svetlodarsk), Zolote (Zolotoe) und im Nordwesten der Stadt Donetsk vermeldet die SMM so gut wie nie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ihrer Beobachter. Derzeit sind die Übergänge über die Frontlinie generell geschlossen – eine Maßnahme beider Seiten in Zeiten der Covid-19-Krise (13).
Ohne Amnestie keine Reintegration
Ein Gesetz über Begnadigung und Amnestie im Zusammenhang mit der Rebellion seit 2014 wurde in der Verkhovna Rada noch immer nicht beschlossen (14). Damit müssen all jene, die im Dienst der Volksrepubliken von Lugansk oder Donetsk stehen, inklusive Ärzte, Krankenpfleger, Lehrer, Feuerwehrleute und andere immer noch fürchten, als Hochverräter angeklagt zu werden. Bei dem zweifelhaften Ruf, den die ukrainische Justiz genießt, wird das wohl keiner riskieren. Das gilt in noch höherem Masse für Polizeibeamte und Soldaten der Volksrepubliken, die grundsätzlich als Okkupanten bezeichnet werden, denn – so die Logik der ukrainischen Nationalisten – wer russischer Muttersprache ist und in der Armee der Volksrepubliken dient, ist ein russischer Söldner. Auf dieser Basis wird auch nie eine Übereinkunft betreffend den Abzug aller fremden Kämpfer und Waffen vom Hoheitsgebiet der Ukraine zustande kommen, wie die Minsker Abkommen sie fordern. Die Entwaffnung aller illegalen Gruppen wird scheitern, weil es keine Einigung über diesen Begriff geben wird. Aus Sicht der Ukraine ist alles ganz einfach: Wer nicht genügend Ukrainer im Sinne der Nationalisten ist, soll nach Russland verschwinden. Bei der geringsten Meinungsverschiedenheit erklären ukrainische Nationalisten Kritikern gerne, wie sie fortan zu handeln hätten: Chemodan, voksal, Rossiya – Koffer, Bahnhof, Russland (Чемодан, вокзал, Россия). So einfach ist das.
Wenigstens konnten in den letzten Monaten ein paar Austauschaktionen von Geiseln bzw. widerrechtlich festgehaltenen Personen durchgeführt werden. Das sind immer emotionale Ereignisse, die den Protagonisten etwas Sympathie bringen und als Zeichen des Willens zu konstruktiver Zusammenarbeit gewertet werden (15). Wirklichen Fortschritt bringen sie nicht, vor allem nicht in Zeiten, in denen Menschenrechte zur Munition im Informationskrieg verkommen.
Eine Verfassungsreform ist bislang nicht beschlossen worden, denn über den Inhalt des Begriffs "Dezentralisierung", der im Minsker Maßnahmenpaket verwendet wurde, herrscht Uneinigkeit (16). Einerseits hat die Ukraine keinerlei föderale Tradition und andererseits interpretieren die ukrainischen Oligarchen dieses Wort so, dass es ihnen erlaubt sein soll, ihre eigenen kleinen "Königreiche" zu etablieren, mit möglichst wenig Kontrolle aus Kiew. Ein weiterer Zerfall des Landes ist damit eine durchaus reale Gefahr.
Von einer Wiederaufnahme der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und den abtrünnigen Volksrepubliken von Donetsk und Lugansk kann gar keine Rede sein, in einem Jahr der Regierung Selenskyjs blieb die wirtschaftliche Blockade im Donbass bestehen wie unter Petro Poroshenko (17). Angesichts des Einflusses der Radikalen ist die ebenfalls vereinbarte grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Regionen Donezk und Lugansk mit den angrenzenden Regionen der Russischen Föderation, wie sie nach Reintegration der Volksrepubliken in die Ukraine gepflegt werden soll, in unrealistisch weite Ferne gerückt.
Ausbleibender Fortschritt
Nur Naivlinge konnten sich von der Wahl Selenskyjs wesentliche Verbesserungen erwarten. Und so diskreditiert sich die Süddeutsche Zeitung nur selbst, wenn sie die Schuld für das enttäuschende Abschneiden Selenskyjs, für "Krieg und Korruption" sofort im Kreml findet: Den Krieg auf Sparflamme weiterzuführen und die Ukraine geschwächt zu halten, bleibe das vorrangige Interesse des Kremls, so die Süddeutsche (18). Nachhilfe in Korruption brauchte die Ukraine noch nie, daran sind auch einige derer schuld, die heute in der Trilateralen Kontaktgruppe im Namen der Ukraine verhandeln. Der Westen sollte es der politischen und wirtschaftlichen Clique der Ukraine nicht so leicht machen, die Schuld für das eigene Versagen anderen in die Schuhe zu schieben. Und er sollte seine Glaubwürdigkeit wahren, indem er eigene Versäumnisse einräumt. Reformen wird es in der Ukraine noch lange nicht geben, das lässt das politische System nicht zu. Einen weiteren "Maidan" einer kriegsmüden Bevölkerung sollte man auch nicht erwarten, dazu ist die nationalistische Opposition zu gut organisiert und bewaffnet (19). Und eine Entwicklung des Landes wird es nicht geben, egal, wie viele Milliarden internationale Geldgeber noch ins Land hineinpumpen, denn sie werden alle im Sumpf der Korruption versinken. In diesem Licht betrachtet ist für manchen Ukrainer "Chemodan, voksal, Rossiya" eine echte Alternative. 

Anmerkungen:

  1. https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2061225-Selenskyjs-Honeymoon-ist-vorbei.html.

  2. https://www.heise.de/tp/features/Biden-Gespraechsmitschnitte-an-ukrainische-Generalsanwaltschaft-weitergeleitet-4725569.html.

  3. https://www.reuters.com/article/us-health-coronavirus-ukraine-suits-excl/exclusive-ukraines-anti-graft-bureau-probes-state-tender-for-medical-suits-idUSKBN231172?il=0

  4. https://www.worldometers.info/coronavirus/, Stand 25. Mai 2020.

  5. https://112.international/finance/ukraines-industrial-production-shows-decrease-by-almost-17-51558.html.

  6. https://www.unian.info/politics/fm-official-ukraine-to-demand-compensation-from-russia-caused-by-aggression-in-kerch-strait-11007821.html.

  7. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/posten-in-der-ukraine-saakaschwilis-naechste-wiederauferstehung-16744435.html; https://www.ft.com/content/8f163cc5-b7fe-4c78-b143-46c23a23048d.

  8. https://agenda.ge/en/news/2020/1634.

  9. Deutsche Übersetzung des Minsker Maßnahmenpakets, das als Anhang zu einem Beschluss des UN-Sicherheitsrates zu UN-Recht wurde, unter https://www.un.org/depts/german/sr/sr_15/sr2202.pdf.

  10. Vgl Daily Report der SMM 105 (04.05.2020) S. 11; DR 106 (05.05.2020) S. 8; DR 117 (18.05.2020) S./ 11; DR 123 (25.05.2020) S. 10, alle verfügbar unter https://www.osce.org/ukraine-smm/reports

  11. Vgl. SMM Daily Report 122 (23.05.2020) S. 4 und DR 93 (20.04.2020) S. 4.

  12. Siehe DR 117 (18.05.2020) S. 5; DR 122 (23.05.2020) S. 5; DR 110 (09.05.2020) S. 3

  13. Die Tagesberichte (Daily Reports) und Spot Reports sind auf der Homepage der OSZE verfügbar: https://www.osce.org/ukraine-smm/reports

  14. https://112.international/politics/ukrainian-authorities-refuse-to-implement-minsk-agreements-mp-50987.html.

  15. https://www.dw.com/de/ukraine-konflikt-erster-gefangenenaustausch-in-2020/a-53144048

  16. https://www.ukrinform.net/rubric-polytics/2857107-zelensky-withdraws-bill-on-constitutional-amendments-on-decentralization.html.

  17. https://112.international/politics/medvedchuk-lifting-economic-blockade-from-donbas-could-increase-gdp-by-26-50966.html.

  18. https://www.sueddeutsche.de/meinung/Selenskyj-ukraine-1.4912360.

  19. Siehe: https://www.belltower.news/illegaler-waffenbesitz-wie-kommt-die-rechtsextreme-szene-an-waffen-95731/. Das Bataillon "Azov" bildet deutsche Rechtsextremisten an Schusswaffen aus und rekrutiert neue Mitglieder in der rechtsextremen Szene: https://www.belltower.news/ukrainische-faschisten-miliz-rekrutiert-deutsche-neonazis-fuer-die-rueckeroberung-europas-44788/.

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