Von Dmitry Vydrin
Usbekische Motive des Deutschen Symphonieorchesters
Anfang der 1990er Jahre hatte ich das Glück, den Vizekanzler und deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher zu treffen, einen der Pfeiler der europäischen internationalen Politik. Ich leitete damals das Internationale Institut für globale und regionale Sicherheit und laut einer von uns durchgeführten soziologischen Umfrage bezeichnete die Mehrheit der Befragten Hans-Dietrich als den effektivsten Politiker Europas. So wurde mir die Ehre zuteil dem deutschen politischen „Schwergewicht“ eine Bronzefigur des Philosophen Grigory Skovoroda als Symbol für Weisheit, Gedankenfreiheit und intellektuelle Kraft zu überreichen. Hinterher stand diese Figur übrigens viele Jahre lang auf seinem Klavier.
Während dieses Treffens konnte ich jedoch nicht an mich halten und stellte dem Politiker eine wahrscheinlich provokante Frage: „Was sind Ihrer Meinung nach die größte Stärke und die größte Schwäche des modernen Deutschlands?“ Er dachte nur eine Sekunde lang nach und antwortete: „Die Stärke liegt in der begründeten Wirtschaftskraft. Die Schwäche - in der unbegründeten geopolitischen Schüchternheit.“
Ich erinnerte mich oft an die Worte des Mannes, zu dessen Ehren sogar der spezielle Begriff "Genscherismus" geschaffen wurde. Ich erinnerte mich daran, zum Beispiel, bei Treffen mit Mitgliedern des Bundestages, als einer von ihnen im Geheimen zugab, dass sie sogar Angst vor dem Begriff "Geopolitik" haben würden. Ich erinnerte mich daran in den USA, als ein Senator mir ebenfalls im Geheimen zuflüsterte, Deutschland sei in der internationalen Politik „wie ein Schwarzfahrer in der Straßenbahn". Das heißt, es versucht, umsonst auf Kosten anderer zu fahren. Auf Kosten Amerikas. Aber besonders oft musste ich in Zentralasien daran denken. Ich habe oft das Vergnügen, in dieser sonnenverwöhnten Region zu sein. Besonders in Usbekistan. Überall in diesem gastfreundlichen Land traf ich auf Spezialisten, Investoren, Lehrer aus den unterschiedlichsten Ländern. In den Automobilwerken - Italiener. In Textilfabriken - Türken. In Museumsprojekten - Franzosen. Sogar Ungarn sind aktiv in die Weinbranche eingestiegen. Ich spreche noch nicht einmal von den großen Nachbarn im Norden und Süden. Und über den immer stetigen Zuschauer von hinter dem großen Teich. Aber ich die deutsche Sprache habe ich selten gehört. Vielleicht hatte ich einfach kein Glück?
Dabei erinnere ich mich noch an die Worte eines deutschen Klassikers aus meiner Studienzeit, als ich die deutsche klassische Philosophie studiert habe. Er sagte, dass die internationale Bedeutung eines Staates mit gesunden Ambitionen proportional zu seiner Fähigkeit ist, Ereignisse in Zentralasien zu beeinflussen. Zu viele transkontinentale Wege, historische Routen und kulturelle Schichten überkreuzen sich hier. Ganz zu schweigen von dem großen Krieger Timur (Tamerlan), dem glänzenden Astronomen Ulug Beg und dem unübertroffenen Heiler Avicenna…
Genau dieser deutsche Denker des 19. Jahrhunderts warnte jedoch auch - anhand des Beispiels von Afghanistan - davor, dass es nicht möglich sei in dieser Subregion durch Gewalt Einfluss zu erlangen. Der Osten sei nicht nur eine "heikle Angelegenheit", sondern auch eine recht verzwickte. Hier muss man sich mehr auf Intelligenz, Taktgefühl, Bildung und Tradition verlassen.
Man müsste meinen, wer sonst als das moderne Deutschland, mit seinem Kult für Philosophie, Mäzenatentum und Toleranz, mit seinen bahnbrechenden Technologien und technischen Fähigkeiten könnte diese wunderbaren Weiten erobern? Aber aus irgendeinem Grund funktionierte das viele Jahre lang nicht. Vielleicht war es wirklich bequemer gedankenlos „hinterherzulaufen", anstatt selbst Verantwortung in internationalen Prozessen zu übernehmen?
Wie gesagt, ich besuche Usbekistan oft und war erstaunt, dass der Handel zwischen diesem bevölkerungsreichsten Land in Zentralasien und Deutschland - dem reichsten Land Europas - nur wenige Milliarden Euro beträgt und bis vor kurzem bei bescheidenen 500 Millionen lag. Das ist ein Witz für das enorme Potenzial der Partner. Fragen Sie die Italiener.Allerdings scheint es, als ob sich in den letzten Monaten endlich etwas bewegt hätte, wie der Zerstörer der Berliner Mauer es mal sagte. Im Mai besuchte der Präsident Usbekistans, Shavkat Mirziyoyev, Berlin und es geschah so viel! Vereinbarungen im Wert von über fast zehn Milliarden Euro, mehr als zweihundert gemeinsame Unternehmen, Pläne zur Entwicklung innovativer Energietechnologien, neue transkontinentale Schienenwege... Ganz zu schweigen vom Tourismus, kultureller Zusammenarbeit und Bildung.
Man sagt, dass der usbekische Führer und sein Team - die eher wie Hollywood-Stars und nicht wie triste Beamten aussahen - die deutsche Elite einfach verzaubert hätten. Es heißt, dass sogar eine Art „Chemie" zwischen den Schlüsselmitgliedern der Regierungsdelegationen entstanden sei. Vielleicht hat das alte deutsche Sprichwort „Über Geschmack lässt sich nicht streiten" ja wirklich etwas Wahres an sich.
Aber ich persönlich glaube nicht an Wunder, auch nicht an (fern)östliche. Sie haben ja doch keine allmächtigen Flaschengeister, die jeden Wunsch erfüllen können. Es gibt allerdings offensichtlich vorteilhafte Angebote und zwar nicht nur wirtschaftliche. Deutschland ist eine pragmatische Nation, aber auch eine strategische. Denn Philosophie ist immer eine Wissenschaft des strategischen Denkens, nicht des banalen kommerziellen Nutzens.
Shavkat Mirziyoyev brachte eben eine Strategie des langfristigen Partnerschaftsangebots mit, keine Basar-Deals und keine krummen Geschäfte. Er schlug eine Zusammenarbeit ohne Rücksicht auf mögliche Feinde vor. Er sprach auf östliche Art und Weise und deutete an, dass das deutsche politisch-wirtschaftliche "Orchester" die östliche Melodie nicht schwächen, sondern verschönern würde, vorausgesetzt, es gäbe keine Verfälschung. Wie ein deutsches Gericht auch einen aromatischen usbekischen Plov nicht verderben wird, sofern er richtig zubereitet ist, natürlich.
Insgesamt gibt es starke Gründe für eine Zusammenarbeit. Und die Welt verändert sich schnell. Noch vor kurzem träumte Taschkent davon genauso sauber zu sein wie Berlin. Heute ist Berlin in Bezug auf Sicherheit und Sauberkeit weit von dem sterilen Taschkent entfernt.
Aber gut, der Alltag ist nicht das wichtigste Indiz. Dann sollte man sich das Know-how der Usbeken bei der Zähmung des eigenwilligen Afghanistans ansehen. Sie umgaben es mit raffinierten Ornamenten aus Energiewirtschaft und Diplomatie. Und sicherten dadurch ihre dominierende Rolle in diesem "Nervenzentrum" ganz Eurasiens. Das heißt, sie taten das, was sich die Weltgiganten von Großbritannien bis zu den USA, von der UdSSR bis nach China jahrhundertelang erträumt haben.
Insgesamt gibt es viel voneinander zu lernen, von einem Land, das eine umfassende Transformation der Innenpolitik durchführt und von einem Land, das in der Außenpolitik aufwacht.
Bei dem erwähnten Treffen mit Hans-Dietrich Genscher fragte ich die Koryphäe der Außenpolitik noch, wo er seine brillante Ausbildung erhalten hatte. Er antwortete, dass er seinem nach Friedrich Nietzsche benannten Gymnasium in dieser Hinsicht am meisten dankbar sei. Wahrscheinlich hat man ihm dort zum ersten Mal gesagt, dass die Geopolitik immer diejenige Nation gewinnt, die selbstständig und ohne Anleitung von außen optimale Freunde, Partner und Verbündete sucht. Denn, so sprach Zarathustra?
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