Schlagt nach bei Willy Brandt: was tun in Europa?

Von Willy Wimmer

Es muss nicht immer Shakespeare sein, bei dem man für alle Eventualitäten gewiss fündig wird. Sicher ist nur, dass Shakespeare Garant dafür ist, das "Auf und Ab" der ultimativen Herausforderung darzustellen. Diese Herausforderung trifft derzeit unseren Kontinent und die Frage fegt wie ein Tsunami durch die Gegend, wie es denn nun weitergehen sollte. Die Dinge sind auf die Spitze getrieben. Das machen nicht zuletzt die Stellungnahmen auf dem Kreis der verlässlichen NATO-Trommler in unseren Breiten deutlich. Entweder sehen sie ein, was sie durch ihre bedingungslose Propaganda für die friedenszerstörende Politik der USA in den letzten Jahrzehnten angerichtet haben oder es ist eine der üblichen Finten. Der Umstand, daß seit Jahrzehnten ebenfalls keine freie Diskussion und politische Meinungsbildung in unseren Breiten mehr möglich war, macht es so schwer, darauf eine Antwort zu finden. Man erklärt öffentlich, in Anbetracht der von einem selbst geschaffenen Situation unbedingt aus der Eskalationsspirale aussteigen zu wollen. Sicher ist eines. Wenn es auch nur eine weitere Schraubenumdrehung mehr geben wird, könnte das auch für diejenigen das Ende bedeuten, die seit dem erzwungenen Weggang von Hans Dietrich Genescher im Frühjahr 1992 die Dinge in Europa auf westlicher Seite in die Hände genommen hatten.

Es klingt nach selbstverschuldeter Verzweiflung, wenn jetzt Anleihen bei der KSZE auf der ersten Hälfte der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gemacht werden. Diejenigen, die jetzt nach der KSZE rufen, sollten sich und die deutsche Öffentlichkeit eines fragen: was haben sie alles unternommen, um die gemeinsame Sicherheit zwischen Vancouver und Wladiwostok zugrunde zu reiten? Es ist derzeit die Frage nach der vergossenen Milch, die uns umtreiben muss bei dem, was an "Hass und Hetze" als Bestandteil unseren Politik auf dem gemeinsamen Kontinent angerichtet worden ist. In diesen Tagen wurde das bei der Brüsseler Pressekonferenz der EU-Führungspersönlichkeit, Frau Dr. Ursula von der Leyen und dem neuen deutschen Bundeskanzler, Herrn Olaf Scholz schlagartig und entlarvend deutlich. Man hat keine Antwort auf die rasant ablaufende Entwicklung in Europa. Frau Dr. von der Leyen stammelte verlegen etwas von "OSZE als Institution für Fragen der europäischen Sicherheit". Wer soll das glauben? Oder ist der EU-Spitzendame in Anbetracht der Gespräche der beiden Präsidenten Putin und Biden nichts anderes eingefallen? Dabei ist doch für alle sichtbar bei dem unwürdigen Spiel an der Spitze der OSZE von Jahresfrist klar gemacht worden, dass diese Sicherheitsorganisation "entkernt" werden musste, nachdem alle anderen Gesprächsformate mit Moskau bereits auf westliches Betreiben gekappt worden waren. Der aus der Schweiz stammende Generalsekretär der OSZE musste zugunsten einer deutschen NATO-Spitzendame aus dem Amt komplimentiert werden. In diesen Tage ist es sogar der auf die bekannte NATO-Linie gebrachten Presse in der Schweiz aufgefallen, dass nicht nur Herr Generalsekretär Gremmlinger gehen musste, sondern alle aus der Schweiz stammenden Fachleute. Zu grässlich schien bei den Betreibern dieser Charade die Vorstellung gewesen zu sein, dass faire Beurteilung als Gütesiegel aus der Schweiz in der Auseinandersetzung mit Moskau eben gerade nicht gewünscht sei. Sich gesprächsunfähig zu machen, schien für die Washingtoner Führung von allem doch das bessere Mittel zu sein. Dabei dürfte die Erinnerung an eine aus der Schweiz stammende Untersuchungsführerin in Sachen Georgien-Krieg 2008 noch in schlimmer Erinnerung gewesen sein. Die von ihr geleitete Untersuchung hatte nämlich zum Ergebnis, dass der "Olympia-Krieg" von Georgien und nicht von Russland losgetreten worden war. Man braucht sich nur vorstellen, was zum angeblichen russischen Truppenaufmarsch derzeit an der westlichen Grenze der Russischen Föderation durch neutrales Urteil aus der Schweiz das Ergebnis der Beurteilung hätte sein können. ARD und ZDF zumindest hätten die zur Verfügung stehenden Landkarten ihren alarmistischen Meldungen in Sinne Washingtoner PR-Agenturen beifügen müssen. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein seit langem zu beobachtendes durchgängiges Muster. Man hat alles an Gesprächskontakten mit Moskau gekappt, um die eigenen Behauptungen nicht einer normalen und auf Abkühlung ausgerichteten Beratung aussetzen zu müssen. So bereitet man Kriege vor und  dient nicht dem Frieden und dem Ausgleich.

Dabei müsste gerade bei der jetzigen Regierungsbildung in Deutschland es ehrenwert und geboten erscheinen, Anleihen bei Willy Brandt, dem Bundeskanzler der europäischen Vernunft, zu machen. Nein, weit gefehlt und das gleich auf zwei existentiellen Gebieten. Es bleibt einem im Halse stecken, wenn man bei Joe Bidens "Demokratie-Gipfel" dieser Tage an den Ausspruch von Willy Brandt denkt, nach dem "mehr Demokratie gewagt werden müsse". US-Präsident Joe Biden müsste in Anbetracht des zeitgleichen Vorgehens der angelsächsischen Demokratie-Spezialisten gegen Julian Assange doch eingeleuchtet sein, dass das amerikanische-britische Verhalten seit langem dazu beträgt, die Demokratie in Misskredit zu bringen. Es ist zu offensichtlich, in welchem Maße die angelsächsischen Mächte die eherne Prinzipien der Athener Demokratie außer Kraft gesetzt haben, weil ihre globale Herrschaft ohne dieses Aussetzen nicht mehr zu halten ist. Es ist in diesen Tagen 17oo Jahre her, dass in Köln Menschen jüdischen Glaubens in den Rat der Stadt Köln gewählt werden konnten. Die Hanse ist der Nachweis dafür, dass auf dem Kontinent demokratische Strukturen herrschten, als Amerika noch nicht durch Kolumbus wiedergefunden worden war. Wir werden alle Hände voll zu tun haben, die antidemokratischen Verhaltensweisen nicht zum Nachteil für unserer zutiefst demokratisches und mitteleuropäisches Verständnis werden zu lassen.

Das gilt erst recht dafür, die auf Verständigung ausgerichtete Politik von Willy Brandt zum Maßstab für unser Verhältnis zu anderen Staaten, auch und vor allem zur

Russischen Föderation zu machen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen der Lage zur Zeit seiner Kanzlerschaft und heute. Diese bestehen vor allem darin, die damalige Lage zwischen dem Westen und der Sowjetunion von Antagonismus auf der ganzen Front bestimmt zu sehen. Es waren die unterschiedlichen Systeme, die unser tägliches und politisches Leben bestimmten. Der Unterschied zu heute ist frappierend, denn von Systemdifferenz im damaligen Sinne kann im entferntesten nicht die Rede sein, auch wenn Präsident Biden und andere sich von morgens bis abends darin ergehen, die "Neuen Autokratien" zu beschwören und dabei auch vor Ungarn und vermutlich Polen als Mitglieder der EU nicht haltmachen. Der zentrale Unterschied zu damals ist der Umstand, daß man seitens des Westens über Jahrzehnte hinweg Russland in seinem Bemühen um Zusammenarbeit Tag um Tag zurückgestoßen hat. Damit hat sich der Eindruck festgesetzt, wie er auf der Konferenz von Bratislawa April 2000 gezimmert worden war. Washington kann sich Moskau nur am Boden liegend vorstellen und bietet dabei das Bild vermeintlicher Stärke. Was soll man auch von einem Land erwarten, dass mehr als die Hälfte seines Haushaltes dafür ausgibt, sein Imperium funktionsfähig zu halten?

Da hat die letzte Woche mit dem Gespräch der beiden Präsidenten Perspektiven eröffnet. Russland legt nach und nach seine Karten auf den Tisch, ob Präsident Biden es will oder nicht. Wenn man sich fragt, wie die Beziehungen gestaltet werden könnten, um nicht die Eskalationsspirale "doll" zu drehen, findet man eine Antwort. Deutschland hätte die gerne vor einem Jahrhundert gefunden in der Antwort auf die Frage, ob die 14-Punkte von Präsident Wilson Wirklichkeit werden könnten. Waren diese Punkte doch der zentrale Schub für den deutschen Beitrag zum Kriegsende. Nicht anders musste es im Nachhinein den Mächtigen im Kreml erscheinen, was der "Westen" zum Ende des Kalten Krieges zugesagt hatte: keine Ausdehnung der NATO nach Osten. Kaum jemand hat das so treffend beschrieben wie der damalige Architekt der gesamten Politik gegenüber der Sowjetunion im Weißen Haus in Washington, Botschafter Jack Matlock. Das Motto des Westen seither war: versprochen, gebrochen. Das, was der Westen heute auf den Tisch legen müsste, sollte den letzten dreißig Jahren an verspielten Chancen Rechnung tragen. Die Dinge sollten so auf "Null" gesetzt werden, dass Zusammenarbeit und nicht Krieg das Ergebnis sein müssten. Noch zu Lebzeiten von Michael Gorbatschow sollten wir das Bild vom "gemeinsamen europäischen Haus" wieder ins Fenster stellen, solange das noch möglich ist. Den EU-Europäern hat die letzte Woche allerdings gezeigt, dass ein "office call" zwischen den beiden Präsidenten ausreicht, das "Normandie-Format" an den Stränden derselben untergehen zu sehen, weil die "großen Jungs" sich Platz verschaffen. Bei der Gelegenheit beseitigt man gleichzeitig den Macron-Traum von der europäischen Souveränität, der tags drauf beim Antrittsbesuch des deutschen Bundeskanzlers Scholz in Paris pflichtschuldigst beschworen wurde. Politischer Voodoo-Zauber kann nicht Europas Zukunft sein.

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