"Open skies" und sich öffnende Archive: Moskau steht im Mittelpunkt der Weltgeschichte

Lehren aus der Geschichte kann nur der ziehen und künftiges, absehbares Elend vermeiden, der sich der Geschichte umfassend stellt: Willy Wimmer, der Weg in den Zweiten Weltkrieg und Europa als umfassendes Friedensprojekt, exklusiv bei World Economy

 

Im Kriegsministerium aus sowjetischen Zeiten in Moskau stellte sich schon das Gefühl ein, einen besonderen Ort betreten zu können. Die russischen Begleiter machten deutlich, daß über die große Freitreppe Stalin das Gebäude betreten habe. Unser Besprechungszimmer war nicht weniger geschichtsträchtig. Es war das Büro von Marschall Zhukov und erst nach stundenlangen Gesprächen wurde ich auf den ein oder anderen Gegenstand im holzgetäfelten Raum aufmerksam gemacht. In einer Ecke, direkt neben dem Schreibtisch, stand die bekannte Weltkugel aus der Reichskanzlei und in Armeslänge von mir entfernt war der Panzerschrank des vormaligen Besitzers namens Dr. Josef Goebbels an der Wand. Vermutlich war er mit Inhalt aus Berlin nach Moskau gelangt. Wie so vieles sich bei einem derartigen Vormarsch ansammelt, ganz zu schweigen von den vollen Archiven aus einer Zeit, die zu Beginn der sowjetischen Zeit in Russland die Archive gefüllt hatte. 

Dabei begann die junge Sowjetunion mit einem Paukenschlag, was die Archive des zaristischen Russland anbetraf. Die junge Sowjetmacht wollte deutlich machen, daß sie von Geheimdiplomatie nichts hielt und sich ohnehin von der Herrschaft der Romanows über Russland absetzen wollte. Diese Öffnung der Archive in St.Petersburg hatte es in sich. Es war ein Donnerschlag mit umstürzender Wirkung. Der amerikanische Autor David Fromkin hat am Ende des Kalten Krieges in seinem epochalen Werk über das Ende des osmanischen Reiches: "The peace to end all peace" darauf aufmerksam gemacht, als er unter Bezug auf die geöffneten Archive in Russland auf das aufmerksam machte, was an Brisanz nicht zu überbieten war. Jeder wußte, wie in der Zeit für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Mächtekonstellationen waren und welche Gruppen national oder international die eine oder andere Kriegspartei unterstützten. Auffallend war dabei vor allem, daß die Vereinigten Staaten nicht von Anfang an, sondern erst 1917 auf der Seite der Entente in den Krieg eintraten, nicht ohne über die bis dahin vergangenen Jahre zwischen 1914 und 1917 London und Paris mit grenzenlosen Kriegskrediten zu unterstützen, die man dem Deutschen Reich im Kern verweigerte. Der amerikanische Präsident Trump hat bei seinem ersten Besuch in Frankreich am 14. Juli 2017 darauf aufmerksam gemacht. Die Vereinigten Staaten hatten ihre eigene Sicht der Welt, die nicht nur die Niederlage Deutschlands sondern auch den globalen Machtverlust der eigenen Alliierten zum Gegenstand hatte.

Das Werk der jungen Sowjetmacht, die Archive zu öffnen, machte aber auch deutlich, warum sich bestimmte Entwicklungen über das sogenannte Sykes-Picot Abkommen des Jahres 1916 so dramatisch veränderten. David Fromkin hat darauf aufmerksam gemacht, wer von den damaligen Spitzenpotentaten auf die Briefe mit den Vorschlägen zur "Heimstatt Palästina" nicht antworteten, die unter anderem beim deutschen Kaiser, dem russischen Zaren, dem Sultan in Konstantinopel sowie in Washington, Paris und London eintrudelten. Dem Absender des Briefes nach Berlin wurde bedeutet, daß man aus Bündnistreue zum osmanischen Verbündeten eben nicht sich mit dem Vorschlag auf eine "Heimstatt" einverstanden erklären könne. Aus der Rückschau betrachtet hat diese Antwort aus Berlin, rausgekommen über die jetzt sowjetischen Archive ein Wirkung, die weit über die heutige Zeit hinausgeht. Tom Segev hat in seinem Werk;"Es war einmal Palästina" darauf nachdrücklich hingewiesen.
Als der russische Präsident Wladimir Putin wenige Tage vor dem westlichen Weihnachtsfest 2019 bei einem Treffen mit befreundeten Staatschefs in St. Petersburg über die Geschichte des leidgeprüften Europa seit dem Verhängnis von Versailles sprach, tat er es mit einem Paukenschlag und der war in bestimmter Weise provoziert. Der russische Präsident verkündete, alle russischen Archive mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg zu öffnen und die nach den internationalen Kriterien auch nachvollziehbar zu machen. In gewisser Weise scheinen sich wenigstens Moskau und Rom einig zu sein, denn gleiches ist auch die Haltung des Vatikan. Einzig der amerikanische Präsident Trump sperrt weiter 15 Seiten Untersuchungsbericht wegen des Kennedy Mordes vor den Augen der Öffentlichkeit. Vermutlich deshalb, weil alle darüber seit dem Tag von Dallas in die Welt gesetzten "Verschwörungs-Theorien" sich bewahrheiten könnten.
Moskau legt die Karten auf den Tisch und man sieht es in den Publikationen, die auch objektiv über russische Positionen berichten, seither Tag um Tag. Die Provokation aus Polen und den baltischen Staaten, die am 19. September 2019 aus Anlass des Ausbruchs des deutsch-polnischen Krieges vom 1. September 1939 in Straßburg zu einer Resolution führte, stellte in beschämender Weise alle historischen Fakten auf den Kopf oder deutete sie auf heutige Bedürfnislagen in der Auseinandersetzung mit Moskau um. Man muß schon am Verstand zweifeln, wenn Parlamente sich als „Historiker-Komission" gerieren. Wenn das allerdings in geradezu perfider Absicht geschieht, muß die Öffentlichkeit dies als Warnsignal empfinden. Diejenigen, die der Sowjetunion geradezu die Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zuschreiben, verkennen nicht nur den Umstand, daß der Weg zum Zweiten Weltkrieg eindeutig durch die Kriegserklärungen von London und Paris frei gemacht worden ist und vor allem der britisch-französischen Planung weit vor 1914 und "Versailles 1919", der Lunte zum Zweiten Weltkrieg entsprach. Die amerikanischen und britischen Finanzquellen, die Herrn Hitler aufbauten, machten dies in der klaren Absicht, mit ihm und der nationalsozialistischen Bewegung eine klar antikommunistische und antisemitische  Formation auf die Geschicke Europas einwirken zu lassen. Wie die amerikanische Konferenz von Bratislava 2000 mit ihrer klaren Zielvorgabe zum neuen "Eisernen Vorhang" zwischen Riga und Odessa deutlich gemacht hatte, muß scheinbar alles getan werden, die Anfang des letzten Jahrhunderts gegen Deutschland und Russland endgültig und diesmal gegen Russland umzusetzen.

Man muß in Anbetracht der heutigen amerikanischen Politik, alle auf Verständigung  und Frieden in Europa ausgerichteten Verträge zu beseitigen, den Versuch sehen, auf Russland dergestalt einzuwirken, daß die Öffnung aller Archive mit der gewiß zu erwartenden Wirkung unterbleiben könnte. Natürlich war man in Moskau über das unterrichtet, was sich nach dem Flug von Hess in Großbritannien 1941 abspielte. Natürlich sind die Dokumente über die Gespräche 1944 von Stalin und Churchill in Moskau gut verwahrt. Gespräche, in denen Churchill ganz im Stil von Molotov und Ribbentrop 1939 die Teilung Europas in Aussicht stellte. Aber nicht nur das, wie bereits die wesentlich ruhigere Diskussion über die damaligen Ereignisse in machen Teilen der Welt deutlich macht. Die Archive in Moskau sind keine Wundertüten, aber sie bieten gewiß für manche eine Überraschung.
Offenbar nicht für die deutsche Bundesregierung und/oder die gesamte deutsche Staatsspitze. Das zeigt das jämmerliche Verschweigen von "Versailles 1919" im vergangenen Jahr. Ganz nach dem Vorbild von Präsident Putin äußert sich von wenigen Wochen selbst der französische Präsident Macron über "Versailles". Das sei nichts anderes gewesen als eine reine Strafaktion gegen Deutschland. Wenn man die Gründe für den Aufstieg der Nationalsozialisten auch in Deutschland suchen wolle, werde man dabei in "Versailles" fündig. Nichts davon aus Berlin, ob Bellevue oder Wallot-Bau. Dann muß man auch nichts dazu sagen, warum man heute den zentralen Schutz gegen zu verabscheuende Entwicklungen im eigenen Grundgesetz in Fragen des Friedens und des Schutzes des deutschen Rechtsstaates sträflich vernachlässigt.
Über eines kann man sich weiter trösten. Die staatsfinanzierten deutschen Historiker halten dazu lieber den Mund und überlassen die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte lieber den englischen  oder notfalls amerikanischen Zunftgenossen. Deren Aufgabe besteht zuvörderst darin. die verhängnisvolle Rolle Großbritanniens seit der Milner-Runde gegen Deutschland zu kaschieren. Moskau läßt da hoffen.
https://zeitgeist-online.de/1075-alexander-sosnowski-willy-wimmer-und-immer-wieder-versailles.html

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