Von Hans-Georg Münster
Den letzten Schritt durch das weit offen stehende Tor zum großen Krieg in Europa mochte Olaf Scholz dann doch nicht gehen. Trotz Ermunterungen aus Paris, deutsche Truppen in die Ukraine zu schicken, lehnte Scholz dies ebenso ab wie die von Kiew seit langem mit Nachdruck geforderte Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern, was zu einer direkten militärischen Konfrontation mit Russland führen könnte. Der Bundeskanzler blieb standhaft. Aber da die Bundesregierung schwach und Scholz selbst instabil ist, fehlen ihm Kraft und Wille, den nächsten Schritt zu tun und das Tor zum Krieg zu schließen. Und selbst wenn er es wollte, würde Scholz vermutlich schnell durch seinen die Kriegsbereitschaft Deutschlands predigenden Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ersetzt werden.
Man fragt sich, welcher Teufel den französischen Präsidenten Emmanuel Macron geritten hat, bei einem Treffen von NATO-Ländern in Paris die Entsendung von westlichen Truppen in die Ukraine ins Gespräch zu bringen. Der Vorschlag kam nicht spontan, sondern war offenbar lange überlegt und auf diplomatischen Kanälen bei den NATO-Partnern zuvor sondiert worden. Denn der slowakische Ministerpräsident Robert Fico hatte bereits vor seiner Abreise nach Paris vor einer „gefährlichen Eskalation der Spannungen“ mit Russland gewarnt. Die Tagesordnung der Konferenz lasse „Angstschauer über den Rücken laufen“, hatte Fico gesagt und auch angekündigt, dass über die Entsendung von Truppen in die Ukraine gesprochen werden sollte. Das Wort „Frieden“ komme in den Ankündigungen der Konferenz nicht vor, hatte Fico geklagt.
Zwei Motive könnten Macron bewogen zu haben, die Kriegsstimmung in Europa weiter anzuheizen. Einerseits konnte er damit von der minimalen militärischen Unterstützung Frankreichs für die Ukraine ablenken. Die Grande Nation hält ihre Lieferungen an Kiew auf Sparflamme. Geliefert wurden bisher Rüstungsgüter in einem Umfang von 540 Millionen Euro. Das ist etwa ein Dreißigstel von dem, was Deutschland der Ukraine zur Verfügung gestellt hat (17 Milliarden Euro).
Ein zweites Motiv findet sich in der europäischen Geschichte. Macrons Rede von den NATO-Bodentruppen auf ukrainischem Boden richtete sich direkt an die Berliner Adresse, wo sofort eine heftige Debatte aufflammte, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Wenn wir schon keine Bodentruppen schicken wollen, dann müssen wir wenigstens Taurus liefern, damit der Krieg weit in das russische Landesinnere getragen werden kann.
Die hitzige Berliner Debatte sorgte für eine weitere Vertiefung des Risses zwischen Deutschland und Russland. Macron und Frankreich haben nicht das geringste Interesse an einer Entspannung zwischen Berlin und Moskau. Unvergessen ist in Frankreich bis heute, dass Preußen am 30. Dezember 1812 aus dem Bündnis mit Frankreich ausscherte und mit der „Konvention von Tauroggen“ (heute in Litauen) einen Waffenstillstand mit Russland schloss. Damit war die Niederlage Napoleons endgültig besiegelt, Frankreichs Rolle als Europas Führungsmacht hatte sich erledigt. In einer geschichtsbewussten Nation wie Frankreich wirkt diese Schmach bis heute nach; in einer geschichtslosen Nation wie Deutschland erinnert sich kaum jemand an den Namen Tauroggen und dass dort Weltgeschichte geschrieben wurde.
Scholz muss gemerkt haben, dass sich die Lage durch das NATO-Treffen in Paris dramatisch zugespitzt hatte. Mit einer bisher von ihm so nicht gekannten Deutlichkeit lehnte er den Einsatz von Truppen in der Ukraine ab: „Um es klipp und klar zu sagen: Als deutscher Bundeskanzler werde ich keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden“, sagte er in einer Videobotschaft. „Das gilt. Darauf können sich unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen. Und darauf können Sie sich verlassen.“ Außerdem sicherte er zu, dass die NATO nicht Kriegspartei werde.
Ebenso deutlich fiel die Reaktion von Scholz zum Taurus-Thema aus: „Wir dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein“, sagte er in einer Konferenz mit deutschen Chefredakteuren. Deshalb sei dies keine Handlungsoption. „Ich wundere mich, dass einige nicht einmal darüber nachdenken, ob es zu einer Kriegsbeteiligung kommen kann durch das, was wir tun.“ Der Kanzler bestätigte, dass für den Einsatz von Taurus die Stationierung deutscher Soldaten in der Ukraine notwendig wäre, so wie es Briten und Franzosen beim Einsatz der Marschflugkörper „Scalp“ und „Storm Shadow“ machen würden: „Es ist eine sehr weitreichende Waffe. Und das, was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden. Das weiß auch jeder, der sich mit diesem System auseinandergesetzt hat.“ Er sei verwundert darüber, dass diese Frage immer wieder gestellt werde.
Die Grünen, die Deutschland in den Konflikt mit Russland treiben wollen, reagierten erbost: Anton Hofreiter, der Vorsitzende des Europaausschusses des Bundestages, den man in Berlin wegen seiner bellizistischen Ausrichtung inzwischen „Panzer-Toni“ nennt, warf dem Kanzler vor, „erkennbar die Unwahrheit“ zu sagen. Und die frühere NATO-Strategin Stefanie Pabst, die sich als Kriegstreiberin in Berlin schon einen Namen gemacht hat, feuerte die Debatte weiter an, indem sie feststellte: „Eskalationsvermeidung ist keine erfolgversprechende Strategie.“ Aus Großbritannien und Frankreich gab es Dementis zu den Bemerkungen von Scholz über „Scalp“ und Storm Shadow.“
Deutsche Militärexperten geben Scholz hingegen recht. Der frühere Chef des Stabes am NATO Defense College, Ralph Thiele, sagt zu Taurus: „Die Planung und Einsatzführung ist hochkomplex und entscheidend für eine optimale Anflugroute und das Angriffsprofil. Dafür sind langjährig ausgebildete Spezialisten erforderlich. Der Kanzler hat recht. Deutsche Soldaten müssten hierfür die Ukraine entweder vor Ort oder vielmehr aus der Distanz – mit viel zusätzlichemAufwand – in den Angriffsoperationen die Hand führen und zudem streng geheime Datenbibliotheken mit elektronischen Kennungen gegnerischer Verteidigungssysteme und vieles mehr bereitstellen und kontinuierlich aktualisieren.“ Zudem könne Taurus nicht einfach von den bisherigen Flugzeugen der Ukraine in die Luft gebracht werden. Thiele: „Dazu müsste dieses System zunächst technisch integriert werden. Das dauert rund ein Jahr, selbst wenn die Ukraine westliche Kampfflugzeuge vom Typ F-16 dafür nutzen sollte.“
Was Scholz nicht sagte, aber unbedingt zum Thema dazugehört, ist der Munitions- und Ersatzteilmangel der Bundeswehr. Von den vorhandenen 650 Taurus-Marschflugkörpern der Bundeswehr sollen noch rund 150 einsatzbereit sein. Für die Instandsetzung der übrigen fehlen Ersatzteile, die eigens neu produziert werden müssten. Thiele gibt zu bedenken, „dass eine Wiederaufnahme der Produktion wegen derzeitiger längerfristiger Lieferengpässe für einen Teil der Elektronik und dem Spezialmetall für den gehärteten Gefechtskopf erst in etwa in einem Jahr erfolgen kann“.
Drastischer formuliert es der frühere deutsche Generalmajor Gerd Schultze Rhonhof: „Die Bundeswehr ist blank und nicht mehr verteidigungsfähig.“ Das wurde in diesen Tagen am Fall der in das Rote Meer entsandten deutschen Fregatte „Hessen“ deutlich. Das Schiff wollte eine angeblich feindliche Drohne zerstören. Die abgefeuerten Raketen versagten jedoch, was die US-Army sehr freute, denn es war eine ihrer Drohnen, was der deutschen Marine nicht aufgefallen war. Außerdem wurde bekannt, dass die Fregatte, wenn sie ihre Munition verschossen haben wird, nicht mehr voll aufmunitioniert werden kann. Für zwei der drei Waffensysteme ist keine Munition mehr verfügbar. Schultze-Rohnhof nennt die Bundeswehr ein „Skelett ohne Fleisch.“
Fassen wir zusammen: Das Tor zum Krieg ist weit offen, die Bundeswehr ist schlecht gerüstet. Die deutsche Wirtschaft treibt nicht zuletzt wegen des Russland-Embargos auf eine beispiellose Krise zu. Wenn Deutschland für die EU nicht mehr genug zahlen kann, werden die Gemeinschaft und die Euro-Währung wie Kartenhäuser zusammenfallen.
Es ist höchste Zeit für die Reise nach Tauroggen.
Bilder: depositphotos
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