Krieg um Nagornyi Karabakh

Am vergangenen Sonntagmorgen brachen entlang der Frontlinie zwischen Aserbaidschan und der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach (Nagornyi Karabakh), die sich selbst Republik Arzach nennt, Kämpfe aus, wie sie seit den Gefechten vom April 2016 nicht mehr beobachtet worden waren. Ein baldiges Ende der Kämpfe ist erst zu erwarten, wenn eine der Seiten eine empfindliche Niederlage einstecken muss.

Aserbaidschanische Schlappe im Juli

Oberst d.G. Gerd Brenner
Die andauernden Kämpfe folgten auf einen Zusammenstoss im Juli dieses Jahres, der ausgebrochen war, nachdem ein aserbaidschanischer Militärjeep auf die armenische Seite der Grenze geraten und beschossen worden war. Im Verlauf der mehrtägigen Kämpfe gelang es den Armeniern offenbar, den Standort eines gegnerischen Befehlsstands aufzuklären und diesen zu zerstören. Dabei kamen ein aserbaidschanischer General und weitere hohe Offiziere ums Leben – eine Blamage für die aserbaidschanische Armee und Aserbaidschan generell. Dies war möglicherweise der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn die aserbaidschanische Seite war schon seit langem mit ausbleibenden Fortschritten im Verhandlungsprozess mit Armenien unzufrieden gewesen. Am vergangenen Sonntag lösten nun aserbaidschanische Unzufriedenheit und Frustration eine grössere Militäraktion aus, deren Dauer noch kaum abzuschätzen ist.
Noch ist es zu früh, eine Zwischenbilanz zu ziehen, und natürlich ist der Informationskrieg in vollem Gang. In einigen wenigen Punkten stimmen die Konfliktparteien überein, das Gros ihrer Informationen wird wohl aus Halbwahrheiten bestehen und einige Informationen sind sicherlich aus der Luft gegriffen. Aber einige interessante Beobachtungen sind schon jetzt möglich. Insbesondere über die Höhe der Verluste herrscht Uneinigkeit. Gerade personelle Verluste hatten die Offensivkraft der aserbaidschanischen Armee nach den Zusammenstössen im April 2016 begrenzt und stellen ein eigenes Kriterium für die Frage nach Sieg oder Niederlage dar. Die russische Militärzeitschrift Voennoe Obosrenie und die Nachrichtenagentur RIA verfolgten das bisherige Geschehen und kamen am Dienstagmorgen zu folgenden Zahlen (1):
Mit 87 getöteten Soldaten allein bis Montagabend erlitt die armenische Seite empfindlich hohe Verluste, die nahe an jene vom April 2016 herankommen, als 92 Armenier starben (2). Ob auf der anderen Seite wirklich 400 oder gar 570 Aserbaidschaner ums Leben kamen, sowie 81 syrische Söldner, wie die armenische Seite berichtet, darf bezweifelt werden. Das ist dann doch etwas hoch (3).
Unter den Opfern befinden sich auf beiden Seiten der Front Zivilpersonen. Nach Stand von Dienstagmittag sollen auf armenischer Seite 6 Zivilpersonen ums Leben gekommen sein, auf aserbaidschanischer Seite deren 10 (4). Beunruhigend ist, dass auch Wohngebiete in der Region Vardenis beschossen wurden, die nicht in der umstrittenen Provinz Bergkarabach liegen, sondern auf international anerkanntem armenischen Gebiet (5). Die bislang vergleichsweise geringe Anzahl ziviler Opfer könnte damit zusammenhängen, dass beide Konfliktparteien auf ihrer Seite der Frontlinie einen mehrere hundert Meter bis mehrere Kilometer breiten Streifen schufen, in welchem sich Zivilpersonen nur zeitlich begrenzt aufhalten dürfen, beispielsweise um Feldarbeiten zu verrichten. Im Lichte dieser Zahlen sind auch gegenseitige Vorwürfe, die jeweils andere Seite habe mit schweren Waffen in Wohngebiete hineingeschossen, mit Vorsicht zu geniessen.
Angriff der unbemannten Systeme
Einigkeit herrscht darin, dass Armenien und Arzach zusammen bis gestern abend 11 oder 12 Flugabwehrsysteme "Osa" und "Tor" verloren (6). Das lässt darauf schliessen, dass die aserbaidschanische Armee ihren Angriff in einer ersten Phase auf diese Systeme konzentrierte. Und die hohe Anzahl an Drohnen, welche die armenische Flugabwehr abgeschossen haben will, deutet auch darauf hin, mit welchen Mitteln die Aserbaidschaner gegen die armenische Luftverteidigung vorgingen. Ob die Armenier nun 29 Drohnen abschossen, wie Aserbaidschan behauptet, oder 49, wie Armenien angibt, ist unerheblich. Es kann als sicher gelten, dass die Aserbaidschaner eine erste Welle von Drohnen lancierten, welche die effektivsten Flugabwehrsysteme der Armenier eliminieren sollten. Dabei konnten die Aserbaidschaner sicher von den Erfahrungen profitieren, welche die türkische Armee in Syrien und Libyen mit Drohnen gesammelt hatte. Wohl mit Rücksicht auf seine Mitgliedschaft in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, in welcher Teheran eine Führungsrolle beansprucht, dementierte der Iran, Waffentransporte aus Russland an Armenien bewilligt zu haben. In Tat und Wahrheit wird es so sein, dass Russland durch iranischen Luftraum hindurch russisches Militärpersonal und –material nach Armenien fliegen darf (7). Dazu gehört möglicherweise auch Ersatz für die zerstörten Flugabwehr-Systeme russischer Provenienz (8).
Dass die Aserbaidschaner in ihrem Angriff auf die armenische Flugabwehr nicht zur Gänze erfolgreich waren, zeigen die Verluste an Flugzeugen und Hubschraubern, welche sie einstecken mussten (9). Offenbar verloren sie bei einer Luftlandung im gebirgigen Norden von Arzach, wo das dünne Netz an Verkehrsträgern und der dichte Bewuchs Verschiebungen abseits von Strassen mühsam und zeitraubend machen, mehrere Hubschrauber und ein Transportflugzeug. Inzwischen schoss eine türkische F-16 ein armenisches Schlachtflugzeug des Typs Su-25 ab. Die zweite Phase des Luftkriegs hat offenbar begonnen.
Kampf im Schützengraben
Das bestens ausgebaute Stellungssystem, das die Armeen Armeniens und Arzachs an der Front zu Aserbaidschan in den letzten Jahren aufgebaut hatten, bewährte sich offenbar in diesen Tagen. Meldungen, wonach die Aserbaidschaner einen schweren Flammenwerfer des Typs "Buratino" bei ihrer Offensive mitführten, deuten darauf hin, dass sie das armenische Stellungssystem sehr ernst nahmen. Dieser, auf einem Panzer des Typs T-72 aufgebaute Werfer schiesst Brandraketen mehrere Kilometer weit und wurde eigens zum Kampf gegen in gut ausgebauten Feldbefestigungen eingegrabenen Gegner entwickelt wurde (10). Darüber hinaus will die armenische Armee um die 80 gepanzerte Fahrzeuge – Panzer und Schützenpanzer – abgeschossen haben (11). Darunter findet sich auch mindestens ein Pionierpanzer, der sich ebenfalls zum Durchbruch durch Stellungssysteme eignet. Ein weiteres Indiz für heftige Kämpfe im Stellungssystem ist die geringe Anzahl zerstörter Panzerfahrzeuge auf armenischer Seite.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew weiss, dass die kleine Republik Arzach sich keine hohen personellen Verluste leisten kann und wird es darauf anlegen, seinem Gegner solche beizubringen. Aber er sollte sich dessen bewusst sein, dass seine Herrschaft nicht in Stein gemeisselt ist. Er muss den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg aus dem Konflikt finden, zu welchem er sich als Siegerfigur präsentieren kann. Die Handvoll Dörfer, welche die aserbaidschanische Armee in den letzten drei Tagen einnahm, wären schon Siegestrophäe genug. Ihr Verlust schmerzt die Armenier nicht, denn sie sind in der Regel menschenleer, seit ihre aserbaidschanischen Bewohner sie 1994 verlassen mussten. Damals hatten armenische Truppen die lokale Bevölkerung vertrieben und die Dörfer zu einem Glacis vor den Wohngebieten der ethnischen Armenier gemacht.
Keine günstigen Voraussetzungen für einen Waffenstillstand
Die hohen menschlichen Verluste, die beide Seiten in den letzten Tagen hinnehmen mussten, zeigen, dass die Lage sehr ernst ist. Beide Seiten haben personelle Reserven mobilisiert und sind bereit, sehr weit zu gehen. Präsident Alijew wird die Kämpfe wohl so lange weiterführen, bis die Scharte vom Juli ausgewetzt ist. Und die Armenier, die über ein ausgeprägtes militärisches Selbstvertrauen verfügen, hatten schon länger gedroht, sie würden weitere aserbaidschanische Gebiete besetzen, sollte Aserbaidschan in Bergkarabach nochmals angreifen. Nun sind beide Seiten in Zugzwang, wenn sie nicht als Maulhelden dastehen wollen. Das sind keine günstigen Voraussetzungen für baldige Verhandlungen über einen Waffenstillstand.
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Anmerkungen

  1. https://topwar.ru/175567-armenija-oprovergaet-zajavlenija-o-potere-komandira-desantno-shturmovogo-batalona.html

  2. https://news.am/rus/news/322142.html

  3. https://armenpress.am/eng/news/1029311.html

  4. https://tass.com/world/1206275; https://www.panarmenian.net/eng/news/285539/; https://apa.az/en/nagorno_garabagh/Projectile-shelled-by-Armenia-falls-near-Tartar-court-there-are-dead-and-injured-331413

  5. https://rus.azatutyun.am/a/30864549.html

  6. https://www.forbes.com/sites/sebastienroblin/2020/09/27/tanks-ablaze-as-azerbaijani-forces-attack-armenian-troops-in-disputed-nagorno-karabakh/#7c73fb172f90.

  7. https://en.trend.az/iran/politics/3307440.html

  8. Flugzeuge ohne Callsign nahe des Flugplatzes Gyumri, der auch militärisch genutzt wird, deuten darauf hin; https://www.flightradar24.com/25a1ea12.

  9. https://report.az/herbi-xeberler/terterde-zedelenen-doyus-helikopteri-pesekarliqla-oz-erazimize-endirilib/

  10. http://www.military-today.com/artillery/tos1.htm

  11. https://armenpress.am/eng/news/1029311.html.

 

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