Kaltes Land

Von Hans-Georg Münster

Von den zahlreichen Bildern mit politischen Botschaften, die im Internet kursieren, hat mich in jüngster Zeit eins besonders beeindruckt: Es zeigt das Foto eines lächelnden Altkanzlers Gerhard Schröder, der fragt: „Wollt Ihr wirklich frieren? Ich frage für einen Freund.“ Der Freund ist natürlich kein anderer als Wladimir Putin. Der jedoch ist in der deutschen Politik und in den Medien des Landes derzeit so etwas wie der „Darth Vader“ aus dem Krieg der Sterne - das absolut Böse, das um jeden Preis bekämpft werden muss, selbst wenn man dafür frieren sollte. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sicherte daher auf einer internationalen Konferenz in Prag der Ukraine dauerhafte Hilfe zu: „Wir werden diese Unterstützung aufrechterhalten, verlässlich und so lange wie nötig“, erklärte der Kanzler und präzisierte: „Das gilt für den Wiederaufbau des zerstörten Landes, der eine Kraftanstrengung von Generationen wird.“

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) äußerte sich in der „Bild am Sonntag“ genauso: „Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung. Und wir unterstützen sie finanziell und militärisch – und zwar so lange, wie es nötig ist.“ Wer diese Kraftanstrengungen mit jahrelangen Rüstungslieferungen, Hilfszahlungen für den ukrainischen Staatshaushalt und Stabilisierungsmaßnahmen für die Währung in den nächsten Jahren bezahlen soll, sagten Scholz und Baerbock lieber nicht. Stattdessen ließ sich der Kanzler filmen, wie er tollpatschig auf einen Gepard-Panzer herumkletterte, der an die Ukraine geliefert werden soll. Das sollte eine Demonstration der Stärke sein, in Wirklichkeit lieferte das Bild ein anschauliches Beispiel dafür, wie hilflos diese Regierung agiert.

Wenn Scholz den Deutschen die Wahrheit sagen würde, müsste er ganz klar das deutsche Volk als Verlierer benennen und zugeben, gegen seinen Amtseid verstoßen zu haben. Bei seiner Vereidigung im Bundestag am 8. Dezember 2021 schwor er nämlich, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Das haben Scholz und seine Regierung jedoch zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Ukraine-Krise getan. Im Gegenteil: Die Embargomaßnahmen schaden den Deutschen mehr als Putin. Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht, eine einsame Ruferin gegen den Berliner pro-ukrainischen Chor, hält die Debatten über kürzeres Duschen, Verdunkeln der Innenstädte und Absenkung der Wohnungstemperatur auf 16 Grad für aberwitzig. Man solle lieber der Wahrheit ins Auge sehen: „Die westlichen Sanktionen ruinieren nicht Russland, sondern Deutschland. Putin verkauft seine Rohstoffe an andere Länder und seine Taschen sind durch die steigenden Energiepreise prall gefüllt, während die Portemonnaies der Menschen hierzulande immer leerer werden.“

Die Berliner Regierung hat bisher noch leichtes Spiel, auch wenn Baerbock sich kürzlich verplapperte, als sie nach einem Gaslieferungsstopp „Volksaufstände“ befürchtete. Doch Deutsche handeln nicht so emotional wie Franzosen und Italiener. Sie sind traditionell regierungsgläubig und nur schwer aus der Ruhe zu bringen. Selbst Ende 1944 sollen viele Deutsche noch geglaubt haben, dass die Ardennenoffensive die Wende im Krieg bringen werde und saßen brav in ihren Luftschutzkellern. Dabei war der Krieg spätestens mit der Niederlage der 6. Armee in Stalingrad 1943 verloren.

Scholz, sein Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) haben angesichts der Ruhe im Land leichtes Spiel. Ein „präzises, maßgeschneidertes Entlastungspaket" (Scholz) soll wie Baldriantropfen die Bürger weiter einlullen. Lindner sieht sogar finanzielle Spielräume für Entlastungen, obwohl dies nicht stimmt. Der Bundesrechnungshof, den die Koalition bisher noch nicht mit Günstlingen besetzen und unter Kontrolle bringen konnte, warf Lindner vor, im Haushaltsentwurf für 2023 die Neuverschuldung mit 17,2 Milliarden Euro zu niedrig angegeben zu haben. In Wirklichkeit seien es 78 Milliarden Euro.

Deutschland bekommt jetzt von den Weltmärkten die Rechnungen dafür präsentiert, dass seine Regierung die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland abbrach, ohne sich vorher um preiswerte Ersatzquellen für Kohle, Öl und Gas zu bemühen. Besuche von Habeck in Katar sowie von Scholz und Habeck in Kanada hatten allenfalls propagandistische Wirkung. Sie brachten jedoch nicht einen Kubikmeter Erdgas mit. Die Preissteigerungen auf den internationalen Märkten lassen die Belastungen ins Unermessliche steigen. Die Schweizer „Neue Zürcher Zeitung“ rechnete vor, dass die deutschen Gaskosten in der Vergangenheit etwa 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen hätten. Jetzt steige dieser Satz auf acht Prozent. In Zahlen ausgedrückt: Betrug die Gasrechnung in der Vergangenheit rund 18 Milliarden Euro (2020), so müssen die deutschen Verbraucher und Unternehmen in Zukunft rund 288 Milliarden Euro für Gas im Jahr bezahlen. Beim Strom sieht es ähnlich aus.

Mit Kostensteigerungen dieser Größenordnung kommt kein Land zurecht, auch nicht das einst reiche Deutschland. Viele Bürger ahnen natürlich, dass etwas nicht stimmt, was nicht zuletzt an einer allgemeinen Inflationsrate von über acht Prozent deutlich wird - der höchsten Inflationsrate seit Gründung der Bundesrepublik. Deutsche und europäische Institutionen zeigen sich gegen den Gas- und Strommangel hilflos, Spaltungstendenzen in Europa und in der Währungsunion werden ignoriert. Nur in der Propaganda sind die Herrschaften in Brüssel und in Berlin weltmeisterlich. Wie soll schon Bismarck, der letzte deutsche Staatsmann mit geopolitischer Begabung, gesagt haben: „Es wird niemals so viel gelogen als vor den Wahlen, während des Krieges und nach der Jagd.“

Deutsche Medien nehmen die Propaganda dankbar auf. So vertrauen sie den Ankündigungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, seine Armee werde eine Großoffensive beginnen und schließlich auch die Krim besetzen. Die Neue Züricher Zeitung warnte die deutsche Öffentlichkeit und Politiker vor einer verzerrten Wahrnehmung des Krieges. „Im Krieg posaunt man seine Pläne nicht heraus, außer man verfolgt damit ein propagandistisches Ziel.“ Warum die ukrainische Propaganda in Deutschland auf so fruchtbaren Boden fällt, erklärt die Neue Zürcher Zeitung damit, dass sich die Öffentlichkeit „gerade danach sehnt, dass den russischen Aggressoren der Graus gemacht wird ". Dem früheren deutschen Innenminister Otto Schily (SPD) geht die Propaganda derart auf die Nerven, dass er Teilen Deutschlands „Kriegsverherrlichung“ vorwarf.

In den deutschen Medien prägt derzeit Carlo Masala die Stimmung in der Berichterstattung über die Militäroperationen in der Ukraine, nachdem der seiner Ablösung entgegen sehende ukrainische Botschafter Melnyk wegen seiner ständigen Beleidigungen deutscher Politiker und wegen seiner Verehrung für den Nazi-Kollaborateur Pandera erheblich seltener gefragt ist. Als sich Selenskyjs Behauptungen über die Großoffensive nicht bestätigten, erklärte der als Militärexperte bezeichnete Politikwissenschaftler von der Bundeswehr-Universität München das damit, die aktuellen Angriffe der Ukraine auf russische Truppen dienten der „Vorbereitung“ einer Gegenoffensive.

Während Masala in allen Medien omnipräsent ist, geht echte Expertise in Deutschland unter. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr und ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, wies daraufhin, dass die Ukraine militärisch zu diesen Gegenangriffen gar nicht in der Lage sei, während die Russen zwar „sehr langsam aber systematisch Fortschritte machen”.

Kujat sprach sich für eine Unterstützung der Ukraine aus, plädierte jedoch auch für Verhandlungen mit Russland, um den Konflikt zu beenden: „Das kann man nur mit Diplomatie erreichen.“ Durch die Waffenlieferungen sei nichts erreicht worden. Die Russen hätten immer die Fortschritte erzielt, die sie hätten erzielen wollen.

Kujat sieht durchaus den Zeitpunkt kommen, an dem Russland erklären könnte, seine Kriegsziele erreicht zu haben und die Bereitschaft zu Verhandlungen signalisieren könnte. Dann müsse die Chance zur Verhandlungen ergriffen werden. Und wenn der amerikanische Präsident John Biden erklärt habe, er werde die Ukraine nicht zu territorialen Zugeständnissen drängen, dann ist „das eine diplomatische Umschreibung dafür, dass die Ukraine selbstverständlich territoriale Zugeständnisse machen muss am Ende dieses Krieges.“ Kujat steht mit dieser Ansicht nicht alleine. Der Sonderberater des früheren amerikanischen Präsidenten Barack Obama, Charles Kupchan, hält es ebenso für wichtig, sich auf die Diplomatie zu konzentrieren und Waffenlieferungen mit einer Strategie zu verbinden, „die den Krieg beenden kann und anschließend eine Plattform für Verhandlungen über Gebietsabtretungen schafft“. Es ist interessant, dass Kupchan seinen Standpunkt ausgerechnet in der Zeitschrift der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung verbreiten konnte.

Auch der Spitzenbeamte im deutschen Kanzleramt, Jens Ploetner, hatte bereits im Juni in einer Diskussion bei der Gesellschaft für auswärtige Politik in Berlin erklärt: „Mit 20 (Schützenpanzern) Mardern kann man viele Zeitungsseiten füllen, aber größere Artikel darüber, wie in Zukunft unser Verhältnis zu Russland sein wird, gibt es weniger.“ Darüber brauche man einen öffentlichen Diskurs.

Dieser Diskurs ist notwendiger denn je, denn jahrelang kann es mit einer Politik der Durchhalteparolen und Verdrehungen nicht weitergehen, zumal die Sympathiewerte für die Berliner Regierung in Umfragen jetzt schon auf einem Tiefststand angekommen sind. Schon der amerikanische Präsident Abraham Lincoln wusste: „Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen und das ganze Volk einen Teil der Zeit. Aber man kann nicht das gesamte Volk die ganze Zeit täuschen.”

Bilder: depositphotos

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