Große Worte und kleine Taten in Kiew / Die Sanktionspolitik ist gescheitert / Europa steht auf der Kippe

Von Han-Georg Münster

An großen Worten von deutscher Seite fehlte es in Kiew nicht. Von einem „heldenhaften Abwehrkampf“ und von deutschen Waffenlieferungen „in ganz großem Umfang“ sprach Kanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in der Ukraine zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron sowie dem italienischen Regierungschef Mario Draghi. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die wohlfeile Gabe der drei Staatsmänner aus dem Abendland – der EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine - ist nichts wert, was EU-Beitrittskandidat Türkei schon seit zwei Jahrzehnten erlebt. Und von den versprochenen deutschen Lieferungen schwerer Waffen ist wenig zu sehen. Sieben Panzerhaubitzen sind inzwischen in der Ukraine eingetroffen. Für die Militärausrüstung eines Landes, des 1,7mal größer ist als die Bundesrepublik, ist das wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Lieferungen und beabsichtigte Lieferungen werden inzwischen im Internet aufgelistet (1). Nicht dabei sind wirklich effiziente Waffen wie der Kampfpanzer „Leopard I“, worauf die CDU/CSU-Opposition drängt. Für den Flakpanzer „Gepard“ fehlt offenbar Munition, die erst hergestellt werden muss. 

Derweil wachsen die Probleme an der deutschen Heimatfront: Die Berliner Regierung bekommt die Wirkungen von zwei engen Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu spüren: Da ist einmal „General Winter“, der schon Napoleon und Hitler schwer zu schaffen machte. Das heißt: Wenn es Winter wird in Europa, werden die Heizkosten explodieren. Die Energiepreise steigen schon jetzt wegen ausbleibender Lieferungen aus Russland extrem an. Es wird massive Proteste gegen und schwere Probleme für die westlichen Regierungen geben. Der zweite Verbündete ist kein Kind Russlands, sondern eine Erscheinung westlicher Kapitalmärkte. Nennen wir ihn den Herrn Zins. Dieser Herr Zins wird Deutschland und Europa bald mehr zu schaffen machen, als Scholz sich selbst in seinen Alpträumen vorstellen kann. 

Wer die deutsche öffentliche Meinung und vor allem die veröffentlichte Meinung in den letzten Tagen intensiv beobachtet hat, kommt unweigerlich zu dem Schluss, dass die von den Grünen angeheizte Kriegsbegeisterung von einer Kriegsmüdigkeit abgelöst wird. Es beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass es leicht ist, in einer Woge der Begeisterung Sanktionen zu beschließen, aber Hinweise auf mögliche Folgen als unwichtig beiseite zu schieben. Die Deutschen haben zudem ein Problem mit einer unfähigen Regierung, mit der es sich verhält wie mit altem Fisch: Er beginnt von der Spitze her zu stinken. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt über Scholz: „Jetzt hat er die Kontrolle verloren. Im Ukraine-Krieg wirkt er wie ein politischer Anfänger, der den Entwicklungen hinterherläuft.“

Dies betrifft besonders die Wirtschaftspolitik. Die Sanktionen gegen Russland konnten zunächst gar nicht hart genug sein und die angekündigten Waffenlieferungen nicht umfangreich genug. Auf den Gedanken, dass eine russische Regierung nicht tatenlos zusehen würde, wie die Söhne des Landes von deutschen Waffen umgebracht werden, kam man in Berlin nicht. Inzwischen sieht man sich mit einem erheblichen Mangel an Erdgas konfrontiert. Deutschland war bisher zu 58 Prozent von russischen Gaslieferungen abhängig, die Europäische Union zu 38 Prozent.

Das Versagen von Scholz liegt unter anderem darin, dass er den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck in der Erdgas-Frage nach Belieben schalten und walten ließ. Zwar ist richtig, dass der russische Gazprom-Konzern seine Tochter Gazprom Germania faktisch aufgab, aber statt mit der russischen Regierung Gespräche aufzunehmen, wie es weitergehen könnte, wurde Gazprom Germania in einem Blitzverfahren unter die Kontrolle der Bundesnetzagentur und damit faktisch unter die Kontrolle der deutschen Regierung gestellt. Dies erinnert schon an Kriegsrecht, denn in Kriegszeiten ist es üblich, Firmen im Besitz von Unternehmen aus Ländern der Kriegsgegner unter Zwangsverwaltung zu stellen. Zum Beispiel wurde im Zweiten Weltkrieg der deutsche Teil des US-Autokonzerns Ford unter deutsche Zwangsverwaltung gestellt.

Scholz, der SPD und auch dem Koalitionspartner FDP ist entgangen, dass sich Habeck und der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, die Bälle zuspielen und sich gegenseitig die Richtigkeit ihrer Maßnahmen zum Beispiel gegen Gazprom bestätigen. Beide sind grün, kennen sich aus der schleswig-holsteinischen Landespolitik und sind Teil eines Netzwerks, das die Umwandlung der Bundesrepublik in einen grünen Staat betreibt. In der Praxis sieht es so aus: Habeck macht einen Vorschlag, und sein Kumpel Müller bestätigt unverzüglich die praktische Durchsetzbarkeit des Vorschlags, auch wenn die Realität ganz anders aussieht. Gegen Kritik eilt  in Energiefragen Kerstin Andreae, die Präsidentin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, zur Hilfe. Auch sie ist Teil des Netzwerks: Andreae war früher Bundestagsabgeordnete der grünen Partei. 

So sind die früheren Behauptungen von Habeck und Müller, die Gasversorgung in Deutschland sei gesichert, bereits jetzt schon widerlegt. Karl Haeusgen, der Präsident des wichtigen Maschinenbauverbandes VDMA, stellt fest: „Wir bewegen uns auf eine sehr schwierige Lage zu.“ Habecks Einsparpropaganda erinnert an Kriegszeiten. Verzweifelt versuchen Habeck und andere deutsche Politiker, neue Lieferquellen für Gas zu erschließen. Bereits legendär ist das Foto mit Habecks Bückling vor dem Scheich von Katar, von dem er trotz der miserablen Menschenrechtsbilanz des Staates Katar gerne Öl und Gas beziehen möchte.

Einen traurigen Höhepunkt erreichten die Versuche europäischer Gasbeschaffung mit dem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Israel. Die EU-Kommission gehört zu den schärfsten Kritikern der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland und fordert den Abzug israelischer Truppen aus den besetzten arabischen Gebieten und aus Ost-Jerusalem - genauso wie von der Leyen und die EU den Rückzug Russlands von der Krim fordern. Dass von der Leyen, deren Kommission den Druck arabischer Schulbücher fördert, in denen zum Krieg gegen Juden aufgerufen wird, ausgerechnet in Israel um Gas bettelt und andererseits Sanktionen gegen Russland verhängt, zeigt den totalen Realitätsverlust der politischen Klasse. 

Wie die Realität tatsächlich aussieht, machen Meldungen der letzten Tage deutlich: Deutschland hat ein Energieproblem, das so groß ist, dass selbst Kohlekraftwerke wieder angeworfen werden sollen – ein klarer Verstoß gegen alle grünen Prinzipien und gegen die Energiewende. Aber ein Verstoß gegen grüne und auch rote Prinzipien waren auch schon die Waffenlieferungen an die Ukraine. 

Die Verstaatlichung von Gazprom Germania ist die eine Seite, und dafür ließ sich Habeck von ihm wohlgesonnenen Journalisten als Mann der Tat feiern. Die andere Seite wird jetzt im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages besprochen. Rund zehn Milliarden Euro muss die Bundesregierung über die staatliche KfW-Bank bereitstellen, damit Gazprom Germania seinen Verpflichtungen im europäischen Gashandel nachkommen kann. Konkret muss die verstaatlichte Firma Gas zu hohen Marktpreisen einkaufen, um vertragliche Verpflichtung gegenüber deutschen und ausländischen Abnehmern zu erfüllen, denen man früher preiswertes russisches Gas geliefert hätte. Die Bundesregierung gibt in einem Schreiben an den Haushaltsausschuss zu, ohne einen sofortigen Unterstützungskredit drohe die Insolvenz von Gazprom Germania. „In der Folge würde dies höchstwahrscheinlich zu Insolvenzen zahlreicher Stadtwerke und zu Produktionsausfällen bei Industriekunden führen“, schreibt die Regierung. Nach Presseberichten werden weitere 15 Milliarden Euro gebraucht, um Gas auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Die Umrisse der nächsten Wirtschaftskrise zeichnen sich hier ab. 

Weitsichtig hatten die Volkswirte der Deutschen Industriebank (IKB) schon Anfang Juni gewarnt: „Ein Boykott von russischem Gas oder Metall hilft der Ukraine wenig, belastet aber die Fähigkeit der deutschen Industrie und der europäischen Wirtschaft im Allgemeinen, ihre Wertschöpfung zumindest kurz- bis mittelfristig aufrecht zu halten. Dies kann weder im Interesse Deutschlands noch der Ukraine sein.“ Drastischer formuliert der bekannte deutsche Journalist Gabor Steingart: „Jeder zweite abgefeuerte Schuss des Westens trifft das eigene Knie. Wir sind Zeitzeugen einer als Reaktion auf Putins Angriffskrieg vorsätzlich herbeigeführten Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelkrise.“

Hinzu wird als Quintessenz eine Finanzkrise ungeheuren Ausmaßes kommen. Die Deutsche Bank hatte bereits vor einigen Jahren davor gewarnt, in Europa könnte es sehr ungemütlich werden, wenn in Italien die Zinsen und in Deutschland die Inflation steigt. Genau dieser Punkt ist jetzt erreicht. Die Zinsen steigen im atemberaubenden Tempo, die Refinanzierung von Euroländern wie Italien und Frankreich gerät in Gefahr. Die Europäische Währungsunion steht vor der schwersten Belastungskrise ihre Geschichte, denn die Euro-Länder sind höher verschuldet denn je. Dagegen war die Griechenland Krise ein kleines Vorgeplänkel. „Das ist ganz klar die Rückkehr der Euro-Krise“, sagt zum Beispiel Clemens Fuest, der Präsident des Münchner Ifo-Instituts.

Daher wird in wenigen Monaten die Ukraine-Krise für die deutsche Politik nur noch ein Nebenkriegsschauplatz sein. Europa selbst steht auf der Kippe.

(1) https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/krieg-in-der-ukraine/lieferungen-ukraine-2054514
 

Bilder: depositphotos

Die Meinung des Autors/Ansprechpartners kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 und 3 (1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“