Von Oberst d.G. Gerd Brenner
Die jüngsten Ereignisse innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZElassen Sorgen bezüglich der Zukunft der Architektur kollektiver Sicherheit in Europa aufkommen und zeugen von einem leichtfertigen Umgang gerade westlicher Staaten mit diesem System. Derzeit sind eine Krise der multilateralen Diplomatie und eine nie dagewesene Demontage der internationalen Vertrags-Architektur im Sicherheitsbereich zu beobachten. Gegenseitige Blockadeaktionen der Teilnehmerstaaten in den Foren der OSZE sind nur das äußere Anzeichen davon.
Diese Krise zeigt sich in der anhaltenden Welle der Kündigung von Verträgen im Bereich der Rüstungskontrolle. Aber auch andere, wichtige Elemente kollektiver Sicherheit in Europa sind in Gefahr, wie zum Beispiel das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen. Gegen Ende des Kalten Krieges erkannten die Protagonisten in West und Ost, dass die Gefahr eines Kriegs, der durch Fehleinschätzungen militärischer Aktivitäten anderer Akteure entstehen könnte, reduziert werden müsse. Große Militärübungen waren erfahrungsgemäß eine Quelle des Misstrauens, wenn Nachbarstaaten argwöhnten, dass eine solche Übung den Auftakt für eine Aggression darstellen könnte. Zwecks Abbaus dieses Misstrauens einigten sich die Teilnehmerstaaten der OSZE im Jahr 1990 auf das sogenannte Wiener Dokument, das die Vertragsparteien dazu verpflichtet, Informationen über ihre Streitkräfte auszutauschen. Es verpflichtet die Unterzeichner auch, militärische Übungen ab einer gewissen Größe zu melden und dazu Beobachter einzuladen. Teilnehmerstaaten können auch kurzfristig Inspektionen militärischer Aktivitäten verlangen, um erhaltene Informationen zu überprüfen. Durchschnittlich führten die Teilnehmerstaaten in den letzten Jahren jeweils um die 90 Inspektionen und 45 Evaluierungsbesuche durch (1).
Der Geist des Wiener Dokuments ist auf Zusammenarbeit ausgelegt: Staaten, die eine Inspektion durchführen möchten, bringen Wünsche betreffend Raum, Zeit und Beobachtungsprogramm an, denen der Gastgeberstaat grundsätzlich nachzukommen hat. Einschränkungen muss er begründen. Allein das Verhalten eines Gastgeberlandes spricht hier manchmal für sich. Das Wiener Dokument dient aber der Überprüfung militärischer Aktivitäten und nicht der generellen Nachrichtenbeschaffung oder der Spionage. Deshalb sind Gastgeberstaaten vertraglich nicht verpflichtet, den Besuch gesperrter Örtlichkeiten oder geheimer Verteidigungsanlagen zu gestatten, deren Kenntnis ihre Sicherheit beeinträchtigen würde (2).
Missbrauch durch die NATO
Gerade im Zusammenhang mit dem Konflikt in und um die Ukraine missbrauchten NATO-Staaten das Wiener Dokument, um eine permanente militärische Präsenz von NATO-Offizieren in der Ukraine zu gewährleisten und Nachrichtendienst zu betreiben. Im Grand Hotel Ukraina in Dnepropetrovsk bzw. Dnipro gaben sich westliche Delegationen geradezu die Klinke in die Hand. Das erweckte den Argwohn Russlands. Damit wurden vertrauensbildende Maßnahmen ins Gegenteil verkehrt, nämlich in argwohn-stiftende Maßnahmen. Russland verweigert seither die Weiterentwicklung des Wiener Dokuments, wie sie gerade von Deutschland gefordert wird. Insbesondere die westliche Seite würde die Schwelle für die obligatorische Meldung von militärischen Aktivitäten gerne senken.
Das Wiener Dokument beinhaltet aber noch andere Maßnahmen, welche das Vertrauen zwischen den Teilnehmerstaaten und damit die Sicherheit erhöhen sollen. Dazu gehören auch Kontakte zwischen Militärs, zivilen Experten und militärischen Institutionen, gegenseitige Besuche von aktiven Truppenteilen, sowie die Teilnahme von Militärangehörigen an Lehrgängen fremder Militärakademien (3). Die, in diesem Zusammenhang stehenden Bemühungen, ein Netzwerk von Militärakademien aus Ost und West zu knüpfen, wurde aber von der Delegation Kanadas torpediert.
Derzeit sind keine Anzeichen sichtbar, dass die OSZE-Teilnehmerstaaten die Umsetzung des Wiener Dokuments beenden wollen. Im Gegenteil: Russland kündigte vor wenigen Tagen an, es wolle die Überprüfungstätigkeit nach dem Coronavirus-bedingten Unterbruch im August wiederaufnehmen. Eine Weiterentwicklung ist aber in weiter Ferne.
Der Vertrag über den offenen Himmel (OH)
Ein weiteres wichtiges Standbein vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen ist der Vertrag über den offenen Himmel (OH, englisch Open-skies-treaty), der in einem festgelegten Rahmen die kurzfristige Durchführung von Beobachtungsflügen im Luftraum anderer Teilnehmerstaaten ermöglicht. Als der damalige US-Präsident George Bush diese Idee im Jahr 1989 auf den Tisch legte, reagierte die sowjetische Seite skeptisch, weil sie befürchtete, solche Flüge könnten zu Spionagezwecken missbraucht werden. Die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), die schließlich zum KSE-Vertrag führten, beinhalteten auch Gespräche über ein entsprechendes Verifikationsregime. Überflüge über das Territorium der Vertragsstaaten sollten zeigen, ob deklarierte und effektive Stationierung übereinstimmen. Dass der OH-Vertrag generell als nützlich eingeschätzt wurde, zeigt der Umstand, dass er auch nach dem de facto Rückzug Russlands aus dem KSE-Vertrag 2007 in Kraft blieb und nach wie vor angewendet wird.
Dabei sind die Anzahl der Beobachtungsflüge, die ein Vertragsstaat durchführen darf, die Anzahl Beobachtungsflüge, die er erlauben muss und der Ablauf der einzelnen Beobachtungsflüge detailliert vorgeschrieben. Die Zeitverhältnisse, in denen Flüge durchzuführen sind, erlauben kaum Änderungen in der Dislokation großer Truppenteile. Aber auch hier gilt: das Abkommen soll nicht primär Spionage ermöglichen, sondern der Überprüfung getroffener Vereinbarungen dienen. Die Art und Leistungsfähigkeit eingesetzter Sensoren – erlaubt sind Foto-, Video- und Infrarotkameras, sowie Radar-Geräte – ist vorgeschrieben. Die Flugzeuge und ihre Sensoren werden zertifiziert, sodass alle Teilnehmer identische technischen Möglichkeiten haben und wissen, was fremde Inspektionsflugzeuge über ihrem Territorium aufzeichnen können. Die technischen Spezifikationen nehmen einen dementsprechend großen Raum im Vertragstext ein.
Natürlich gab und gibt es Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Umsetzung des OH-Vertrags. Russland warf den USA vor, durch technische Einschränkungen von 2002 bis 2015 die Durchführung von Beobachtungsflügen über entlegenen Pazifikinseln de facto verhindert zu haben. Darunter befinden sich Namen, die Kennern der Geschichte des Zweiten Weltkriegs vertraut sind, wie Midway, Wake, die Nördlichen Marianen und weitere. Einschränkungen gab es bis 2007 auch bei Flügen über Hawaii. Seit 2012 erlaubt Georgien keine Beobachtungsflüge durch Russland und Belarus, die gemeinsam fliegen, über seinem Territorium mehr und nimmt an keinen Beobachtungsflügen über Russland und Belarus mehr teil. Zu Beginn des Konflikts im Donbass entstanden Unstimmigkeiten in Bezug auf Flüge über Südrussland und der Ukraine. Im Januar 2016 konnten sich die Türkei und Russland nicht über die Route eines Fluges über der Türkei einigen, wodurch der Beobachtungsflug nicht zustande kam (4). Im Jahr 2017 schränkten die USA russische Flüge über dem US-Festland, den Aleuten und Alaska. ein, als Antwort auf russische Einschränkungen in Bezug auf Kaliningrad (5).
Was immer an diesen gegenseitigen Vorwürfen dran ist: Für den Fall von Meinungsverschiedenheiten gibt es eine spezielle Kommission, die Open Skies Consultative Commission (OSCC), die sich anlässlich regelmäßig stattfindender Sitzungen mit der Umsetzung des Abkommens und mit allfälligen Streitigkeiten beschäftigt. Sollte ein Vertragspartner den Eindruck haben, er sei bei Planung und Durchführung eines Beobachtungsfluges unnötig eingeschränkt worden, dann kann er sich an diese Kommission wenden und Erklärungen verlangen. Solche Vorkommnisse sind aber selten. Offenbar stuften seitens des Westens nur gerade die USA die entstandenen Unstimmigkeiten als gravierend an. Ihre westeuropäischen Partner äußerten nämlich unisono ihr Bedauern über den bevorstehenden Rückzug des USA aus dem Vertrag, welchen der Sicherheitsberater des US-Präsidenten am 21. Mai 2020 ankündigte (6).
In technischer Hinsicht war die Einführung von digitaler Beobachtungstechnik in russischen OH-Beobachtungsflugzeugen ab 2014 ein großer Streitpunkt. Die hohe Qualität der Technologie in den russischen Tupolevs und Antonovs überraschte die Amerikaner offenbar (7). Im Januar 2014 empfahl der zuständige US-Parlamentsausschuss den Streitkräften, auf eine Erneuerung ihrer veralteten OH-Beobachtungsflugzeuge zu verzichten, weil man diese Nachrichten auch mittels Spionagesatelliten beschaffen könne. Dementsprechend verweigerten die USA Russland die Erlaubnis, mit seinen neuen Flugzeugen Beobachtungsflüge über den USA durchzuführen: US-Politiker bezeichneten die russische Überwachungstechnik als besorgniserregend. Im Jahr 2018 verweigerte der zuständige Ausschuss des US-Repräsentantenhauses der Luftwaffe die Mittel für die Modernisierung ihrer OH-Beobachtungsflugzeuge. Die an den Tag gelegte Haltung von US-Politikern und die, von den US-Stabschefs geäußerte Behauptung, der Vertrag über den offenen Himmel gefährde die nationale Sicherheit der USA, weil er Russland die Durchführung von Spionageflügen über den USA erlaube, zeugt von einem eklatanten Mangel an Verständnis der Natur dieser Maßnahmen (8).
Seit dem Ende des Kalten Kriegs kehrten sich die Verhältnisse um: Nun sind es nicht mehr die Russen, die wegen möglicher Spionage argwöhnen, sondern die Amerikaner. Das war wohl der wahre Grund für den Rückzug der USA aus dem Vertrag und nicht die Unstimmigkeiten anlässlich von Inspektionsflügen.
Als Folge des Ausstiegs der USA aus dem Vertrag über den offenen Himmel werden keine Beobachtungsflüge über US-amerikanischem Territorium mehr stattfinden. Das bezieht sich aber nicht auf die US-Stützpunkte in verbündeten Ländern. Diese interessieren Russland wohl mehr, als das US-Territorium selbst. Die USA selbst erleiden keinen signifikanten Schaden, denn sie werden die Informationen, die ihre Verbündeten im Rahmen von solchen Flügen beschafften, auch so zur Verfügung gestellt bekommen. Das widerspräche zwar dem Vertrag, wird aber nicht zu verhindern sein. Kleinere Vertragsstaaten, die sich keine eigenen OH-Beobachtungsflugzeuge leisten können, sind die eigentlichen Verlierer des US-Rückzugs und werden nun gezwungen sein, sich andere Partner zu suchen, mit denen sie gemeinsam Beobachtungsflüge durchführen können.
Der INF Vertrag
Der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (englisch: Intermediate Range Nuclear Forces INF) war 1987 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geschlossen worden. Er verpflichtet beide Seiten zum Verzicht auf landgestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5'500 Kilometern. Zugleich untersagt er auch Produktion und Tests solcher Systeme (9). Wichtig ist hier festzuhalten, dass er sich auf landgestützte Systeme bezieht.
Bekanntermaßen warfen die USA Russland vor, schon seit 2015 durch die Entwicklung der "Iskander"-Rakete gegen den INF Vertrag verstoßen zu haben. Dabei handelt es sich um eine landgestützte Version der "Kalibr"-Raketen auf russischen Kriegsschiffen. Russland gab die Reichweite der Iskander, von der es eine ballistische Variante und einen Marschflugkörper gibt, mit 480 km an. Westliche Nachrichtendienste gehen aber von einer erheblich höheren Reichweite aus: Zahlen bis 2'500 km sind im Umlauf (10). Effektiv wird jedoch die Art des Gefechtskopfs einen großen Einfluss auf die Reichweite der Raketen bzw. Marschflugkörper haben. Während ein großer und schwerer konventioneller Gefechtskopf die Reichweite der Rakete reduzieren kann, könnte ein weniger schwerer nuklearer Gefechtskopf tatsächlich Reichweiten von über 500 km ermöglichen. Das wäre dann in der Tat über der vertraglich erlaubten Reichweite landgestützter nuklearer Systeme. Für die Iskandersoll es Sprengköpfe mit Splitterwirkung geben, solche mit Streubomben, mit fernverlegbaren Minen, mit Aerosol-Sprengladungen, sowie solche mit gehärteten Gefechtsköpfen, die tief ins Erdreich eindringen und unterirdische Anlagen zerstören. Auch von nichtnuklearen Sprengköpfen zur Erzeugung eines elektromagnetischen Impulses war schon die Rede, der funktechnische Anlagen aller Art zerstören kann. Generell spielten Möglichkeiten der nichtnuklearen strategischen Abschreckung in den vergangenen Jahren eine große Rolle in der Diskussion in russischen Armeekreisen. Der INF-Vertrag bezieht sich aber ausschließlich auf Nuklearwaffen.
Russland seinerseits kritisierte im Zusammenhang mit der europäischen Raketenabwehr immer wieder, dass eine solche die Zweitschlagfähigkeit Russlands in einem Atomkrieg beeinträchtige. Nachdem die Bodenradarstation im polnischen Redzikowo bei Gdansk/Danzig mittlerweile in der Reichweite der IskanderRaketen liegt, könnte Russland mit einem Angriff auf dieses vitale Element des europäischen Raketenschirms seine Zweitschlagfähigkeit wiederherstellen.
Die Raketen des Typs Iskander sind aber nicht die einzigen Waffensysteme, welche diese Aufgabe übernehmen können. Alternativ könnten auch die, mit der erwähnten Kalibr-Rakete ausgerüsteten Kriegsschiffe diese Aufgabe übernehmen. Korvetten, Fregatten und U-Boote verschiedener Klassen der russischen Marine können solche Waffen einsetzen. Daneben sollen russische U-Boote des Projekts 949A und die Kreuzer der Kirow-Klasse im Zuge der Generalüberholung mit Kalibr Marschflugkörpern ausgerüstet werden. Insbesondere die Raketen-Korvetten der Bujan-Klasse sind klein genug, um auch auf vielen Flüssen und Kanälen Russlands zu fahren und können bei Bedarf in Abschusspositionen gebracht werden, zu denen auch überlegene Seestreitkräfte keinen Zugang haben. Russland braucht keine landgestützten Mittelstreckenraketen, hätte aber allen Grund, sich über die Entwicklung von atomaren Mittelstreckenraketen in seiner Nachbarschaft zu beklagen, konkret im Iran, Pakistan, Indien, Nordkorea und China.
New START Vertrag
Am 8. April 2010 unterzeichneten US-Präsident Barack Obama und der russische Präsident Dmitri Medwedew in Prag den sogenannten New-START-Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Reduktion und Begrenzung der strategischen Angriffswaffen (11). Bis dato hielten beide Seiten die Bestimmungen des Vertrags ein. Der Vertrag läuft im Februar 2021 aus, es sei denn, er werde um weitere fünf Jahren verlängert. Bereits im Oktober 2019 drängte der russische Präsident Wladimir Putin darauf, den Vertrag zu verlängern und erklärte, Russland habe den USA entsprechende Vorschläge unterbreitet (12). Die US-Administration unter Präsident Trump fordert jedoch einen Einbezug Chinas in die Abrüstungsverhandlungen, führte bisher aber keine diesbezüglichen Gespräche mit Peking. Dieses wiederum lehnte bis heute jede Teilnahme an solchen Gesprächen ab, weil das eigene Atomwaffenarsenal unverhältnismäßig kleiner sei als dasjenige der beiden Großmächte (13). Als Nachbar Chinas hätte Russland genauso gute Gründe, eine Integration Pekings in die Verhandlungen zu fordern. Angesichts der kurzen, noch zur Verfügung stehenden Zeit bis zum Auslaufen des Vertrags käme das aber einer Torpedierung des Ansinnens gleich. Immerhin kamen am 22. Juni dieses Jahres in Wien Gespräche zwischen den USA und Russland zustande, aber die Resultate sind bescheiden: Man einigte sich auf die Fortsetzung der Gespräche und die Einsetzung von Expertengruppen (14).
Solange die USA und Russland zusammen um die 90% der weltweiten Atomsprengköpfe ihr Eigen nennen, ist ein Einbezug Pekings in Abrüstungsgespräche ebenso wenig zwingend, wie derjenige Frankreichs oder Großbritanniens. In diesem Licht ist auch der Ausstieg der USA aus dem Atomwaffen-Deal mit dem Iran unverständlich. Nachdem seitens der USA nun doch ein minimales Interesse an dem Vertrag zu existieren scheint, könnte Russland versuchen, sein Entgegenkommen in diesem Bereich an Zugeständnisse der USA in anderen Bereichen zu knüpfen. Dann wird man sehen, wie wichtig diese Frage der Administration Trump wirklich ist.
Atomwaffenverbotsvertrag
Auf der UN-Generalversammlung im. September 2017 unterzeichneten 53 Staaten den Atomwaffenverbotsvertrag (englisch: Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, abgekürztTPNW), welcher Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Kernwaffen verbietet, sowie die Drohung damit. Die offiziellen, die de facto Atommächte und die NATO-Staaten mit Ausnahme der Niederlande nahmen nicht an den Verhandlungen teil. Die anderen europäischen Länder der nuklearen Teilhabe, insbesondere Deutschland, Italien, Belgien und die Türkei mochten sich ebenfalls nicht beteiligen. Bis Januar 2020 ratifizierten 34 Staaten – darunter Österreich – den Vertrag, der 90 Tage nach der 50. Ratifizierung in Kraft treten wird (15). Das ist der Versuch der Nicht-Atomstaaten, die offiziellen Atommächte völkerrechtlich ins Abseits zu stellen. Ansonsten werden die praktischen Auswirkungen wohl gering sein.
Die Rolle der Neutralen
Trotz aller Misstöne ist Wien einer der wenigen Orte, wo Ost und West noch miteinander sprechen, seit der NATO – Russland Rat auf Eis gelegt und russische Vertreter aus allen gemeinsamen Gremien hinauskomplimentiert wurden. Es wird interessant sein zu sehen, wie die Großmächte weiter verfahren, denn die Funktion der OSZE als Dialog-Plattform leidet derzeit unter der Strategie einer Reihe westlicher Staaten, welche Russland für die, nach ihrer Lesart illegalen Annexion der Krim und sein Verhalten im Konflikt in und um die Ukraine bestrafen und generell isolieren wollen; inwieweit dies mit einem permanenten Mitglied des UN-Sicherheitsrats überhaupt möglich ist. Die aktuellen Intrigen um die Führung der OSZE sind kein ermutigendes Zeichen. Interessant wird auch sein, wie die westlichen Verbündeten in Zukunft mit Neutralen wie Österreich, der Schweiz und anderen Ländern umgehen, die traditionell eine Brückenfunktion wahrnehmen. Ob inskünftig vielleicht Moldawien zu diesen Staaten gehört, wird sich weisen. Ganz bestimmt sind die Europäer an der Bewahrung des Systems kollektiver Sicherheit in Europa interessiert. Die Interessengegensätze zu den USA werden immer deutlicher. Die USA sind daran, sich selbst zu isolieren.
Fazit
Bei all diesen Verträgen zeigt das Verhalten der USA dasselbe Schema: Sind die USA mit der Umsetzung eines bestimmten Vertrags nicht zufrieden, dann bemühen sie sich nicht, eine gütliche Einigung zu erzielen, nein sie stellen gleich den ganzen Vertrag in Frage. Ob es hier darum geht, kompromisslos die amerikanische Auffassung über die Anwendung der Verträge durchzusetzen, oder ob die Verträge selbst definitiv beseitigt werden sollen, ist nicht ganz klar. Dieses Verhalten kann sich noch über Jahrzehnte hinaus rächen, denn einzelne dieser Verträge sind nicht so einfach wieder zu schließen, selbst wenn nach den US-Präsidentschaftswahlen im November ein völlig anderer Wind wehen sollte. Die Frage ist auch, ob Washington danach valable Alternativen präsentiert, oder ob es nur beim Anzetteln neuer Kriege die Führungsrolle in der sogenannten freien Welt wahrnimmt. Dass bilaterale Rüstungskontrollverträge mit Russland die USA im beginnenden Rüstungswettlauf mit China binden könnten, ist ein Risiko, das nicht auf Europa überwälzt werden sollte. Das Unbehagen der Westeuropäer, die sehen, dass die kollektive Sicherheit auf ihrem Kontinent nun in die Hände willfähriger Helfer der USA, von Nationalisten und von Revanchisten übergeben wird, ist nachvollziehbar.
Generell muss die Forderung westlicher Staaten nach einer Weiterentwicklung des Wiener Dokuments zu einem Zeitpunkt, in welchem die USA aus dem Open Skies Vertrag aussteigen, gerade auf Russland einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Letzten Endes fragt es sich, welchen Sinn vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in einer Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens noch haben.
"America first": Die USA werden immer weniger relevant für die europäische Sicherheit.
Anmerkungen
Informationen zum Wiener Dokument: https://www.osce.org/de/mc/87615. https://www.osce.org/files/f/documents/b/e/86599.pdf.
Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen 2011 (WD 11), Artikel 52, 53 und 81.
WD 11, Artikel 30.
https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-turkey-russia-idUSKCN0VD0OW
Statement by the Delegation of the Russian federation at the conference of the state parties to the Treaty on Open Skies, 06.07.2020: On the non-compliance by the United States with its obligations under the Treaty on Open Skies. Vgl. https://www.nti.org/learn/treaties-and-regimes/treaty-on-open-skies/. Die Sicht der USA: https://www.state.gov/on-the-treaty-on-open-skies/.
http://globalconflict.ru/geopolitics/61662-mid-rf-nazval-prichinu-otmeny-nablyudatelnogo-poleta-ssha.
https://www.defensenews.com/home/2016/03/02/pentagon-official-decries-russian-flights-over-us/
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-12/inf-vertrag-usa-russland-ruestungskontrolle-verantwortung-5vor8; https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-02/atomare-abruestung-russland-wladimir-putin-aussetzen-usa
https://www.nzz.ch/international/washington-wirft-moskau-vertragsbruch-vor-russlands-mysterioese-lenkwaffe-ld.150183; https://missilethreat.csis.org/missile/ssc-8-novator-9m729/; https://nationalinterest.org/blog/the-buzz/novator-9m729-the-russian-missile-broke-inf-treatys-back-23547; https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/inf-vertrag-atomabkommen-ruestung-usa-russland-europa-5vor8; http://www.armscontrolwonk.com/archive/207816/russian-cruise-missiles-revisited/; https://freebeacon.com/national-security/russia-again-flight-tests-illegal-inf-cruise-missile/.
Vertragstext: https://www.atomwaffena-z.info/fileadmin/user_upload/pdf/wortlaut_start2010.pdf; https://www.zeit.de/politik/ausland/2010-03/obama-medwedjew-start; https://www.nzz.ch/start-vertrag_usa_russland_atomwaffen-1.8816152; https://www.spiegel.de/politik/ausland/abruestung-duma-stimmt-start-vertrag-mit-usa-zu-a-741567.html; Übersicht: https://fas.org/sgp/crs/nuke/R41219.pdf; https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-02/new-start-vertrag-russland-usa-atomwaffen.
https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-usa-putin-will-atomgespraeche-1.4638584
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138096.abruestungsverhandlungen-kein-re-start-in-wien.html
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