Eine zweite Agenda / Sanktionen machen Deutschland und Europa mehr zu schaffen als von ihren Erfindern gedacht / Profiteur sind die USA

Von Hans-Georg Münster

Es tut sich etwas in Berlin. Abzulesen ist das an, wie ich des nenne, dem Melnyk-Faktor. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk beherrschte seit Beginn der Auseinandersetzungen in seinem Land die deutschen Medien und die Politik. Melnyk trat morgens im Frühstücksfernsehen auf, mittags hörte man im Radio über Melnyk-Interviews aus Zeitungen und abends saß er in einer Talk-Show. Inzwischen können jedoch vier Tage vergehen, ohne dass der Name Melnyk in der staatsnahen Nachrichtenagentur dpa, die die gesamte deutsche Medienberichterstattung bestimmt, überhaupt auftaucht. In der Haushaltsdebatte des Bundestages brachte CDU/CSU-Oppositionsführer Friedrich Merz die Sache auf den Punkt, indem er Kanzler Olaf Scholz fragte: „Gibt es eine zweite Agenda?“

Ja die gibt es, und Umrisse einer zweiten Agenda zeichnen sich bereits ab. Kaum jemandem ist aufgefallen, dass Scholz sich 80 Minuten Zeit nahm, um mit Kremlchef Wladimir Putin zu telefonieren. Als der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk im Bundestag zu Gast war, war von Scholz nicht zu sehen. Es gab kein Gespräch mit Stefantschuk, nicht einmal einen Fototermin. 

In den Redaktionen und Fernsehanstalten werden die feinen Signale aus der Politik inzwischen verstanden. Das funktioniert so: Soll Melnyk zur Talkshow geladen werden, haben prominente Politiker auf einmal keine Zeit und schicken die zweite Garnitur. Aus dem Berliner Auswärtigen Amt schallt allerdings noch die bisher übliche Propaganda. In der Haushaltsdebatte des Bundestages erklärte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), notwendig seien ein langer Atem und weitere Waffenlieferungen. „Wir verteidigen die Menschen in der Ukraine so wie wir das können“, erklärte Baerbock und verwies auf das von Deutschland zugesagte Flugabwehrsystem Iris-T. Das Iris-T aktuell gar nicht verfügbar ist und frühestens zum Jahresende geliefert werden könnte, sagte Baerbock nicht. Genauso wenig sagte sie, dass es zu wenige Raketen für das System gibt, und sie verschwieg auch, dass es an Munition für die der Ukraine zugesagten Flakpanzer „Gepard“ mangelt. Die öffentliche Ankündigung deutscher Waffenlieferungen steht im eklatanten Widerspruch zu ihrer Wirksamkeit auf dem Gefechtsfeld.

Dafür sorgt man sich in der Wirtschaft und offenbar auch im Kanzleramt inzwischen wegen der Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen auf Deutschland. Die Wirtschaft steuert auf eine der schwersten Krisen seit der Ölkrise Anfang der 1970-er Jahre zu. Durch die hohe Inflation droht vielen Menschen Armut. Nur preiswerte Energie kann Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erhalten und vor allem die Energiewende, das Lieblingsprojekt der rot-grün-gelben Regierung, vor dem Scheitern retten. Öl und Gas gibt es auf dem Weltmarkt genug, aber zu wettbewerbsfähigen Preisen gab es Öl und Gas bisher nur aus Russland. Und diese Quellen wurden sehenden Auges verstopft.

Zu den wirtschaftlichen Problemen gesellt sich das Risiko, dass die EU auseinander bricht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das sechste Sanktionspaket gegen Russland auch das letzte gewesen sein dürfte, da die Interessen der EU-Länder zu weit auseinanderlaufen. Von einem Gas-Embargo ist schon lange keine Rede mehr, und über den Stopp von russischen Uran-Lieferungen an Frankreich (das dringend darauf angewiesen ist) und mehrere Länder Osteuropas wurde nicht einmal diskutiert. Durch den Einfluss französischer Diplomaten in der EU fiel das Thema Uran einfach unter den Tisch – eine der größten Meisterleistungen der französischen Diplomatie seit ihrem legendären Außenminister Talleyrand auf dem Wiener Kongress 1814/15. Der Sanktionsbeschluss aus Brüssel sei „löchrig wie ein Schweizer Käse“, kritisierte die Tageszeitung „Die Welt“. Russland könnte sich angesichts der Übergangsfristen von acht Monaten neue Abnehmer für sein Öl in Asien suchen und finden. Und bis dahin würden jeden Tag noch 450 Millionen Euro für russische Öllieferungen nach Europa bezahlt.

Beim sechsten Sanktionspaket ist den Menschen nicht mehr verständlich zu machen, dass Ungarn und Bulgarien weiterhin russisches Öl beziehen können und griechische und zypriotische Schiffe russisches Öl in Drittländer transportieren können, während in Deutschland die Benzinpreise schon allein wegen der Embargo-Ankündigungen explodieren. Griechische und zypriotische Reeder beherrschen den Welthandel auf dem Meer. Nur Deutschland musste sich auf Drängen der Niederlande bei den Verhandlungen schriftlich verpflichten, künftig auf Ölimporte über die Druschba-Pipeline zu verzichten. Wenn der CSU-Europapolitiker Manfred Weber behauptet, es sei Putin nicht gelungen Europa zu spalten und dass Putins Geschäftsmodell zu Ende sei, so irrt er. 

Die Folgen der Corona-Krise, die steigenden Energiekosten und die schon vor dem Ukraine Konflikt begonnene Inflation haben längst zu einer Spaltung Europas geführt. Die EU ist gelähmt, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen muss wegen ihres mit keinem Land abgestimmten Vorpreschens beim Ölembargo mit Ablösung rechnen oder wird zum Rücktritt gezwungen werden. Die Euro-Währung kommt mit jedem Prozentpunkt Zinserhöhung auf dem internationalen Kapitalmarkt stärker ins Wanken und droht auseinanderzubrechen, weil Italien, Spanien und Frankreich angesichts ihrer Staatsverschuldung keine höheren Zinsen verkraften werden. Bei dem Berg von Problemen, die die Stabilität in Europa gefährden und an das Jahr 1913, das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, erinnern, könnte der Ukraine-Konflikt bald eine Nebenrolle spielen.  

Ein wichtiges Signal kam aus dem schweizerischen Davos. Dort trat der 99 Jahre alte ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger auf. Dessen dringender Rat bestand darin, Europas Stabilität nicht wegen ein paar Quadratkilometern im Donbass aufs Spiel zu setzen. Die Ukraine müsse Territorien an Russland abtreten, um einen Frieden möglich zu machen, forderte Kissinger. Außerdem warnte er vor einer demütigenden Niederlage Russlands, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde.

George Soros, US-amerikanischer Milliardär und eine der zwielichtigen Gestalten unserer Zeit, der den Konflikt um die Ukraine über seine Stiftungen und seinen öffentlichen Einfluss kräftig angeheizt hatte, tobte. Allen Ernstes behauptete er, die einzige Möglichkeit zum Erhalt der Zivilisation sei ein Sieg über Putin, wurde er aus Davos zitiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sah Kissinger im Jahr 1938 angekommen, als die Westmächte Hitler das tschechische Sudetenland überließen und glaubten, damit den Krieg verhindert zu haben. Doch Selenskyjs Vergleich ist falsch. 1938 war Europa nicht stabil. Es war schon seit Versailles nicht stabil. Hitler war die Konsequenz aus Versailles und der Hyper-Inflation in Deutschland. 1990 hingegen war nach dem Ende des Kalten Krieges und mit der deutschen Wiedervereinigung eine stabile Lage in Europa unter Einbeziehung Russlands geschaffen worden, die jedoch von den Vereinigten Staaten durch die NATO-Osterweiterung und Leuten wie Soros durch einseitige Propaganda in den folgenden Jahrzehnten an mehreren Stellen brüchig geworden ist. 

Den Vereinigten Staaten, das muss man offen so sagen, kommt die Situation in Europa entgegen. Der ewige Rivale Russland wird geschwächt, die Europäische Union zerlegt sich, und Deutschland bestellt für 100 Milliarden Euro neue Flugzeuge, Hubschrauber und Waffen überwiegend bei amerikanischen Herstellern. Die deutsche Wirtschaft, bisher scharfer Konkurrent Amerikas auf dem Weltmarkt, ächzt unter den hohen Öl- und Gaspreisen. Parallel dazu kann Amerika den Deutschen überteuertes Schieferöl und Fracking-Gas aus eigener Förderung verkaufen. Die auf diese Fördermethoden spezialisierten US-Öl- und Gasfirmen waren fast alle kurz vor der Pleite; jetzt blüht das Geschäft mit den „Stupid Germans“, den dummen Deutschen, wie man in Amerika sagt. Sie können gar nicht schnell genug Schieferöl und Fracking-Gas aus USA ordern, dessen Förderung in Deutschland auf Druck der Grünen aus Umweltschutzgründen strikt verboten ist. Besser kann es aus Sicht der Biden-Administration eigentlich gar nicht mehr laufen. 

Doch es liegt etwas in der Luft. Die tschechische Zeitung Hospodarske Noviny meinte: „Henry Kissinger sprach laut aus, was die Mehrheit westlicher Politiker hinter vorgehaltener Hand diskutiert.“ Auch der französische Präsident Macron will auf Diplomatie setzen. Putin dürfe nicht erniedrigt werden, wird er zitiert. Und wer Scholz genau zuhört, merkt schnell, dass sein Satz „Putin wird nicht gewinnen“ nicht mit dem Kriegsgeschrei des grünen Koalitionspartners kompatibel ist. Europa hat noch Chancen auf Stabilität und Frieden. Das geht nur mit und nicht gegen Russland.

Bilder: depositphotos

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