Ein Monat Krieg in Berg-Karabach

Oberst d.G. Gerd Brenner

Der neuste humanitäre Waffenstillstand wird den, seit einem Monat tobenden Krieg in Berg-Karabach nicht beenden und einen Frieden im nun schon 30 Jahre dauernden Krieg wird  wohl erst die sogenannte Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE verhandeln. Dort dürfte nach den Ereignissen der letzten Wochen die Stimmung gegenüber Aserbaidschan eher unfreundlich sein. Der Präsident Aserbaidschans, Ilham Alijew ist jetzt dringend auf durchschlagende militärische Erfolge angewiesen – und auf die Schützenhilfe seines großen Bruders aus Ankara.
Am Montagmorgen um 8 Uhr trat nun schon der dritte humanitäre Waffenstillstand im Konflikt in Berg-Karabach in Kraft. An seinem Zustandekommen waren die Außenminister der USA, Russlands und Frankreichs beteiligt gewesen (1). Humanitär bedeutet in diesem Fall, dass er geschlossen wurde, um Evakuationen, sowie die Bergung Verletzter und Toter zu ermöglichen - mehr nicht. Dementsprechend rasch wurde er wieder verletzt, wofür sich die Kriegsparteien gegenseitig die Schuld zuschoben (2). Erfahrene Beobachter des Konflikts in Berg-Karabach sind sich darüber im Klaren, dass diese Verletzungen des Waffenstillstands nicht durch undisziplinierte Hitzköpfe auf der einen oder anderen Seite verursacht wurden. In den vielen Jahren seit dem Kriegsende 1994 hatte es sich immer wieder gezeigt, dass die schweren Waffen auf beiden Seiten unter Kontrolle der Befehlshaber sind. Der Bruch des Waffenstillstands, von wem er auch immer ausging, war gewollt. Beide Seiten sind offenbar noch lange nicht gewillt, die Kampfhandlungen zu beenden.
Der aserbaidschanische Angriff
Seit dem Beginn ihres Angriffs am 27. September gelangen der aserbaidschanischen Armee im nördlichen Abschnitt der Grenze zur Republik Arzach, wie sich die  Republik von Berg-Karabach selbst nennt, keine nennenswerten Geländegewinne. Ihr gelang es offenbar lediglich, die schon früher umkämpften Grenzdörfer Talysh und Mataghis im äußersten Nordosten von Arzach unter ihre Kontrolle zu bringen – und auch das nur zeitweise. In wessen Hand diese Ortschaften nun sind, ist unklar. Talysh soll sich in aserbaidschanischer Hand befinden, Mataghis erneut in armenischer (3). Im Süden der Front stieß die aserbaidschanische Armee von Horadiz aus erst in Richtung Hadrut und – nachdem ihr die Eroberung der Stadt offenbar lange nicht gelungen war - entlang des Arax Flusses nach Westen vor (4). Die Aserbaidschaner behaupten, sie hätten dort, im südlichen Teil der armenischen Provinz Kapan, die Staatsgrenze Armeniens erreicht. Wenn dem so wäre, dann wäre das Gebiet von Berg-Karabach vom Territorium des Iran isoliert. Die armenische Seite bestätigt dies allerdings nicht.  Dies ist deshalb von Bedeutung, weil der Iran traditionell gute Beziehungen zu Armenien pflegt und derzeit nicht bereit ist, die schiitischen Glaubensbrüder in Aserbaidschan gegen die christlichen Armenier zu unterstützen. Teheran gibt sich pragmatisch. Vom äußersten Süden Arzachs aus dürften die aserbaidschanischen Truppen in den nächsten Tagen weiterhin versuchen, die Ortschaften Laçin/Berdzor und Shushi/Shusha einzunehmen. Damit wäre der Laçin-Korridor, die wichtigste Verbindung zwischen Berg-Karabach und Armenien unterbrochen und Aserbaidschan könnte das Problem der abtrünnigen Provinz militärisch lösen. Das ist wohl das Kalkül des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew. Bislang ist den Aserbaidschanern auch kein Einbruch ins Tal des Terter im Norden Arzachs gelungen, in welchem der sogenannte Vardenis-Martakert-Highway verläuft, die zweite Verbindung zwischen Berg-Karabach und Armenien (6).
Ein alter Konflikt
Nach dem Zerfall der Sowjetunion  im Jahr 1991 erklärte sich die autonome Oblast Berg-Karabach sofort für unabhängig und konnte danach von der Armee Aserbaidschans nie zurückerobert werden. Im Gegenteil: Im Jahr 1994 endete der Krieg in Berg-Karabach nach großen Geländegewinnen der Truppen Armeniens und der Republik Berg-Karabach, die nicht nur das Gebiet von Berg-Karabach halten konnten, sondern auch noch aserbaidschanische Gebiete darum herum eroberten. Diese, heute weitgehend menschenleeren Gebiete dienten den Armeniern in der Folge als eine Art Pufferzone.
Seit über 25 Jahren bemüht sich eine Gruppe von OSZE-Teilnehmerstaaten, den Konflikt um Berg-Karabach mit friedlichen politischen Mitteln zu lösen. Dieser sogenannten Minsker Gruppe stehen die USA, Russland und Frankreich gemeinsam als Co-Chairs vor. Diese Staatengruppe entwickelte die Madrider Prinzipien, welche unter anderem die Rückgabe der Pufferzone vorsehen, also von jenen aserbaidschanischen Gebieten, die nie Teil der autonomen Oblast von Berg-Karabach gewesen und die immer mehrheitlich von Aserbaidschanern bewohnt worden waren. Madrider Prinzipien heißen diese Grundsätze der Konfliktlösung deshalb, weil sie erstmals auf dem OSZE-Ministerrat im Jahr 2007 den Vertretern der Konfliktparteien präsentiert wurden (7). Die Madrider Prinzipien sehen aber keine Rückgabe des Laçin Korridors an Aserbaidschan vor, der Berg-Karabach mit Armenien verbindet.
Auch der UN-Sicherheitsrat beschäftigte sich bereits mehrmals mit dem Konflikt in Berg-Karabach und zeigte sich besorgt über die Besetzung aserbaidschanischen Territoriums außerhalb des Kernlandes von Berg-Karabach durch Armenien (8). Das betrifft allerdings nicht die Republik Arzach selbst.
Dass es ihm allerdings nicht um die Umsetzung der Madrider Prinzipien geht, zeigte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew erneut, als er kürzlich eine Volksabstimmung in Berg-Karabach über den Status des Gebiets kategorisch ausschloss (9). Eine solche Abstimmung ist in den Madrider Prinzipien aber explizit vorgesehen. Gestützt auf seine militärischen Erfolge und die Allianz mit der Türkei glaubt Alijew derzeit offenbar, sich eine derartig arrogante Haltung leisten zu können. Diese Haltung war bereits beim aserbaidschanischen Vorstoß auf die Stadt Hadrut zutage getreten: Bei dieser handelt es sich um eine rein armenisch bewohnte Kleinstadt auf dem Gebiet der ehemaligen autonomen Oblast Berg-Karabach, die nie Gegenstand der Rückgabeforderungen gemäß den Madrider Prinzipien war. Hadrut ist Teil jener Gebiete, die ihren Status in der erwähnten Volksabstimmung selbst festlegen sollen.
In den vergangenen Wochen kritisierte Aserbaidschan die Minsker Gruppe mehrmals, weil es ihr in vielen Jahren nicht gelungen sei, Aserbaidschans territoriale Integrität wiederherzustellen (10). Trotz aller Meinungsverschiedenheiten auf den verschiedensten Gebieten blieben die USA, Russland und Frankreich in den letzten Wochen aber geeint. Russland ist Verbündeter Armeniens in der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit OVKS, pflegt aber auch gute Beziehungen zu Aserbaidschan. Im September hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow bereits einen humanitären Waffenstillstand vermittelt. Und vor wenigen Tagen stellte die US-amerikanische Botschafterin bei der NATO, Kay Bailey Hutchison, die Haltung der US-Regierung klar: Der Konflikt um Berg-Karabach könne nicht durch militärische Aktionen gelöst werden (11). Genau das aber versucht Alijew derzeit.
Verzögerter Vorstoß der aserbaidschanischen Armee
Die Strecke von den aserbaidschanischen Ausgangsstellungen bei Horadiz bis an die armenische Grenze südlich der armenischen Stadt Kapan beträgt circa 90 Kilometer. Offenbar musste die aserbaidschanische Armee im Zuge der Kämpfe um Hadrut ihr 4. Armeekorps einsetzen.  Gemäß Doktrin hätte das in Front eingesetzte 2. aserbaidschanische Armeekorps diese Aufgabe eigentlich innerhalb von 10 bis 14 Tagen alleine lösen sollen, aber dies gelang offenbar nicht wie gewünscht (12). Dass die Vorstöße nicht so schnell erfolgten, wie die Aserbaidschaner gehofft hatten, zeigte auch die Rede von Präsident Alijew vom vergangenen Sonntag. In dieser forderte er, die laufende Operation müsse beschleunigt werden und bedauerte, dass gewisse Waffen sich als weniger effektiv erwiesen hätten, als erhofft (13). Ihm läuft offenbar die Zeit davon.
Am vergangenen Sonntag wurden nun russische Truppen in Armenien, nahe am Laçin-Korridor gesehen (14). Es ist nicht anzunehmen, dass Russland unilateral Truppen an der Grenze zu Arzach aufmarschieren lässt, während es parallel mit den anderen Minsker Co-Chairs einen Waffenstillstand vermittelt. Vielmehr ist anzunehmen, dass dieser Schritt mit den USA und Frankreich abgestimmt war. Seit Tagen verdichten sich überdies Informationen über den Aufmarsch iranischer Truppen an der Grenze zu Aserbaidschan bzw. Berg-Karabach (15). Auf der anderen Seite ist offensichtlich, dass die Türkei Aserbaidschan permanent mit Waffen beliefert, syrische Söldner in den Krieg entsendet, und bereit ist, zugunsten Aserbaidschans in den Krieg einzutreten (16). Dass er damit eine russische Intervention auf der Seite Armeniens herausfordert, ist dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan sicherlich bewusst. Offenbar legt er es darauf an, Russlands Entschlossenheit und sie Einigkeit der Minsker Co-Chairs zu testen.
Fazit
Die Ereignisse der letzten Tage lassen die Schlussfolgerung zu, dass man sich in Moskau, Paris und Washington einig wurde, dass die Türkei im Konflikt um Berg-Karabach keine Rolle zu spielen hat. Die Stationierung russischer Truppen nahe am Laçin Korridor zeigt, wo die rote Linie ist. Wenn die Türkei jetzt die Konfrontation mit Russland sucht, dann muss sie das ohne Unterstützung des Westens tun. Erdoğan hat den Bogen überspannt.
Alijew glaubte, er könne die Gunst der Stunde nutzen und profitierte, so viel er eben konnte. Jetzt ist er unter Druck, militärische Erfolge vorzuweisen und abhängig von seinem großen Bruder aus Ankara. Wer die Logik der jüngst wieder in Gebrauch gekommenen Stellvertreterkriege kennt, weiß, dass Alijew sich selbst ins Visier derjenigen Mächte gebracht hat, die er in den letzten Tagen so offen desavouierte. Für die türkische Führung war er ein Mittel zum Zweck und riskiert abserviert zu werden, wenn er nicht mehr nützlich ist. Der Angriff auf Berg-Karabach könnte sich für ihn als kontraproduktiv erweisen. 

Anmerkungen:

 

  1. https://twitter.com/SecPompeo/status/1320452976809529350; https://twitter.com/NKobserver/status/1320581104621899776?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Eembeddedtimeline%7Ctwterm%5Eprofile%3ANKobserver%7Ctwcon%5Etimelinechrome&ref_url=https%3A%2F%2Fnkobserver.com%2F

  2. Die aserbaidschanische Version: https://mod.gov.az/az/news/ermenistan-yeni-ateskes-rejimini-kobud-suretde-pozdu-33327.html; die armenische: https://twitter.com/ShStepanyan/status/1320595284712411137

  3. Talysh ist in aserbaidschanischer Hand, während die Armenier die Ortschaft Magadiz offenbar zurückerobern konnten. Vgl https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52337/

  4. Vgl. http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/52412/. Lagekarte des Verteidigungsministeriums von Arzach: https://t.me/military_arm/2651

  5. Bekanntmachung Alijews: https://twitter.com/azpresident/status/1319287145996058628; armenisches Dementi: https://twitter.com/NKobserver/status/1320121252913147904/photo/1

  6. https://www.armeniafund.org/project/vardenis-martakert-highway/

  7. Zu den Madrider Prinzipien siehe https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSS-Analysen_131-DE.pdf. Die Minsker Gruppe besteht aus Belarus, Deutschland, Italien, Schweden, Finnland und der Türkei. Dazu kommen die Mitglieder der Troika, der Führung der OSZE, das heißt derzeit Albanien, die Slowakei und Schweden. Die Mitgliedschaft der Türkei in der Minsker Gruppe ist höchst umstritten, ebenso wie die türkische Vertretung in der Hochrangigen Planungsgruppe der OSZE.

  8. Siehe die UN Sicherheitsrats-Resolutionen 822, 853, 874 und 884. 

  9. Interview mit der japanischen Zeitung „Nikkei Asia“: https://asia.nikkei.com/Editor-s-Picks/Interview/Azerbaijan-s-president-calls-on-Armenia-to-return-land-for-peace

  10. https://www.bbc.com/russian/live/news-54317944

  11. Siehe https://nato.usmission.gov/october-21-2020-press-briefing-with-kay-bailey-hutchison/

  12. https://free-news.su/voennye-konflikty/49216-sirijskie-boeviki-v-karabaxe; https://news.rambler.ru/caucasus/45004809-peremirie-v-karabahe-zakonchilos-edva-nachavshis-pochemu-peregovory-okazalis-bespolezny/

  13. https://twitter.com/raufnmammadov/status/1320437244621131779.

  14. https://oc-media.org/live-updates-day-29-of-fighting-in-nagorno-karabakh/ und https://twitter.com/aldin_ww/status/1320255798061170688/photo/1

  15. https://twitter.com/Armineaslan/status/1320130012348112896; https://twitter.com/OCMediaorg/status/1320352086048055296?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Eembeddedtimeline%7Ctwterm%5Eprofile%3ANKobserver%7Ctwcon%5Etimelinechrome&ref_url=https%3A%2F%2Fnkobserver.com%2F; https://twitter.com/salamy_ir/status/1320676491244560384?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Eembeddedtimeline%7Ctwterm%5Eprofile%3ANKobserver&ref_url=https%3A%2F%2Fnkobserver.com%2F. Iranisches Eingreifen in den Konflikt? https://twitter.com/ProfBShaffer/status/1320786910336454656

  16. Die neusten Meldungen über die Lieferung türkischer Drohnen: https://twitter.com/VaheBalabanian/status/1320741900194861056. Die neusten Beweise für den Einsatz yrischer Söldner: https://twitter.com/AKMcKeever/status/1320743996726136832. Türkische Truppen zugunsten Aserbaidschans: https://www.trtworld.com/asia/turkey-says-it-will-send-troops-to-help-azerbaijan-if-requested-40772.

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