Von Hans-Georg Münster
Es ist das Merkmal jeder Propaganda, dass sich ihre Wirkung über kurz oder lang erschöpft und sich eine realistische Betrachtung durchsetzt. Genau das ist im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Ukraine derzeit in Deutschland zu beobachten.
„Ist da etwas schief gegangen?,“ fragte etwa der SPD-Außenpolitiker Michael Roth in einer Bundestagsdebatte am 16. November 2023.
Ja, es ist sogar sehr viel schief gegangen. Die von deutscher Politik und Medien ständig neu aufbereiteten Erzählungen vom bald bevorstehenden ukrainischen Sieg über Russland und einer Eroberung der Krim durch ukrainische Truppen sind seltener geworden oder gar nicht mehr zu sehen und zu hören. Längst hat der Krieg im Gaza-Streifen die Nachrichten aus der Ukraine verdrängt. Die deutsche Debatte über diesen Konflikt findet fast nur noch im Verborgenen statt.
Dort wird aber die Lage inzwischen realistischer beurteilt. Nur wenige in Deutschland dürften den Mittler-Verlag und seine Zeitschrift „Soldat und Technik“ kennen. Der Verlag gilt als eine zivile Vorfeldorganisation des Bundesverteidigungsministeriums. Seine Autoren sind aktive oder ehemalige Bundeswehr-Soldaten wie Waldemar Geiger, die über ausgezeichnete Beziehungen bis in höchste deutsche Militärkreise verfügen. Was bei Mittler veröffentlicht wird, entspricht in der Regel deninternen Einschätzungen des Berliner Verteidigungsministeriums. Und Geiger spricht ganz offen aus, dass sich die ukrainische Offensive im Sommer 2023 viel langsamer entwickelt habe als Optimisten im Westen erwartet hätten. Die Gründe dafür seien in den gut ausgebauten und vorbereiteten Verteidigungsstellungen der russischen Landstreitkräfte zu sehen. Verluste könne sich die Ukraine als bevölkerungsschwächere Nation kaum noch leisten.
„Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass eine mit Verlusten einhergehende Kriegsmüdigkeit in der Ukraine schneller eintreten könnte als in Russland“, prognostiziert Geiger. Genau darauf hat auch der frühere deutsche Generalinspektor Harald Kujat mehrfach hingewiesen, ein kenntnisreicher und erfahrener Mann, der im staatlichen Fernsehen deshalb auch nicht mehr zu Wort kommt, sondern nur noch auf YouTube zu finden ist, wo seine Interviews aber hohe Zugriffszahlen verzeichnen. (1)
Geiger räumt ein, dass die westlichen Produktionskapazitäten nicht früh genug ausgebaut wurden. Er erwartet daher, dass in der Ukraine ab 2024 Munitionsengpässe auftreten werden. Auch der sich abzeichnende Stimmungswandel in der USA wird seiner Ansicht nach eine Rolle bei der weiteren Entwicklung spielen. In Washington blockieren sich Demokraten und Republikaner gegenseitig, so dass die Unterstützung für die Ukraine zu bröckeln beginnt. Wenn Donald Trump wieder Präsident werden sollte, hätte man eine völlig neue Lage. Außerdem müssen die USA die israelische Armee mit Nachschub versorgen, die gerade dabei ist, ihr ganzes Pulver in Gaza-Streifen zu verschießen. Parallel dazu wird die Unterstützung der europäischen Länder für die Ukraine immer zögerlicher.
Geiger zieht ein drastisches Fazit: „Auf der einen Seite droht dem Westen der Umstand, dass Russland nicht nur als Sieger aus dem Krieg hervorgehen könnte – was politisch ein besonders fatales Signal wäre für die friedensliebenden europäischen Gesellschaften. Die russische Armee könnte am Ende stärker aus dem Krieg herausgehen, als sie reingegangen ist. Sie wäre, sowohl was Doktrin als auch Ausrüstung angeht, modernisiert und die Soldaten kriegserfahren. Alle vermeintlichen Schwächen wären beseitigt und unnütze Zöpfe abgeschnitten, und der Fokus läge auf dem, was sich auf dem Schlachtfeld bewährt hat.“
Die auf Kriegswirtschaft umgestellte russische Industrie könnte die verbrauchte Munition und anderes Material schnell wieder auffüllen, erwartet Geiger. Die westlichen Streitkräfte seien wegen der Abgaben an die Ukraine im wahrsten Sinne des Wortes „leergelutscht“. Die Bundeswehr ist also weit davon entfernt, "kriegstüchtig" zu werden, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gefordert hat. Und dass die Zeitenwende "kriegstaugliche Streitkräfte" erfordere, wie auf einer Bundeswehr-Website gefordert wird, ist reines Wunschdenken und weder vom Staatshaushalt noch von den Kapazitäten der Rüstungsindustrie gedeckt. Zudem fehlen Soldaten. (2)
Denn auch die Ausbildungsqualität der Bundeswehr und anderer europäischer Armeen ist laut Geiger angeschlagen, weil die Schulungszentren kaum noch für die eigenen, sondern für ukrainische Soldaten genutzt würden. Wie schon Kujat weist auch Geiger darauf hin, dass die Anpassung der ukrainischen Armee an die Erfordernisse des modernen Gefechtsfeldes nur im Schneckentempo voranschreitet. Kujat hatte auch davon gesprochen, dass die ukrainische Armee das „Gefecht der verbundenen Waffen“, also ein perfektes Zusammenspiel von Luftwaffe, Heer und Marine und all ihrer Waffensysteme und Einheiten nicht beherrsche.
Geiger tritt auch der Behauptung der westlichen Propaganda entgegen, die russischen Streitkräfte würden ausschließlich durch Dilettanten geführt und bemannt. Stattdessen attestiert er der russischen Armee, sie sei in der Lage, wichtige Lehren aus dem Kampfgeschehen zu ziehen und sich entsprechend anzupassen.
In der deutschen Politik flammte zuletzt noch einmal die Debatte auf, ob man der Ukraine die modulare Abstandswaffe Taurus, eine bunkerbrechende Rakete, liefern solle. Im Bundestag trat die CDU/CSU massiv dafür ein; ihr entsprechender Antrag wurde aber von der Koalition abgelehnt. Der CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn forderte die Lieferung von Taurus-Raketen, „um die Russen zum Rückzug zu zwingen ". Geiger ist sich allerdings nicht mehr sicher, ob eine Lieferung überhaupt noch ausreichen würde, „um den Sieg Russlands abzuwenden“. Nach einem von ihm beschriebenen Szenario steht Russland nach dem Krieg besser da als 2022, während Europas Streitkräfte geschwächt seien und unter Umständen bald ohne Schutzmacht dastehen würden.
Deutschland hat kürzlich die Ausgaben für militärische Unterstützungsleistungen für die Ukraine von vier auf acht Milliarden Euro verdoppelt. Die Maßnahme verlängert nur den Krieg und das Sterben der Soldaten. „Die Söhne der Ukraine sind geopolitisches Kanonenfutter in einem verlorenen Krieg“, beklagte etwa der AfD-Abgeordnete Matthias Moosdorf im Bundestag.
Es ist an der Zeit, dass sich die besonnenen Stimmen in Deutschland durchsetzen. Der Linken-Abgeordnete Gregor Gysi wies in einer Bundestagsdebatte darauf hin, dass der ukrainische Armeechef Waleriy Saluschnyi bereits von einer Pattsituation gesprochen habe. Das deutsche Nachrichtenmagazin Spiegel, das bislang brav Regierungspropaganda verbreitete, schreibt auf einmal, die Aussichten für Kiew seien „düster“. Die deutsche Politik könnte die Aussichten für Kiew ganz schnell verbessern, aber nicht mehr durch Waffenlieferungen, sondern mit einer diplomatischen Initiative für Friedensverhandlungen.
(1) https://www.youtube.com/watch?v=Ws0wX6ZTjkk
(2) https://www.bmvg.de/de/aktuelles/zeitenwende-fordert-kriegstaugliche-streitkraefte-5701638
Bilder- depositphotos/screen