Von Helmut Roewer
Die Heldin dieser Geschichte, Wera Alexandrowna Gutschkowa (Вера Александровна Гучкова) kam im März 1906 in Moskau zur Welt. Der Vater, Alexander Gutschkow, war im Zarenreich ein wohlhabender, einflussreicher Mann. Alles sprach dafür, dass Tochter Wera ein sorgloses Dasein an der Sonnenseite des Lebens beschieden sein würde. Es kam anders.
Doch zunächst lief alles glatt, denn im Geburtsjahr des Kindes, ging die kurzlebige gewaltsame Revolution des Jahres 1905/06 in Sankt Petersburg zu Ende. Die Reichen der heimlichen Hauptstadt Moskau richteten sich wieder in ihrem gewohnten Geschäftemachen und im behaglichen Wohlleben ein. Indes: der Friede hielt nur noch magere acht Jahre, dann begann der Erste Weltkrieg, der für Russland einen verheerenden Verlauf nahm.
Spätestens Ende 1916 war den etwas klarer Blickenden klar, dass ein Weiterkämpfen in eine totale militärische Niederlage einmünden könnte. Eine solche Niederlage, das wussten die Gebildeten und Wohlhabenden, würde durchaus auch ihren eigenen Stand demolieren. Die Schuld an diesem Desaster gab man nur zu gerne dem Zaren und seiner Autokraten-Herrschaft, die nicht mehr reformierbar erschien.
Mit an der Spitze der nunmehr aus der Deckung tretenden großbürgerlichen Rebellen stand Alexander Gutschkow. Er und seine Parteigänger führten mit nachdrücklicher britischer Hilfe den Sturz des Zaren im Februar 1917 herbei. Dieses politische Abenteuer gelang wegen des Zusammentreffens von zwei ganz unterschiedlichen, und wie sich zeigen sollte: nicht zusammenpassenden politischen Bewegungen, denn neben Gutschkow und den Seinen rebellierten auch die von Agitatoren der Sozialdemokratischen Partei Russlands mit deutscher Finanzhilfe aufgewiegelten Arbeiter in Petrograd (vormals Sankt Petersburg und später Leningrad), die sich mit den Soldaten der dortigen Garnison verbrüderten.
So kam es in Russland zum Kuriosum einer Doppelherrschaft: auf der einen Seite die von der Duma – dem russischen Parlament – gebildete Vorläufige Regierung, in der Gutschkow vorübergehend zum Kriegsminister avancierte, und auf der anderen Seite die Arbeiter- und Soldatenräte, die Sowjets. Mit einem Militärputsch Anfang November 1917, der alsbald als die Große Sozialistische Oktoberrevolution glorifiziert wurde, entschied der aus dem Untergrund agierende Lenin den Machtkampf für sich und seine Bolschewiki. Sein Motto war einfach und für viele nachvollziehbar: Sofortige Ausstieg aus dem Krieg gegen Deutschland und Verteilung des Landes an das Landproletariat.
Unter diesen Bedingungen war für Gutschkow in der russischen Führung kein Platz mehr, und bevor in Russland das große Morden gegen die verhasste Ausbeuterklasse begann, floh er mit seiner Familie außer Landes. Fortan lebte er, von vergeblichen Hoffnungen auf eine Rückkehr heimgesucht, wie so viele seiner Schicksalsgenossen in Paris.
Nun tritt die Tochter Wera ins Bild. Noch keine Zwanzig heiratete sie den wesentlich älteren Pjotr Suwtschinskij. Er, Suwtschinskij, gehörte einer dieser sektenartigen Emigrantenzirkel an, wo man an die russische Sendung in einer asiatisch-europäischen Welt glaubte – eine Denkrichtung, die in den 1990er Jahren in Russland fröhliche Auferstehung feierte. Es versteht sich, dass solch rassen-zentriertes Denken mit den Vorstellungen der tonangebenden Bolschewiki in Moskau nicht harmonieren konnte, denn dort sprach man ungeniert von der kommunistischen Klassenherrschaft, weltweit. Mit dem kommunistischen, für sie neuen Denken kam Wera Gutschkowa alsbald in enge Berührung, denn sie lernte in einem Literaten-Salon, dem der ebenfalls exilierten Dichterin Marina Zwetajewa, zwei Herren kennen, die ihr Leben grundlegend verändern sollten.
Alle beide – der eine als heimlicher Abgesandter aus Moskau, der andere als Emigrant – waren Mitglieder des Auslandsdienstes der sowjetischen Geheimpolizei, die in jenen 1920er-Jahren OGPU hieß. Die Bemühungen der OGPU, die Emigranten-Zirkel – zumal die in Berlin und in Paris – zu unterwandern und zu zersetzen, waren keineswegs die reine Willkür, sondern aus Sicht der Führung in Moskau überlebensnotwendig, denn wenn ihrer noch keineswegs fest etablierten Herrschaft von irgendwo Gefahr drohte, dann von hier.
In diesem Milieu wurde die Gutschowa eine erfolgreiche Geheimagentin. Sie warb fleißig weitere Agenten an und infiltrierte – wie man beim Dienst so sagt – die russische Heimkehrerszene, für die es einen von der OGPU gesteuerten Verband gab. Der Zulauf muss beträchtlich gewesen sein, denn die Ärmlichkeit und Hoffnungslosigkeit, in der die meisten ehedem wohlhabenden russischen Emigranten lebten, war Antrieb genug, es noch einmal bei Mütterchen Russland zu versuchen. Hinzu kam, dass grelle Berichte über den Fortschritt des dortigen Arbeiter-Paradises Hoffnungen auf einen erfolgreichen Neustart in der Heimat weckten.
Unaufgeklärt ist bis zum heutigen Tage, wie vielen der Rückreisenden durch die Agentin und deren Berichte brutal geschadet worden ist. Klar ist lediglich, dass ungezählte Rückwanderer ihren Entschluss bitter bereuten, als sie 1936-39 in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen gerieten. Jahrelange Zwangsarbeit in einem Gulag oder der Genickschuss waren die Quittung für die Leichtgläubigkeit, in der alten Heimat willkommen zu sein.
Für die Agentin Wera galten diese Maßstäbe nicht. Sie wurde 1936 zwar auch nach Moskau beordert, doch nicht um reglementiert werden, ganz im Gegenteil. Sie unterrichtete an einer der Fremdsprachen-Schulen beim jetzt in NKWD umbenannten Geheimdienst. Ich nehme an, dass dies nur eine Parkposition war, denn in Wirklichkeit wurde sie zu einer Agentenehe veranlasst. Ihr Liebesobjekt wurde der schottische Millionärssohn Robert Traill, der sich als glühender Sozialismusverehrer und Journalist zu dieser Zeit in Moskau aufhielt. Die Dame nahm ihren Parteiauftrag recht ernst, denn alsbald muss sie schwanger geworden sein. Viel Zeit blieb dem Paar für die einschlägige Betätigung nicht, denn Traill zog es im Februar 1937 nach Spanien. Im dortigen Bürgerkrieg kam er im Sommer auf der Seite der Guten – wie man es heutzutage formulieren würde – ums Leben.
Wie dem auch sei, bis es dazu kam, hatte er gut funktioniert, denn die Heirat der Gutschkowa – ihre erste Ehe war bereits vor geraumer Zeit wieder geschieden worden – verschaffte der Agentin einen nagelneuen und dazu auch noch echten britischen Pass, der es ihr ermöglichte, ungehindert in der weiten Welt herumzureisen. Ihr erstes Reiseziel war erneut Frankreich. Dort galt es einen im Absprung befindlichen sowjetischen Spitzenagenten, der als NKWD-Resident in Westeuropa gearbeitet hatte und folglich Ross und Reiter genauestens kannte, aus dem Wege zu räumen. So waren damals die Sitten.
Der sorgsam ausbaldowerte Mord fand am 4. September 1937 in Genf statt. Das Opfer, der abgesprungene Ex-Agent Ignaz Reiss, Klarname: Ignatij Porezkij, wurde auf die konventionelle Weise erledigt: Ihn töteten die Kugeln aus mehreren Tatwaffen auf offener Straße. Am anschließenden Fluchtgeschehen war die Gutschkowa aktiv beteiligt. Insider vermuteten indessen, dass dies nicht ihr einziger Tatbeitrag gewesen sei. Doch verschiedene Stempel in ihrem britischen Pass verschafften ihr ein Alibi. Deswegen ließ die in Amtshilfe für die schweizerischen Behörden nicht sonderlich engagiert ermittelnde französische Polizei sie wieder laufen.
Erst zwei Jahre später tritt die Russin erneut in unser Blickfeld. Gleich nach Eintritt der Grande Nation in den Zweiten Weltkrieg sperrte man dortzulande alle Deutschen und Russen als unerwünschte Ausländer in Internierungslager ein. Hinsichtlich der Deutschen versteht man das, denn Frankreich hatte soeben, am 3. September 1939, dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Bei den Russen verhielt es sich nun so, dass man denen den Hitler-Stalin-Pakt vom Vormonat ausgesprochen übel nahm, denn der zerschlug die lange gehegte Hoffnung, Deutschland – wie schon ein viertel Jahrhundert zuvor – erneut einkreisen zu können.
Die Gutschkowa kam – britischer Pass hin oder her – in eines der Internierungslager, die bereits zu Jahresbeginn 1939 ihren Betrieb aufgenommen hatten, um das Heer der aus dem Spanischen Bürgerkrieg entfliehenden Internationalisten einzusperren. Deren Flucht war geboten, denn die Guten hatten durchaus nicht gesiegt, vielmehr nahm das siegreiche Franco-Regime für die nächsten Jahrzehnte seinen Lauf.
Nun tritt Bruno von Salomon ins Bild. Er war im selben Lager interniert, kam aus Spanien, wo er ebenso wenig für den Sieg der Volksfront hatte beitragen können, wie all die anderen desillusionierten Gestalten, die weder mit der Weimarer Republik, noch mit den dann an die Macht gelangenden Nationalsozialisten etwas am Hut hatten und froh sein mussten, wenn sie deren Verfolgung entgingen. Heute werden ihnen von den hierzu berufenen Widerstandslisteraten Kränze gefochten. Dabei mag es hier sein Bewenden haben. Eine der Schleifen, die in diesen Kränzen fehlt, ist die Affäre von Salomon und Gutschkowa im französischen KZ. Ich verkneife mir hier das Bild des Wer-mit-wem der Brüder Salomon zu entwerfen. Es wäre ein Abstieg in die politischen Gewalttaten und ein Leben in allen denkbaren Praktiken einer Intellektuellen-Kaste, die das, was später einmal die Sexuelle Revolution genannt wurde, um Jahrzehnte vorwegnahm.
Doch halt, nicht weiter auf solchem Pfad ins Abseits. Der Russin muss bald klar geworden sein, dass mit diesem lungenkranken Deutschen für ihre Fluchtpläne nichts anzufangen war, deswegen wandte sie ich einem anderen zu, Alexander Halpern (auf russisch: Galpern). Auch er ein ehemaliger Untertan des Zaren, auch er ein Emigrant. Er ging nach der Oktoberrevolution nach England und wurde dort ein wohlsituierter britischer Staatsbürger. Ganz nebenbei war er mehreren Geheimdiensten dienlich, mindestens dem englischen, dem US-amerikanischen, auch die Gestapo kannte ihn, wenn auch nicht als eigenen V-Mann. In seinem sonstigen Leben war Halpern seit 1925 mit einer weiteren Exilrussin verheiratet. Das Paar führte eine sog. offene Ehe. Heißt zu deutsch: Man delektierte sich daran, wenn der andere fremdging. Gegen eine Liaison mit der Gutschkowa werden also kaum Einwendungen bestanden haben.
Was genau Halpern in Südfrankreich verloren hatte, wo er die Gutschkowa aufgabelte (oder sie ihn), das verschweigen die Biographen diskret. Suchte er sie gezielt, so kommt wohl nur ein sowjetischer Auftraggeber in Frage. Die Gestapo muss ähnliches vermutet haben, denn sie stellte beide im Frühjahr 1941 in einem nicht gerade genial zu nennenden Eintrag ins Fahndungsbuch für die Sowjetunion: „„A83 Alexandrowna, Vera (?1910-), sowjetische Agentin (Deckname: A. Halperin), Murmansk, RSHA IVE5.“
In Wirklichkeit reisten beide heimlich über Spanien und Portugal nach England aus. Wieder kommt eine Lücke in Gutschkowas Lebenslauf, über die man nichts genaues sagen kann. Erst 1947 tauchte sie wieder auf, als sie das Buch des sowjetischen Überläufers Wiktor Krawtschenko „Ich wählte die Freiheit“ ins Französische übersetzt hatte. Damit nicht genug: Sie wurde 1949 für eben diesen Krawtschenko als Dolmetscherin in einem Pariser Prozess tätig, als er die französische kommunistisch-orientierte Zeitung Les Lettres françaises verklagte, die ihm Lügen vorwarf. Der Prozess sollte mehr Staub aufwirbeln als das Buch selbst, denn Krawtschenko lud Zeugen auf Zeugen gegen das Moskauer Regime in den Zeugenstand – und gewann. Es war die Zeit, als bei den normalen Linken die Vorstellung von der wunderbaren Sowjetunion im Nebel der Desillusion verschwand.
Biographen der Gutschkowa behaupten, auch sie selbst habe die große Wende vollzogen und sei auf die im Schwange befindliche, militante antisowjetische Linie eingeschwenkt. Ich habe da, gelinde gesagt, meine Zweifel. Wir befinden uns in den Vierziger-Fünfziger Jahren auf dem Höhepunkt der sowjetischen Bemühungen, die West-Gesellschaften zu zersetzen. Im britischen Establishment arbeiteten Dutzende von Sowjetagenten, die der Upper Class angehörten. Es gibt kaum einen besseren Schutz gegen Enttarnung als das öffentliche Arbeiten für die Gegenseite. Das passt recht gut zusammen mit dem, was danach kam, denn Gutschkowa bot ihre Dolmetscher-Dienste hochrangigen britischen Delegationen an, die amtlich oder geschäftlich in die Sowjetunion reisten. Einspruch von den Russen kam nie.
1987 ist die Gutschkowa-Suwtschinskaja-Traill dann 81jährig in Cambridge gestorben. Das ist wie eine ironische Schluss-Note. Die härtesten britischen Sowjet-Agenten, die ab den 1930er Jahren gegen ihr Land arbeiteten, erhielten, als sie schließlich Mann um Mann enttarnt wurden, die Sammelbezeichnung Cambridge-Five. Die Zahl fünf ist sicher untertrieben. Solange die Akte der Gutschkowa gesperrt ist, wird man über ihr wahres Gesicht nach dem Zweiten Weltkrieg nichts Genaues sagen können.
Quellen in Auswahl: Dallin: Sowjetspionage, S. 89 f.; Kantorowicz: Exil in Frankreich, S. 86-88 [erwähnt von der Beziehung zwischen Salomon und Gutschkowa kein Wort]; Rogowin: Die Partei der Hingerichteten, Bd. 5, S. 347-349, 561 f.; Roewer u.a.: Lexikon der Geheimdienste im 20. Jahrhundert; ru.wikipedia.org/wiki/Гучкова,_Вера_Александровна; international-brigades.org.uk/roll/robert-traill/; Reichssicherheitshauptamt (Hg.): Sonderfahndungsliste SU; archiveshub.jisc.ac.uk/search/archives/94972fd4-7cd6-3315-9a97-c4bab00a9967.
©Helmut Roewer, August 2023
Bilder: depositphotos, Roewer
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