Die Schweizer Armee erfüllt ihre Aufgaben nicht mehr

Von DR.OLIVER DORNBARDT
Jahrelang galt sie als Inbegriff für Qualität und Solidität: Die Schweizer Armee. Dieses Bild bekam in den letzten Jahren Risse. Manchen braven Schweizer Bürger mögen die Berichte über Spesenreiterei, Verschwendung und Korruption negativ überrascht haben. Im laufenden Jahr machte die Schweizer Armee durch ihren Umgang mit dem Personal und durch ihre Bestandesprobleme Negativschlagzeilen.
Es klingt ganz harmlos: am 22. September reichte die schweizerische Parlamentarierin Stefanie Heimgartner eine Interpellation im Parlament (Nationalrat) ein, die Klarheit in Sachen Bestandesproblem in der Schweizer Armee forderte. Zwölf weitere Nationalräte unterzeichneten die Interpellation ebenfalls (1). In der Interpellation ist Zunder drin, denn sie legt offen, dass die Schweizer Armee in naher Zukunft ihre Aufgaben nicht mehr wird erfüllen können.
Einer der Aufträge des Schweizer Armee besteht im Erhalt der Kenntnisse und Fähigkeiten im Bereich der militärischen Landesverteidigung, das heißt dessen, was geläufig als Kompetenzerhalt bezeichnet wird. Als das Projekt "Weiterentwicklung der Armee" vor einigen Jahren konkret wurde, gab es Skeptiker die begriffen, dass die Aufstellung von drei mechanisierten Brigaden wohl zu ambitiös sei. Schon damals bestand in der Schweiz die Möglichkeit des zivilen Ersatzdienstes als Alternative zum Militärdienst, von welchem in den letzten Jahren zunehmend Gebrauch gemacht wird. Mittlerweile entscheiden sich jährlich insgesamt 6'000 junge Schweizer für den zivilen Ersatzdienst (2) und ein Fünftel verschiebt die Grundausbildung bis ins 25. Altersjahr. Kurz: Der Schweizer Armee gehen die Rekruten aus.
Das System der Schweizer Armee ist einfach: nach einer Grundausbildung (Rekrutenschule genannt) leistet die Mehrheit der Schweizer Soldaten Reserveübungen, sogenannte Widerholungskurse. Bis zum Ende seiner Wehrpflicht, die für Mannschaftsdienstgrade im 30. Altersjahr endet, soll der Soldat nach aktueller Gesetzeslage sechs solcher Dienste leisten. Das bedeutet, dass Soldaten, die ihre sechs Wiederholungskurse abgeleistet haben, buchhalterisch im Bestand ihrer Einheit bleiben – Karteileichen eben. Der Zweck dieses Systems ist der Erhalt von Wissen und Fähigkeiten in der Truppe und auch beim Milizkader. Aber dieses System droht aus den Fugen zu geraten, denn in den letzten Jahren einstand eine Schere zwischen Effektivbestand der Armee und dem Bestand von Soldaten und Kader, welche noch ausbildungsdienstpflichtig sind und damit Wiederholungskurse leisten müssen.Bereits heute kann ein Drittel der heute in der Armee eingeteilten Soldaten und Kader zwar noch für reale Einsätze aufgeboten werden, leistet aber keine Wiederholungskurse mehr. Ob das Sinn macht, ist ganz generell zu hinterfragen.
Unterbestände gefährden die Einsatzbereitschaft
Über den personellen Zustand der Schweizer Armee gibt die alljährliche sogenannte "Armeeauszählung" Auskunft. Früher wurde sie veröffentlicht, seit ein paar Jahren gibt es nur noch eine Kurzfassung davon (3). Eine Haupterkenntnis der Armeeauszählung 2020 ist die weitere Öffnung der erwähnten Schere. Bis 2035 wird sich diese noch vergrößern. Die Konsequenz daraus ist, dass das Training in den Wiederholungskursen mit zu tiefen Beständen nicht unter realistischen Bedingungen stattfinden kann und die Bereitschaft der betroffenen Einheiten mittelfristig sinkt. Das Problem hat mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen, dass das schweizerische Parlament darauf aufmerksam wurde, obwohl Verteidigungsministerin Viola Amherd der Generalität in diesem Bereich den Mund verbot: Sie sollen dieses Problem in Gesprächen mit Politikern nicht erwähnen. Das zeugt nicht eben von Führungsstärke. Die Hälfte aller Einheiten erreichte in den vergangenen beiden Jahren weniger als 80% des Sollbestandes. Mittlerweile ist es so weit, dass zwischen der Rekrutierung und dem Ende der Militärdienstpflicht nur rund die Hälfte der Milizsoldaten in der Armee bleibt (4).
Die Zahl der ausbildungspflichtigen Angehörigen der Schweizer Armee sank in den letzten Jahren dramatisch: Waren es 2018 noch 92%, so sank dieser Wert 2019 auf deren 83% und beträgt aktuell noch 76% (5). Man muss nur linear interpolieren um vorhersagen zu können, dass der Personalbestand der Einheiten im übernächsten Jahr noch 70% betragen wird. Besonders hart getroffen von diesen Unterbeständen sind die Kampftruppen der Schweizer Armee, und hier ganz besonders die Formationen der Panzertruppen, Aufklärer und der Artillerie, wo die Durchführung von Übungen auf den Stufen Kompanie und Bataillon besonders wichtig und auch überdurchschnittlich aufwändig ist. Solche Übungen wären für den Kompetenzerhalt wichtig.
Erschwerend kommt dazu, dass gut ein Viertel der Schweizer Soldaten ihren Wiederholungskurs verschiebt und zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr in einer anderen Einheit leistet. Das ist der Schulung der Zusammenarbeit nicht eben förderlich. Umso erstaunlicher ist die Antwort der Verteidigungsministerin Viola Amherd auf die Interpellation Heimgartner: Die Armee werte den beruflichen Hintergrund von Soldaten, die ihren Dienst verschieben nicht aus. Gerade Beruf und Studium sind aber die Hauptgründe, weshalb Schweizer Soldaten ihren Dienst verschieben (6).
Gleichermaßen erstaunlich ist die Antwort auf Frage 8 der Interpellation Heimgartner, die in Erfahrung bringen wollte, wie viele Einheiten der Schweizer Armee ihre Bereitschaft für Einsätze aus personellen Gründen nicht sicherstellen können. Die Ministerin vermochte die Frage nicht zu beantworten (7).
Völlig klar wird die personelle Schieflage der Schweizer Armee nach Lektüre der Antwort auf Frage 10 der Interpellation Heimgartner. Die Datenlage für weitreichende Korrekturmaßnahmen sei noch unzureichend. Abgesehen davon, dass dies nach üblicher Abwimmelungs-Terminologie von Verwaltungen aller Art klingt, zeigt dies auch, dass das schweizerische Verteidigungsdepartement in Sachen Personal im Blindflug ist. Frau Amherd verweist auf den Abschlussbericht zur sogenannten "Weiterentwicklung der Armee" der 2023 erscheinen soll – und hofft wohl, dass sie dann schon in einem anderen Departement sitzt (8). Aussitzen nennt man eine solche Strategie.
Corona verschärft das Problem
Covid-19 wird das Bestandesproblem der Schweizer Armee zusätzlich verschärfen, denn im Zuge der Unterstützungseinsätze der Schweizer Armee zugunsten des zivilen Gesundheitswesens haben die Angehörigen der Sanitätstruppen eine grosse Anzahl an Diensttagen geleistet, die ihnen alle an die Leistung der Gesamtdienstpflicht angerechnet werden. Es war also im Zuge des Einsatzes gegen Covid-19 nicht so, dass die Armee Milizsoldaten zum Assistenzdienst aufbot, sondern sie leisteten Wiederholungskurse. Dadurch haben viele Soldaten dieser Verbände ihre Dienstpflicht "abgearbeitet", bleiben aber buchhalterisch in ihren Einheiten eingeteilt. Zu neuen Dienstleistungen können sie nach aktueller Gesetzeslage kaum mehr herangezogen werden. Aber das Corona-Virus ist nicht verschwunden, es feiert jetzt in Form der zweiten Welle ein Comeback und weitere Wellen könnten uns bevorstehen. Da werden die Kommandeure der Sanitätsformationen fordern, dass ihre Bataillone und Einheiten schleunigst wieder personell aufgefüllt werden. Damit werden viele junge Soldaten ihre Grundausbildung bei den Sanitätstruppen absolvieren – und fehlen dann den Kampftruppen. Die Schweizer Armee wird also vor die Wahl gestellt werden, entweder den sogenannten Kompetenzerhalt auszudünnen, indem sie zulässt, dass personell unterdotierte Stäbe mit Rumpfeinheiten üben, oder die Anzahl ihrer mechanisierten Formationen zu reduzieren. Diese Wahl werden die Anhänger des "heavy metal" nicht gerne treffen. Es gibt freilich noch einen Mittelweg: Die rasch abnehmenden Bestände in den Kampftruppen deuten darauf hin, dass auch die Soldaten der Kampftruppen ihre Diensttage schneller leisten, als von den Planern der "Weiterentwicklung der Armee" ursprünglich gedacht. Eine Verkürzung der jährlichen Dienstleistungen, allenfalls die Leistung von Wiederholungskursen im Zweijahresrhythmus würde die Anzahl der jährlich geleisteten Diensttage wahrscheinlich deutlich senken. Das dadurch verursachte Absinken des Ausbildungsstandes der schweren Kampftruppen wäre in der aktuellen Lage wohl zu verkraften.
Aber auch das beseitigt nicht das Hauptübel, nämlich die offenbar mangelnde Attraktivität des Diensts in der Schweizer Armee im Vergleich zum zivilen Ersatzdienst. Selbstverständlich könnte man nun die Attraktivität des zivilen Ersatzdienstes senken, aber das würde wohl nur zur gleichmäßigeren Verteilung der Unzufriedenheit führen. Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn sich die Schweizer Armeeführung einmal ein paar Gedanken zu Korrekturen im zuweilen altväterlich wirkenden Betrieb der Schweizer Armee macht. Dieser wird wohl auch verhindern, dass die Schweizer Armee in Zukunft 10% ihres Bestandes unter den Frauen rekrutieren kann (9). Bislang sind so gut wie alle Funktionen in der Schweizer Armee für Frauen zugänglich und trotzdem ist der Bestand im Bereich von unter 1%. Die Frau Verteidigungsministerin mag ihr Gender-Hobby pflegen, aber das Hauptproblem der Schweizer Armee wird sie nicht lösen.
Probleme beim Berufspersonal
Und auch beim Berufspersonal läuft der Schweizer Armee das Blut aus den Adern. Auch hier gilt es die Qualität der Personalführung zu steigern. Die erforderliche Anzahl an neuen Berufsoffizieren und –unteroffizieren kann seit Jahren nicht mehr rekrutiert werden (10). Die aktiven Berufskader müssen immer mehr Aufgaben übernehmen. Bei nicht beschränkter täglicher Dienstzeit sollen die Berufskader nun bis ins 65. Altersjahr ihren Dienst leisten. Diesen massiven Einschnitt in die Attraktivität des Berufsbilds hat der Bundesrat vor wenigen Jahren selbst veranlasst (11). Der neue Chef der Armee, General Süssli, hat das Projekt eines neuen Berufsbilds in Auftrag gegeben; ein klassisches Beispiel für verspätete brotlose Kunst. Unter Insidern machen Gerüchte über manipulierte Selektionsverfahren für Generalstabsoffiziere, höhere Stabsoffiziere und andere Funktionen die Runde.
Machen wir uns keine Illusionen: Die Berufsmilitärs der Schweizer Armee sind überbezahlt, wahrscheinlich kollektiv um 20'000 Franken jährlich (12). Die Berufsunteroffiziere, die ehemaligen Mitarbeiter des Festungswachkorps und die Berufsmilitärpiloten wahrscheinlich in noch höherem Ausmaß. Und mit eigenem Dienstwagen und kostenlosem Treibstoff sind sie verhätschelt. Aber die Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen wäre wichtig für den Erhalt des Wissens und Könnens im Bereich Verteidigung.
Für tiefe Qualität in der Führung von Berufsmilitär spricht auch der Fall eines Berufsunteroffiziers, der wegen der Verfehlungen seines Vaters aus der Berufsunteroffiziersschule der Armee (BUSA) entlassen wurde, mehrere Monate bei vollem Gehalt zuhause verbrachte und dann mit 1¼ Jahreslöhnen entschädigt werden musste (13). Hier muss man sich fragen, ob rechtzeitig die notwendigen Abklärungen vorgenommen wurden.
Ob die Schweizer Armee angesichts dieser massiven Probleme die geforderten Unterstützungseinsätze zugunsten ziviler Behörden überhaupt noch leisten kann, ist mittelfristig unklar.
Und bereits jetzt ist klar, dass die Schweizer Armee kaum mehr in der Lage ist, den Erhalt der Kompetenzen für die militärische Verteidigung zu gewährleisten. Angesichts der Fehlbestände beim Miliz- und Berufspersonal wäre einmal vertieft abzuklären, ob die Schweizer Armee überhaupt noch in der Lage ist, neue Waffensysteme in den Dienst zu stellen, bevor Investitionen in Milliardenhöhe getätigt werden. Es wird interessant sein, die Behandlung der Frage im schweizerischen Parlament zu verfolgen. Ob sich die Unterzeichner der Interpellation mit der oberflächlichen und streckenweise schnoddrig wirkenden Antwort der Verteidigungsministerin zufriedengeben?

Anmerkungen:

  1. Diese und die Stellungnahme des Verteidigungsdepartements darauf ist online verfügbar unter https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204056

  2. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/60997.pdf

  3. Diese ist online verfügbar unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/63679.pdf

  4. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-81035.html. Die Kurzfassung der sogenannten Armeeauszählung ist online verfügbar unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/63679.pdf

  5. Stellungnahme des Bundesrates vom 11.11.2020 auf die Interpellation Heimgartner, Antwort 2/3. 

  6. Ebd. Antwort 4.

  7. Ebd. Antwort 8

  8. Ebd. Antwort 10. 

  9. https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/armeechef-will-frauenanteil-in-der-armee-deutlich-erhoehen-aber-noch-fehlt-die-strategie-138278721

  10. Davon zeugen die geringen Teilnehmerzahlen an den Lehrgängen der Militärakademie Zürich: file://ifc1.ifr.intra2.admin.ch/Userhomes/U80722282/Downloads/111208_MILAK_Schrift_Nr_13.pdf. Besonders der Diplomlehrgang, der von Kompaniechefs mit abgeschlossenem Hochschulstudium besucht wird. Jener des Jahres 2010/11 mit 3 schweizerischen Teilnehmern. 

  11. Die Bestandesprobleme beim Schweizer Berufsmilitär waren schon früher ein Thema: https://www.derbund.ch/beim-berufsmilitaer-ist-so-einiges-im-argen-213636130629

  12. Die Besoldungstabelle ist online verfügbar unter https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20050729/200701010000/172.220.111.343.1.pdf

  13. Der Fall warf im Herbst große Wellen: https://www.bernerzeitung.ch/der-sohn-des-is-angeklagten-geriet-ins-visier-der-militaerpolizei-507743360100.

 

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