Die Schlafwandler, oder doch nicht?

Von Dr. Norbert van Handel

In seinem richtungsgebenden Werk „Die Schlafwandler“ beschrieb Christopher Clark wie Europa in den ersten Weltkrieg taumelte.

Die heutige Situation scheint es uns notwendig zu machen, einen kleinen Blick in die Geschichte zu werfen:

So war keineswegs Sarajewo allein der Auslöser der Urkatastrophe Europas.
Vereinfacht gesagt: 

  • England war eifersüchtig auf Deutschland, wegen dessen hervorragender Wirtschaft, der Aufrüstung der Marine und schließlich der diversen kolonialen Wünsche – „ein Platz an der Sonne“.

  • Frankreich hatte die Niederlage von Sedan nicht verdaut, wollte Elsass-Lothringen zurück, vor allem aber, so meinen wir, war die überaus taktlose Etablierung des deutschen Kaiserreiches ausgerechnet in Versailles, eine schwärende Wunde im Stolz Frankreichs.

  • Russland schließlich konnte sich am Balkan weder mit den Türken noch mit Österreich-Ungarn, was in diesem Falle noch wichtiger war, in konstruktiven Verträgen über die Entwicklung des Balkans einigen.

Wenige Jahre vor dem Krieg standen die Zeichen bereits auf Sturm, konnten aber immer wieder gelöscht werden:

  • Die zwei Balkankriege 1912 und 1913, an denen Österreich-Ungarn, trotz Bitten verschiedener Seiten, nicht teilnahm, führten zu viel größeren Gebietsverschiebungen als etwa die russische Annexion der Krim 2014.

  • Die nicht unproblematische Integration Bosniens und Herzegowinas nach Österreich-Ungarn.

  • Die Agadir-Krise, in der Deutschland intervenierte, um die Übernahme Marokkos durch Frankreich zu verhindern, was nicht gelang – Deutschland wurde dafür mit einem Teil im französisch Äquatorial Afrika entschädigt – was jedoch die Achse Frankreich England deutlich stärkte und Deutschland in der Weltöffentlichkeit in Misskredit brachte. 

  • Der erste Schuss - Gavrilo Princip erschoss den österreichischen Thronfolger in Sarajewo - löste letztlich einen Weltkrieg aus, der Europa zerstörte und den Beginn der USA als Suprematsmacht, vorerst in Europa, später im britischen Empire festigte, wobei dies erst der Anfang war.

  • Die Friedensverträge in Saint Germain, Versailles und Trianon zerstörten Österreich-Ungarn und schufen, was Deutschland betrifft, die Vorbereitung für den zweiten Weltkrieg.
    Dessen Ende 1945 bestätigte die USA als Supermacht, die nunmehr begann, die Welt zu imperialisieren.

Legt man dies auf den Ukraine-Konflikt um, so findet man zahlreiche Ähnlichkeiten, nur dass diesmal Russland der Gegner ist.

Bedauerlich weise begann Russland (nach einem ständigen die russische Bevölkerung unterdrückenden Kleinkrieg im Donbass) den Krieg, dessen Ende nicht absehbar ist.

Niemand wird leugnen, dass Russland in zahlreichen Aktionen in den letzten 20 Jahren versuchte ein gedeihliches Auskommen mit dem Westen zu erzielen, was von diesem jedoch immer, man darf wohl sagen, nicht einmal ignoriert wurde.

Die abfällige Bemerkung von Präsident Obama, sinngemäß „Russland ist eine eher unbedeutende Regionalmacht“ dürfte den geschichtsbewussten Präsident Putin mehr getroffen haben, als man glaubt.

Wenn man sich die Ereignisse seit dieser Zeit vor Augen führt, dann dürfte mit jener dümmlichen Bemerkung des amerikanischen Präsidenten der innerliche Umschwung in Russland erfolgt sein:
Es hat keinen Sinn mehr zu versuchen mit dem Westen auf gleich zu kommen, jetzt geht es nur noch um die russischen Interessen. So könnte Putins Motivation ausgesehen haben.
Politik ist nicht nur ein hochbürokratisches Momentum qualifizierter leitender Persönlichkeiten, sondern auch eine Sache der Psychologie.

Auch ein weiterer Vergleich aus der Geschichte, nämlich die Kuba Krise vor 60 Jahren, scheint uns wichtig.
Kurz Zusammengefasst, wollte die UDSSR sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba im Rahmen des nuklearen Wettrüstens stationieren.
Als die USA davon erfuhr und es zu zahlreichen Verhandlungen kam, die eher schleppend verliefen, drohte John F. Kennedy, der stets friedensbemühte letzte große Präsident der USA, einen atomaren Gegenschlag an.
Alle Zeitzeugen, die sich daran erinnerten, wissen, dass dies keine leeren Worte waren, sondern dass die Welt damals am Rande des Atomkriegs stand.
Die USA vermeinten, dass russische Raketen auf dem zwar selbstständigen, aber nur einige hunderte Kilometer von Miami entfernten Kuba, ihre Sicherheit in unzumutbarer Weise gefährden würden.
Wenn auch Vergleiche meist hinken, so ist doch das Sicherheitsbedürfnis der USA im Jahr 1962 durchaus vergleichbar mit dem Sicherheitsbedürfnis Russlands, das sich durch die Nato an seiner Westgrenze entsprechend bedroht fühlt.
Da man auch aus der jüngsten Geschichte, Vietnam-, Irak-, Afghanistan-, Jugoslawien-Krieg etc. weiß, dass die von den USA gesteuerte Nato durchaus bereit ist Kriege zu führen, scheint einem objektiven Beobachter die Sorge Putins nicht unbegründet.

Was aber unterscheidet die heutige Situation von früher?

  • Der Westen vermeint, dass in der Ukraine, immerhin einem der korruptesten Staaten, die europäischen Werte gegen den bösen Autokraten aus dem Osten verteidigt werden.

  • Welche europäischen Werte?

  • Noch niemals in einem uns bekannten Krieg haben 28 westeuropäische Nationen, wenn wir Großbritannien dazurechnen, in dieser massiven Form in den Konflikt zweier, in diesem Fall im russisch-orthodoxen Kulturraum liegenden, Staaten interveniert.

  • Wirtschaftssanktionen Sonderzahl lassen die Bevölkerungen Westeuropas verarmen. Ausstehende Energieeinfuhren von Russland zerstören Wirtschaft und die legitimen Bedürfnisse der Bevölkerung in ihren Ländern.

  • Provokationen, wie etwa die Unterbrechung des Transits durch Litauen zwischen Russland und dem russischen Kaliningrad oder Angriffe auf das mit Russland befreundete aber nicht im Krieg stehende Belarus, schaukeln den Konflikt weiter auf.
    Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass genau diese Provokationen nicht geschehen wären, wenn die Nato, sprich die USA, diesen Sanktionen nicht zugestimmt hätten.

  • Zum Unterschied zu den „Schlafwandlern“ scheinen sich die heute agierenden Staaten sehr wohl bewusst zu sein, welches Risiko sie eingehen.
    Ob „dunkle Mächte“, die Verschwörungstheoretiker bestens artikulieren und vielleicht dabei sogar nicht unrecht haben, existieren, kann nicht bewiesen werden.

  • Dass die meisten Medien nicht bereit sind objektiv sämtliche Standpunkte, und zwar beider kriegsführender Nationen, zu diskutieren, lässt weiters die Frage offen, wieso dies so ist und ob die Qualität des Journalismus tatsächlich schon so weit gesunken ist, nicht zu informieren, sondern Politik zu machen und zu beeinflussen.
    Hier sieht man nicht mehr die Kontrollfunktion der Presse, sondern dass laufend und massiv, sowohl im Print- als auch im elektronischen Bereich, Partei ergriffen wird.
    Die Bevölkerung wird nicht informiert, sondern manipuliert.

Die Geschichte zeigt, dass Entwicklungen dieser Art zu einer Katastrophe führen, die für Jahre hinaus Millionen von Menschen verarmen, gigantische Flüchtlingsbewegungen auslösen werden und letztendlich nur den USA nützen. Zunehmend mehr sieht die USA die Welt als ihr Imperium und wenn dieser Konflikt einmal, wir wissen nicht wann, erledigt sein sollte, werden sie sich den fernöstlichen Konfliktsituationen, man denke nur etwa an Taiwan, zuwenden.
Europa wird dann verarmt sein, die USA wird wenig riskiert haben und, wahrscheinlich nicht nur allein über die Waffenverkäufe, wohlhabender geworden sein und wir alle müssen feststellen, dass statt Demokratie und internationalem Zusammenwirken, Hegemonie und Befehlsausgabe aus Washington erfolgen wird.

Was nicht geschehen wird ist, dass Russland so minimiert werden wird, wie es die USA und ihre Verbündeten gerne hätten.
Im Gegenteil, der kalte Krieg wird noch kälter werden, dem Westen wird ein gefestigter Block im Osten, bestehend aus Russland, Indien, China und den südöstlichen Tigerstaaten gegenüberstehen.

Keine Aussichten, die eine Welt zeigen, die für unsere Enkel lebenswert sein wird und das unabhängig von allen anderen Problemen. 

Bilder: depositphotos

Die Meinung des Autors/Ansprechpartners kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 und 3 (1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“