Von Hans-Georg Münster
Nur wenige Wochen trennen uns noch vom 110. Jahrestag des Attentats auf das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajewo am 29. Juni 1914. Die Schüsse des serbischen Attentäters Gavrilo Princip lösten den Ersten Weltkrieg aus, der Europa in die Katastrophe stürzte. Aus dem hoffnungsvoll begonnenen 20. Jahrhundert mit seinen Triumphen in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft schien das dunkelste der Menschheitsgeschichte zu werden. Erst im Schlussjahrzehnt wurde es mit Demokratiebewegung und Mauerfall wieder strahlend hell.
110 Jahre nach 1914 stehen wir wieder vor einer schicksalshaften Situation. Diesmal hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj die Nutzung deutscher Waffen vollständig freigegeben, damit dieser Russland direkt angreifen kann. Erstmals seit 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, rückt eine direkte militärische Konfrontation zwischen Deutschland und Russland damit wieder in den Bereich des Möglichen; die Gefahr des Weltenbrands wird real.
Historiker werden eines Tages den Ursachen der Geschehnisse im Frühsommer 2024 auf den Grund gehen. Eine wichtige Rolle dürfte bestimmt der Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin gespielt haben. Im Anschluss gab Scholz sofort den Einsatz deutscher Waffen gegen Russland frei, was er bis dahin strikt abgelehnt hatte. Noch vor wenigen Tagen hatte der deutsche Kanzler erklärt, es gebe für Waffen aus Deutschland für die Ukraine „klare Regeln“. Die habe man mit Kiew „vereinbart“, und „die funktionieren“. Man müsse unbedingt verhindern, dass es „zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt“.
Mit seiner Kehrtwende nimmt Scholz wissentlich in Kauf, dass es zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommt. Er verletzt seinen Amtseid, nur zum Wohl des deutschen Volkes tätig zu sein, und er verstößt gegen deutsche Gesetze, die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges verbieten. Denn nichts anderes ist es, wenn mit deutschen Waffen wie der Panzerhaubitze 2000 sowie mit dem auf einem Kettenfahrzeug montierten Mehrfachraketenwerfer „Mars-II“ russische Städte und Dörfer angegriffen werden würden.
Man fragt sich, was der amerikanische Präsident Joe Biden und Macron alles gegen Scholz und Deutschland in der Hand haben, um das Land direkt in eine kriegerische Auseinandersetzung mit Russland treiben zu können. Scholz und die SPD wollten den direkten Waffeneinsatz gegen Russlandursprünglich nicht. Der SPD-Wahlkampf zum Europaparlament ist sogar auf Frieden ausgerichtet. Ihre Wahlplakate kann die SPD wieder abhängen. Der Kanzler ist wortbrüchig geworden. Selbst gegen eine Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine, mit denen Kiew direkt die Stadt Moskau und den Kreml angreifen könnte, hat Scholz jetzt kein Argument mehr zur Hand.
Was jedoch ein Angriff mit weitreichenden Waffen auf Russland bedeuten würde, machte kurz vor der Berliner Kehrtwende der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, in einem Interview deutlich: „Welche Risiken mit einer Freigabe verbunden wären, zeigt ein vor wenigen Tagen erfolgter ukrainischer Drohnenangriff auf ein russisches Frühwarnradar, das interkontinentalstrategische Nuklearraketen auf 6.000 Kilometer Entfernung erkennt und entscheidend für die Einleitung russischer Gegenmaßnahmen ist. Derartige Angriffe gefährden auf unverantwortliche Weise das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland und können katastrophale Folgen haben.“
Die wirtschaftlichen Interessen der Weltmacht USA und der Grande Nation liegen auf der Hand. Die USA wollen die industrielle Konkurrenz aus Deutschland ausschalten und es nach dem Embargo gegen Energie aus Russland von überteuerten US-Energieimporten abhängig machen. Die Amerikaner pressen Deutschland aus wie eine Zitrone und machen den Deutschen über ihre Propaganda-Maschine weis, sie täten mit den Boykottmaßnahmen gegen Russland ein gutes Werk für die Demokratie, obwohl das Regime der Ukraine völlig korrupt ist. Frankreich wiederum will den durch den Stopp der Beziehungen zu Russland in Gang gesetzten wirtschaftlichen Niedergang des deutschen Nachbarn nutzen, um auf dem alten Kontinent wieder die Führungsrolle zu übernehmen.
Die wirtschaftliche Seite wird im hauptbetroffenen Deutschland jedoch völlig ausgeblendet. Stattdessen wächst der Druck der Kriegstreiber in der deutschen Politik, die nächsten Schritte zu einem heißen Konflikt zu unternehmen und noch weitere Fronten zu eröffnen. Besonders hervor tut sich die Spitzenkandidatin der FDP für die Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die bisher als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages möglichst viele Waffen an die Ukraine liefern und von Verhandlungen nichts wissen wollte. Wenn Strack-Zimmermann nach der Wahl tatsächlich in Brüssel und Straßburg eine wichtige Rolle spielen sollte, würde sie zusammen mit der christdemokratischen Spitzenkandidatin und derzeitigen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Duo infernale bilden. Man wird beide in späteren Zeit vermutlich als die Furien des Krieges bezeichnen.
Strack-Zimmermann legte bereits Großmachtsphantasien an den Tag und kündigte auf einer Pressekonferenz in Berlin an: „Um die ganze Welt werden wir uns kümmern müssen.“ Es gebe genug eingefrorene Konflikte, die irgendwann auftauen würden. Strack-Zimmermann sprach deutlich aus, wo es nach ihrer Ansicht heißer werden könnte: Auf der koreanischen Halbinsel sowie im Chinesischen Meer, wo die Volksrepublik China mit der Einverleibung der Inselrepublik Taiwan ihre Ein-China-Politik vollenden möchte. Aber sie nannte noch ein weiteres Gebiet: Die Kurilen. Die früher zu Japan gehörenden südlichen Inseln der zwischen der russischen Halbinsel Kamtschatka und der japanischen Insel Hokkaido gelegenen Inselgruppe waren kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im Pazifik von der Roten Armee besetzt worden. Japan verlangt bis heute die Rückgabe der Inseln. Heißt „kümmern“ im Sinne von Strack-Zimmermann, Japan zu einem Militärschlag gegen Russland anzustacheln?
Aber die hervorragend in der Bundesregierung vernetzte FDP-Politikerin hat noch mehr im Sinn. Die bisher aus rund 185.000 Soldaten bestehende Bundeswehr soll aufgestockt werden. Als Deutschland nach 1990 auch aufgrund internationaler Verträge seine Armee reduzierte, wurde das gesamte Reservisten-Wesen abgeschafft. Deutsche Männer, die sich heute noch zu Reserveübungen bei der Bundeswehr melden, tun dies freiwillig. Eine offizielle Reservisten-Kartei existiert nicht mehr. Strack-Zimmermann sprach in ihrer Pressekonferenz von rund 900.000 potenziellen Reservisten. Rund 450.000 davon hofft sie wieder aufzufinden und bei Bedarf einziehen zu können. Die Bundeswehr könnte damit auf eine Truppenstärke von 635.000 Mann anwachsen. Solche Maßnahmen ergeben nur einen Sinn, wenn die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden soll (Verteidigungsminister Boris Pistorius) und wenn Offensiv-Maßnahmen in der Planung sind. Außerdem soll erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges in Deutschland wieder ein Schutzraum-Konzeptentwickelt werden. Es seien Angriffe „mit modernen, äußerst präzisen Waffentechnologien wie Raketen oder Drohnen“ zu befürchten, heißt es in einer Beschlussvorlage für die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern.
So wie das zwischen Deutschland und Polen seit dem Versailler Vertrag strittige Danziger Gebiet, das unter Kontrolle des Völkerbundes stand, schließlich den Zweiten Weltkrieg auslöste, könnte ein Dritter Weltkrieg im sogenannten Sulwaki-Korridor ausgelöst werden. Das ist die einzige rund 100 Kilometer breite Landverbindung zwischen den baltischen NATO-Ländern und dem NATO-Land Polen. Westlich davon befindet sich die Region Kaliningrad/Königsberg als russische Exklave und östlich davon der mit Russland kooperierende Staat Weißrussland. Der gesamte NATO-Nachschub müsste bei einer russischen Blockade der Ostsee über diesen Korridor laufen. In und um Kaliningrad sollen zudem russische Mittelstrecken-Waffenstationiert sein, mit denen im Kriegsfall Deutschland angegriffen werden könnte. Bei direkten Kämpfen unter Einbeziehung von westlichen Truppen in der Ukraine (vor allem aus Frankreich) könnte die in Litauen stationierte deutsche Brigade gegen Kaliningrad in Marsch gesetzt werden. Noch ist das ein Tabu, aber die Aufstockung der Bundeswehr auf 635.000 Mann macht nur Sinn, wenn die Planer in Brüssel und Berlin denken, ein Angriff sei schon immer die beste Verteidigung gewesen, zumal sich die militärische Lage der Ukraine immer weiter verschlechtert. Werden etwa 2025, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, deutsche Soldaten wieder in Königsberg einmarschieren? Das ist sicher eine utopische Vorstellung, aber dass ein mit deutschen Offensivwaffen ausgerüsteter Selenskyj Raketen auf den Kreml schießen könnte, wäre vor zwei Jahren ebenfalls als utopisch oder als „Fake News“ bezeichnet worden.
Es ist höchste Zeit, den Nachfolgern von Gavrilo Princip die Waffen aus der Hand zu nehmen, um den Krieg zu verhindern.
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