Deutschland will europäischen Block in der Arktis schmieden

Von Hans-Georg Münster

EU-Kommission kein ernstzunehmender Partner mehr / Skandinavien rüstet massiv auf
Deutschland strebt eine größere Rolle im Konzert der arktischen Mächte an. Obwohl zum Beispiel Hamburg rund 1.500 Kilometer vom nördlichen Polarkreis entfernt ist, wird die rohstoffreiche Region für die Bundesrepublik immer wichtiger. Auf einer Online-Arktis-Konferenz des „Office for the Nordic Countries“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert Stiftung am 12. März 2021 empfahl der Politik-Wissenschaftler Tobias Etzold der deutschen Politik quasi eine Art Schulterschluss mit den kleineren nordischen Ländern wie Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Island. Ziel ist offenbar, unter deutscher Beteiligung einen gemeinsamen Block gegen die in der Region rivalisierenden Großmächte USA und Russland sowie gegen das ebenfalls an der Arktis interessierte China zu bilden und auch für militärische Auseinandersetzungen gewappnet zu sein. In den Überlegungen für eine stärkere Rolle Deutschlands spielt die EU-Kommission in Brüssel keine Rolle mehr. Es kommt einer Sensation gleich, dass ein der Bundesregierung nahestehender Thinktank empfiehlt, auf die nationale statt auf die Brüsseler Karte zu setzen. Dies würde einen völligen Bruch mit der bisherigen europapolitischen Linie Berlins bedeuten.
Zwar war das Motto der Konferenz „The Arctic is not for sale“ (die Arktis ist nicht zu verkaufen) klar gegen die US-amerikanische Administration und den früheren Präsidenten Donald Trump gemünzt, der Dänemark öffentlich den Kauf der überwiegend von Eis bedeckten Insel Grönland angeboten hatte. Aber in einer vor der Konferenz im Auftrag der Ebert-Stiftung in Stockholm verfassten Studie über nordische, deutsche und EU-Interessen in der Arktis mit dem Titel „Einfluss durch Kooperation“ räumt Etzold ein, dass Trumps Angebot keinesfalls eine seiner vielen unüberlegt scheinenden Poltereien war: „Trumps Grönlandvorstoß ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass China sich ebenfalls für die Insel interessiert und sich dort, wie in anderen Teilen der Arktis, an Bergbau- und Infrastrukturprojekten beteiligt beziehungsweise beteiligen will. Die USA sehen gerade in der wirtschaftlichen wie auch militärischen Zusammenarbeit zwischen China und Russland eine große Herausforderung.“ Kanada sehe das ähnlich.
Die Aufrüstung in der Arktis erreicht derweil eine neue Dimension. Die neue US-Administration unter Präsident Biden blieb voll auf der Linie der Vorgängerregierung, die zum Beispiel mit dem Manöver „Trident Juncture“ 2018 ein Zeichen militärischer Stärke gesetzt und auf die erhöhte russische Militärpräsenz reagiert hatte. Die US-Regierung ließ inzwischen B1-Bomber auf dem norwegischen Luftwaffenstützpunkt Örland stationieren. Der schwedische Wissenschaftler Niklas Granholm von der Forschungsagentur für Verteidigungsfragen in Stockholm sah darin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk einen Ausdruck von Offshore Balancing: „Statt auf die Stationierung von Landstreitkräften setzt man nun vermehrt auf See- und Luftstreitkräfte, die schnell bewegt und eingesetzt werden können. Das ist die Militärstrategie für die Verteidigung Skandinaviens.“ Die Spannungen in der Region wachsen: „Die Tatsache, dass es sich um strategische Bomber handelt, löst in Russland natürlich Besorgnis aus“, so Kristian Atland vom Norwegian Defence Research Establishment in Oslo.
In Skandinavien selbst wird derzeit aufgerüstet wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Nach einem Bericht der Tageszeitung DIE WELT (1. März 2021) erhöht Schweden seine jährlichen Verteidigungausgaben um 40 Prozent und will die Zahl der Soldaten von derzeit 55.000 bis 2030 auf 90.000 erhöhen. Auch Finnland will die Truppenstärke wieder anheben und plant zudem die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge im Wert von rund zehn Milliarden Euro. Nach russischen Manövern unter anderem mit neuen Raketensystemen auf der nahe zur norwegischen Grenze gelegenen Halbinsel Kola verlegte Norwegen Panzertruppen in die Region. Wie in der Studie der Ebert-Stiftung zudem ausgeführt wird, treibt Norwegen die Sorge um, dass sich China auf dem seit 1925 demilitarisierten Spitzbergen-Archipel festsetzen könnte.
Dänemark will auf Grönland erstmals Soldaten unter arktischen Bedingungen ausbilden und setzt verstärkt auf Aufklärung. Kurz nach Ende des Kalten Krieges hatten die US-Streitkräfte ihre Radar-Aufklärungskapazitäten auf Grönland reduziert; Dänemark hatte 2007 eine Radar-Fernaufklärungsstation auf den zu dem Land gehörenden Färör-Inseln im Nordatlantik geschlossen. Diese Station soll wieder eröffnet werden. Auf Grönland will die dänische Armee ebenfalls Radarstationen an der Küste bauen und Langstreckendrohnen zur Luftaufklärung einsetzen. Gedacht ist offenbar an die Anschaffung von amerikanischen Drohnen des Typs „Reaper“. Dabei handelt es sich faktisch um unbemannte Kampfflugzeuge, die rund 1,5 Tonnen Waffen und Munition tragen können, eine Reichweite von knapp 3.000 Kilometern haben und etwa einen Tag lang in der Luft bleiben können, ehe sie zu ihrer Basis zurückkehren müssen. Außerdem überlegt die dänische Regierung die Anschaffung kleinerer Satelliten, um auch vom Weltraum aus einen besseren Blick auf die Arktis und das Treiben der Russen und Chinesen zu bekommen.
Militärisch kann Deutschland nicht mithalten. Eine Lehre für die Bundeswehr aus dem Manöver „Trident Juncture“ war, dass ihre Ausrüstung für den hohen Norden wenig bis gar nicht geeignet war. Militärische Beschaffungen zur Verbesserung der Einsatzfähigkeit sind geplant, dauern aber in der Bundesrepubik bis zur Realisierung oft Jahre. Folglich wird zunächst auf politische Einflussnahme gesetzt, wie Tobias Etzold in der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung deutlich macht.
Die nordischen Länder könnten „wichtige Türöffner“ zur Arktis für die EU und ihre Mitglieder, besonders Deutschland, sein, wobei die europäische Karte offenbar nicht gespielt werden soll. Dies kommt einer 180-Grad-Wende der deutschen Außenpolitik gleich, die in den Regierungsjahren von Kanzlerin Angela Merkel immer stärker auf die EU gesetzt hatte. Die Position der EU sei jedoch so schwach, „dass sie noch immer keinen eigenständigen Beobachterstatus im Arktischen Rat hat. Vorläufig bleibt die EU daher ein Arktisakteur mit begrenzten Einflussmöglichkeiten“ und werde „kaum ernst genommen“, so die Studie. Im Arktischen Rat kommen regelmäßig alle Anrainerstaaten und Vertreter der Ureinwohner zusammen. Viele Länder, darunter auch China und Deutschland, haben Beobachterstatus.
Etzold sieht Deutschland trotz der militärischen Unzulänglichkeiten in einer wichtiger werdenden Rolle: Strategische und sicherheitspolitische Aspekte hätten für die Bundesrepublik inzwischen einen „ungleich höheren Stellenwert“. Deutschland wolle einer verstärkten Militarisierung der Region durch das Fördern von Kooperationen und das Einbringen von Vermittlungskompetenz entgegenwirken, heißt es mit Blick auf die deutschen Leitlinien zur Arktis-Politik von 2019. Etzold rät der Bundesregierung dazu, sich „intensiv und speziell“ um die nordischen Länder zu bemühen. Solche Empfehlungen werden im Berliner Auswärtigen Amt durchaus ernst genommen. Gilt doch die Ebert-Stiftung als Thinktank für die SPD, die mit Heiko Maas den Außenminister in der Bundesregierung stellt. Zwar wurde die SPD angesichts sehr schlechter Umfrageergebnisse in den letzten Monaten weitgehend abgeschrieben. Doch haben Fehler und Versäumnisse in der Corona-Bekämpfungspolitik sowie ein Korruptionsskandal der dominierenden CDU/CSU in den letzten Wochen stark zugesetzt. Sollten die Unionsparteien bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 in der Wählergunst weiter sinken, könnte es sein, dass neben den Grünen auch die SPD wieder zur Regierungsbildung benötigt wird und das Außenministerium in SPD-Händen bleibt.
Zu denken sei an eine Stärkung des Arktischen Rates sowie die Schaffung einer „inklusiven arktischen Plattform zur Erörterung sicherheitspolitischer Fragen, lautet Etzolds Rat an eine künftige Bundesregierung. Dabei sollten die Europäer ihre Zusammenarbeit intensivieren. „Auch wenn noch der Wille zur Kooperation überwiegt, müssen sie sich aber gemeinsam für eine nicht gänzlich auszuschließende Situation wappnen, in der die USA, Russland und China aus den internationalen Strukturen ausscheren und ihre Interessen verstärkt national und im Bedarfsfall mit militärischen Mitteln verfolgen“, so die Empfehlung aus der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bilder: Depositphotos
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