Deutschland hat die Geopolitik vergessen / Die amerikanische Rechnung geht auf / Bundesbürger werden auf Verzicht eingestimmt

Von Hans-Georg Münster

Vier Wochen dauert jetzt der der militärische Konflikt in der Ukraine, und Deutschland ist von einer Welle der Solidarität erfasst worden. Die Kanzlerschaft von Olaf Scholz (SPD) ist schon jetzt mit dem Begriff der „Zeitenwende“ untrennbar verbunden. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist den Tränen nahe, dass Deutschland immer noch Gas aus Russland beziehen muss und die Umstellung auf Alternativen so lange dauert. Doch die Solidarität ist die eine Seite, die Umsetzung von Sanktionen gegen Russland und Hilfen für die Ukraine die andere. Waffenlieferungen kamen bisher kaum in der Ukraine an. Hochwertige und schwere Waffen soll es nicht geben, und auch die Einrichtung einer Flugverbotszone in der Ukraine durch die NATO wird von der Bundesregierung strikt abgelehnt. „Gerade scheint es, als seien die Ritter der Zeitenwende vom eigenen politischen Wandel so ergriffen, dass sie darob die Umsetzung vergessen. Die Bekundung von Solidarität ist zur eigentlichen Politik geworden“, spottete die „Neue Zürcher Zeitung“ aus der Schweiz über die Politik des nördlichen Nachbarlandes.
Natürlich gibt es militärische Drohungen. So sollen deutsche Truppenkontingente NATO-Einheiten im Baltikum verstärken, und in Brüssel kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich als perfekter Resonanzboden für die deutsche Verlautbarungspolitik versteht, einmal mehr die Aufstellung einer seit langem versprochenen europäischen Eingreiftruppe an. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte sofort 5.000 Soldaten zu. Doch an der Einsatzfähigkeit der deutschen „Lotterarmee“ (Neue Zürcher Zeitung) bestehen erhebliche Zweifel. Der Inspekteur des deutschen Heeres, Alfons Mais, erklärte schon zu Beginn des Ukraine-Konflikts, die Bundeswehr stehe mehr oder weniger blank da. Viel deutlicher sprechen das ehemalige deutsche Generäle aus. So erklärte der frühere Luftwaffengeneral Joachim Wundrak, Deutschland sei heute eine „postheroische Gesellschaft“, in der der Wille zur Verteidigung des Eigenen kaum noch ausgeprägt sei. Die Bundeswehr habe ein Problem, „auch nur eine einzige kampffähige Brigade, also etwa 5.000 Mann, aufzubieten“.

Deutsche Politiker, die viel von Gender, Diversität, Antidiskriminierung und Antirassismus reden, haben nicht die geringste Kenntnis von Staatskunst und Staatsführung. Völlig in Vergessenheit geraten ist die geopolitische Situation. Den USA war die Berliner Politik, die sich energiepolitisch in eine immer stärkere Abhängigkeit von Russland begab und diese Abhängigkeit als Ausdruck der deutsch-russischen Freundschaft verstand, schon seit langem ein Dorn im Auge. Wer sehen wollte, konnte sehen, dass der amerikanische Widerstand gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 tiefere Hintergründe hatte als nur der Versuch einer Störung eines Gasprojekts zwischen Deutschland und Russland. Deutschland sollte, so die amerikanische Überlegung, wieder stärker in das transatlantische Bündnis eingebunden und auch an die USA angebunden werden. Denn auch treue Verbündete der Amerikaner wie Polen und die baltischen Länder nutzen aus geopolitischer Sicht wenig, wenn man nicht ausschließen kann, dass die zentrale Macht in Mitteleuropa, nämlich Deutschland, gelegentlich die russische Karte spielen könnte.

Die Rechnung der USA ist vollkommen aufgegangen. Was unter Präsident Donald Trump noch ausgeschlossen war, geriet mit Joe Biden zum Kinderspiel: Deutschland ist der getreue Satrap des US-geführten Westens. Entweder haben die SPD mit Kanzler Olaf Scholz und die Grünen mit ihren Führungsfiguren Robert Habeck und Annalena Baerbock nicht begriffen, was es bedeutet, das Tischtuch zwischen Deutschland und Russland völlig zu zerschneiden, oder sie haben sich grob fahrlässig in die Arme von Biden geworfen, dessen Kriegsrhetorik inzwischen selbst von der eigenen Administration relativiert wird.

Die amerikanische Deutschlandpolitik tritt jetzt in die nächste Phase ein. Geopolitisch ist das Projekt vollendet. Bis Deutschland und Russland sich wieder annähern, dürfte es mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Jetzt kommt die geschäftliche Seite. Die 100 Milliarden Euro, die Scholz in seiner Zeitenwende-Rede als deutschen Beitrag zur Aufrüstung ankündigte, dürften überwiegend in die Taschen der amerikanischen Rüstungsindustrie fließen. Angekündigt wurde der Kauf einer ganzen Flotte amerikanischer Kampfflugzeuge vom Typ F-35. Diese sogenannten Tarnkappenbomber sind auch in der Lage, amerikanische Atomwaffen zu tragen, die in Deutschland stationiert sind. 

In den letzten Tagen kamen Berichte hinzu, wonach Deutschland an die Anschaffung eines Raketenabwehrschilds denkt. Auch dieses Projekt wird mehrere Milliarden Euro kosten. Im Gespräch sind von der amerikanischen und israelischen Rüstungsindustrie zum Teil gemeinsam entwickelte Systeme wie „Iron Dome“ (Eiserne Kuppel), das Kurzstreckenraketen abfangen kann, und das Luftabwehrsystem „Arrow 3“, das anfliegende Langstreckenraketen noch im Weltraum schon weit vor Erreichen ihres Ziels ausschalten kann.

Es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten der Politik, dass mit Reden und auch dem Vergießen von Tränen eine Zeitlang Handeln vorgegaukelt werden kann, aber dass alle Beteiligten irgendwann merken, dass hier nur Wolkenschieberei stattfindet. Es sind also Maßnahmen angesagt, wobei militärische Mittel nach wie vor ausgeschlossen werden. Interessant sind vor diesem Hintergrund die sich in den letzten Tagen häufenden Äußerungen deutscher Politiker, die Bundesbürger würden bald schwere Zeiten zu spüren bekommen und sollten sich darauf einstellen.

So wurde eine wichtige Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wegen einer peinlichen Posse kaum beachtet. Steinmeier hatte zu einem Solidaritätskonzert für die Ukraine mit den Berliner Philharmonikern in seinem Dienstsitz Schloss Bellevue eingeladen. Wahrgenommen wurde in der Öffentlichkeit nur, dass der ukrainische Botschafter Melnyk der Veranstaltung fernblieb, weil bei den Berliner Philharmonikern russische Künstler mitspielen. Dieses Verhalten des Ukrainers ist genauso bei Deutschen zu finden, wo die Diskriminierung von Russen schon fast zum Alltag gehört. Und wenn man keine Russen entlassen oder Verträge mit ihnen kündigen kann, dann werden russische Produkte aus den Regalen genommen. Und man ist noch stolz darauf. Ein Blick in die jüngere Geschichte würde schlimme Analogien zeigen, aber die deutsche Gesellschaft ist derart in sich selbst und in ihr Gutmenschentum verliebt, dass sie zu einem Blick zurück nicht mehr fähig ist. Selbst der grünen Kulturministerin Claudia Roth geht das Verhalten gegen Russen zu weit: „Ich warne vor Tendenzen eines Boykotts russischer Kunst und Kultur oder einem Generalverdacht gegenüber russischen Künstlerinnen und Künstlern und allgemein gegenüber Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus Russland stammen.“

Steinmeiers Rede wurde vor diesem Hintergrund zu wenig beachtet. „Es kommen auch auf uns in Deutschland härtere Tage zu“, erklärte der Bundespräsident. Diese Tage würden die Welt und auch Deutschland verändern – „vielleicht schneller als wir es für möglich gehalten hätten und die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns.“

Damit nahm der Präsident offenbar Bezug auf die zu diesem Zeitpunkt öffentlich noch nicht bekannte Weigerung der G7-Länder, darunter auch Deutschland, russische Öl- und Gaslieferungen künftig in Rubel und nicht mehr wie bisher in Euro oder Dollar zu bezahlen. Die Bezahlung der Energielieferungen in Rubel hatte der russische Präsident Wladimir Putin verlangt. Was Steinmeier nicht sagte, sondern nur andeutete, ist, dass Deutschland offenbar bereit ist, den russischen Gashahn selbst zuzudrehen.

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), offensichtlich vorgeschickt von seinem besonders amerikafreundlichen Parteivorsitzenden Friedrich Merz, stimmt die Öffentlichkeit bereits auf ein Ende der russischen Lieferungen ein. „Ich denke, wir müssen schnellstmöglich auf russische Gas- und Öllieferungen verzichten. Wir dürfen nicht immer der Bremser im westlichen Bündnis sein.“ Die atlantische Solidarität, die Deutschland genießen dürfe, sei keine einseitige Sache.

Gewinner dieser Operation werden die amerikanischen Öl- und Gaskonzerne sein, die gerne in die Lücke springen und Deutschland mit Energie versorgen wollen – allerdings zu erheblich höheren Preisen, als dies bisher die Russen taten. Aber so ist das in der Politik: Wer keine Vorsorge trifft, muss schließlich überhöhte Rechnungen bezahlen.

Die Rechnung bezahlen allerdings nicht der deutsche Bundeskanzler und grün-rote Minister, bei denen die Heizung immer warm bleiben dürfte, sondern Arbeitnehmer, Arbeitslose, Studenten und Rentner sowie die Unternehmen, die unter den bereits seit Beginn des Konflikts um die Ukraine massiv gestiegenen Energiekosten leiden. Beispielhaft genannt sei hier Wolfgang Grupp, einer der letzten großen Textilunternehmer in Deutschland (Trigema). Er verwies in einem Interview darauf, dass die Stahl- und Chemiebranche ihre Produktion in Deutschland teilweise schon eingestellt habe. Auch für ihn rechneten sich viele Produkte nicht mehr: „Und da muss ich doch die Frage stellen: Ist es richtig, Putin zu bestrafen, wenn wir uns doppelt und dreifach damit weh tun? Schießen wir damit nicht ein kolossales Eigentor? Es muss doch noch andere Möglichkeiten geben!“. 

Die anderen Möglichkeiten gibt es, doch die Wege dahin hat sich die deutsche Politik selbst verbaut.

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