Dem Frieden eine Chance

Von Wolfgang Effenberger

Am Freitag vor dem Vierten Advent setzte der SPIEGEL mit dem Artikel „Spannungen mit der NATO“ die Propaganda der deutschen Mainstreampresse vom aggressiven Russland fort. Der diplomatische Konflikt zwischen Russland und dem Westen spitze sich seit Monaten zu. „Besonders große Sorge bereitet derzeit den Nato-Staaten der Aufmarsch russischer Truppen nahe der ukrainischen Grenze.“(1) Die Sorge vor einer Invasion Russlands in die Ukraine sei groß. Als Beweis bezog sich der SPIEGEL auf ein Satellitenbild. Darauf ist auf einem Kasernenkomplex wie an einer Perlenkette aufgereihtes Großgerät zu sehen.
Einen Tag später erschien der Artikel „Konfrontation mit Russland/Nato plant Truppenverstärkung an der Ostflanke“. Nach SPIEGEL-Informationen hat der US-Vier-Sterne-General Tod D. Wolters –  seit 2. Mai 2019 Befehlshaber des United States European Command und seit 3. Mai 2019 in Personalunion Supreme Allied Commander Europe der NATO – angesichts des russischen Aufmarsches an der Grenze zur Ukraine eine Verstärkung der eigenen Truppen an der Ostgrenze der Allianz angemahnt. Ähnlich wie im Baltikum und in Polen solle auch in Rumänen und Bulgarien die Nato-Präsenz über die Mission »Enhanced Forward Presence« (EFP) erweitert werden.(2)  Diese „Verstärkte Vornepräsenz“ wurde Anfang Juli 2016 auf dem NATO-Gipfeltreffen in Warschau beschlossen; sie soll den östlichen Verbündeten Sicherheit geben und gegenüber Russland abschrecken.(3) Inzwischen ist das Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen so schlecht wie lange nicht.
Welche Motive stehen hinter dem seit einem Monat vom Westen als bedrohlicher Aufmarsch, als Vorbereitung einer Invasion angeprangerten Verhalten Russlands?
Noch Mitte November hatten sich die Sprecher des ukrainischen Präsidenten und des Nationalen Sicherheitsrats ebenso wie der Generalstabschef der Ukraine dahingehend geäußert, dass die Meldungen über Konzentrationen russischer Truppen an der Grenze nicht bestätigt werden können.(4) Was stimmt denn nun? Bereitet Russland die Invasion der Ukraine aktiv vor oder ist alles doch nur Teil einer psychologischen Kriegsführung.
Ein Blick auf das als Beweis dienende Bild des SPIEGEL „Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine“ verrät: Für eine Invasion zusammengezogene Truppen fahren ihr Großgerät nicht in Reih und Glied auf. Die Truppe wird disloziert und im Sinne einer Volltarnung nach Möglichkeit der Aufklärung durch den Gegner entzogen.
Wer ist der Aggressor?
1947 hatte US-Präsident Harry S. Truman mit seiner nach ihm benannten Eindämmungsdoktrin des ehemaligen Verbündeten Stalin den Beginn des Kalten Kriegs zwischen den USA und der Sowjetunion eingeleitet. Bereits zwei Jahre später, am 19. Dezember 1949, setzten die USA den Kriegsplan DROPSHOT in Kraft. Demnach sollte 1957 – nach weitgehend abgeschlossener Aufstellung der Bundeswehr – die Sowjetunion umfassend (auch nuklear) angegriffen werden, was damals der piepsende Satellit SPUTNIK verhinderte. Während das Wissen um DROPSHOT bei den westlichen Politikern kaum vorhanden sein dürfte, ist es bei russischen Entscheidungsträgern umso mehr präsent.
Von den westlichen völkerrechtswidrigen Kriegen (Restjugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien...) und der permanenten NATO-Osterweiterung seit 1999 soll hier nicht die Rede sein. Höhepunkt der expansiven NATO-Politik war der Umsturz in der Ukraine, den hohe US-Politiker und Mitglieder der US-Regierung ab November 2013 orchestrierten. Nach den großen Protestwellen in Kiew Anfang Dezember 2013 traf sich der mächtige US-Senator John McCain, Vorsitzender des US-Streitkräfteausschusses, mit der ukrainischen Opposition, darunter die Führer der rechtsextremen SVOBODA-Partei. Am 15. Dezember 2013 schließlich hielt McCain auf dem Maidan in Kiew eine Rede an die Opposition und versicherte: «Amerika steht auf Eurer Seite»(6) Eine Ungeheuerlichkeit in einem souveränen Staat! Auslöser der vom 21. November 2013 bis 26. Februar 2014 dauernden Proteste war die Weigerung der ukrainischen Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union (und zwar den militärischen Teil) zu diesem Zeitpunkt zu unterzeichnen. Am 16. März 2014 nahmen die Krimbewohner ihr Selbstbestimmungsrecht wahr und stimmten mit überwältigender Mehrheit beim unblutigen Referendum für den Beitritt zur Russischen Föderation. USA und EU sehen in dem Anschluss jedoch eine Annexion und verweigern den Krimbewohnern bis heute das Selbstbestimmungsrecht. Die verhängten Sanktionen werden aufrechterhalten.
Im Vergleich zur vom Westen durchgeführten gewaltsamen Abtrennung des Kosovo von Serbien – unter Einsatz von mehr als 28.000 Raketen, Bomben und Uran-Granaten mit 2.500 Toten, zerstörter Infrastruktur und zerstörten Städten(7) – stellten die chinesischen Medien zu Recht die Heuchelei des Westens an den Pranger.
Für die Einrichtung einer Übergangsverwaltungsmission bildete die UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 die völkerrechtliche Grundlage. Darin wurde die territoriale Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien festgeschrieben. Ungeachtet dessen trieb der Westen die Unabhängigkeit des Kosovo voran und brachte am 17. April 2009 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag seine Argumente vor. Noch bevor die fünfzehn Richter in Den Haag den Antrag auf Unabhängigkeit prüfen konnten, bezeichnete US-Vizepräsident Biden bei einem Besuch im Kosovo im Mai 2009 die Unabhängigkeit des Landes als unumkehrbar. Eine deutlichere Missachtung eines höchsten Gerichts ist kaum denkbar – und das von einem Juristen!(8)
Als Vizepräsident und Vertrauter Obamas ist Joe Biden sechsmal in die Ukraine geflogen. Für Charles Kupchan, unter US-Präsident Barack Obama im Sicherheitsrat des Weißen Hauses zuständig für Europa, ist Biden „der transatlantischste Präsident, den die USA seit Jahrzehnten hatte – ein kompromissloser Verfechter enger Bande über den Atlantik“(9)und dazu ein Fan der NATO.
Welche Hoffnung kann man da in friedenspolitischer Sicht noch auf Präsiden Biden setzen?
Die Ziele Putins liegen ebenfalls schon lange offen.
Anfang März 2000 bat BBC-Moderator David Frost Putin, seine Ansichten zur NATO zu erläutern: potenzieller Partner, Rivale oder Feind? Die Antwort, die Putin damals gegeben hat, würde er vermutlich heute ähnlich formulieren:
„Russland ist ein Teil der europäischen Kultur. Und ich kann mir mein eigenes Land nicht isoliert von Europa und dem, was wir oft die zivilisierte Welt nennen, vorstellen. Deshalb fällt es mir schwer, mir die NATO als Feind vorzustellen. Ich denke, selbst wenn man die Frage so stellt, wird das weder Russland noch der Welt etwas nützen. Allein die Frage ist geeignet, Schaden anzurichten. Russland strebt nach gleichberechtigten und offenen Beziehungen mit seinen Partnern. Das Hauptproblem liegt hier in den Versuchen, zuvor vereinbarte gemeinsame Instrumente - vor allem bei der Lösung von Fragen der internationalen Sicherheit zu unterlaufen. Wir sind offen für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit, für eine Partnerschaft. Wir glauben, dass wir über eine tiefere Integration in die NATO sprechen können, aber nur, wenn Russland als gleichberechtigter Partner angesehen wird. Wie Sie wissen, haben wir uns immer wieder gegen die NATO-Osterweiterung ausgesprochen.“(10)
Am 15. Dezember 2021 formulierte Putin auf Grundlage seiner 2000 geäußerten Visionen einen Vertragsentwurf zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika über Sicherheitsgarantien. Dazu gehört auch ein Abkommen über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation und der Mitgliedsstaaten der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO). Darin sind die von Russland gewünschten Sicherheitsgarantien schriftlich festgehalten. Sie sollen nun nachträglich in einen Rechtsrahmen gestellt werden, was bei der Auflösung des Sowjetblocks durch Gorbatschow versäumt wurde.
Präambel des angestrebten Abkommens
Eingangs wird festgestellt, dass sich die Beziehungen zwischen Russland und der NATO in einer langwierigen Krise befinden und in den Brüsseler Beschlüssen des NATO-Gipfels 2018 die Linie der militärisch-politischen "Eindämmung" Russlands weiter verfolgt wird. Das gälte auch für den langfristigen Kurs des Ausbaus der NATO-Koalitionsfähigkeiten zur Schaffung von Truppenverbänden und zur weiteren Verbesserung der militärischen Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen.
Weiter folgt eine Aufzählung von für Russland bedrohlichen Maßnahmen durch USA/NATO:

• Stetige Zunahme der militärischen Präsenz und forcierter Ausbau der militärischen Infrastruktur in Osteuropa und den baltischen Staaten, 

• Steigerung von Anzahl und Intensität der Militärübungen des Bündnisses,

• Beteiligung Schwedens, Finnlands und anderer Partnerstaaten an den militärischen Aktivitäten des Bündnisses, 

• Erhöhte Aktivitäten von Marine und Luftwaffe im Ostseebereich, 

• Die Gefährdung der NATO-Russland-Grundakte von 1997 durch Pläne für eine dauerhafte Stationierung von US-Truppen, 

• Die allmähliche und systematische Zerstörung einer wirksamen europäischen Sicherheitsarchitektur samt den Normen des Völkerrechts, 

• Die immer noch bestehende einseitige Entscheidung der NATO, die praktische Zusammenarbeit mit Russland auf militärischem und zivilem Gebiet auszusetzen.

„In all diesen Maßnahmen werden langfristig destabilisierende Folgen für die regionale und die gesamte euro-atlantische Sicherheit erkannt. Trotz der unfreundlichen Schritte, die gegen Russland unternommen wurden, hat Russland nicht die Absicht, sich in die aufgezwungene und sinnlose Konfrontation hineinziehen zu lassen.

Wir glauben weiterhin fest an die strategische Gemeinsamkeit der Ziele mit allen Staaten und Organisationen der euro-atlantischen Region zur Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität und zur Bekämpfung gemeinsamer Sicherheitsbedrohungen - internationaler Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Drogenhandel und Piraterie. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass es keine wirkliche Alternative zu einer für beide Seiten vorteilhaften und breit angelegten gesamteuropäischen Sicherheitszusammenarbeit auf der soliden Grundlage des Völkerrechts gibt.

Die Position Russlands bleibt unverändert - unser Land ist bereit, die Beziehungen zur NATO auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu entwickeln, um die umfassende Sicherheit in der euro-atlantischen Region zu stärken. Die Tiefe und der Inhalt dieser Beziehungen werden von der gegenseitigen Bereitschaft des Bündnisses abhängen, die legitimen Interessen Russlands zu berücksichtigen.“(11)
Die Forderung Russlands nach Sicherheitsgarantien und das Verlangen, als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden, werden vermutlich viele Hardliner im Westen empört ablehnen.
Ohne den Frieden aber ist alles andere Nichts!
Die Präambel der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 hat den Weg in die richtige Richtung aufgezeigt:
Präambel der UN

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, 

  • künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

  • unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,

  • Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

  • den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, und für diese Zwecke

  • Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben,

  • unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,

  • Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und

  • internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken“(12)

Anmerkungen

1)Spannungen mit der Nato vom 17.12.21 unter 

www.spiegel.de/ausland/russland-veroeffentlicht-liste-mit-geforderten-sicherheitsgarantien-an-nato-staaten-a-0a293205-54ad-44b3-b574-3f508f1743bf

2)Matthias Gebauer: Konfrontation mit Russland

Nato plant Truppenverstärkung an der Ostflanke 18.12.21

www.spiegel.de/ausland/nato-plant-truppenverstaerkung-an-der-ostflanke-a-59540354-6d2c-4177-8193-6107a35fc166

3)https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133169.htm

5)Ebenda

6)https://www.thejournal.ie/ukraine-protests-john-mccain-1223747-Dec2013/

7)Gotthard Frick: Putin stellte die richtige Frage

www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-2829-14-dezember-2021/putin-stellte-die-richtige-frage.html

8)Wolfgang Effenberger, Schwarzbuch EU & NATO, Höhr-Grenzhausen 2020, S. 308

9)https://www.derstandard.de/story/2000124295640/usa-eu-experte-kupchan-biden-tut-alles-um-wieder-vertrauen

10)BC BREAKFAST WITH FROST INTERVIEW: VLADIMIR PUTIN MARCH 5TH, 2000

news.bbc.co.uk/hi/english/static/audio_video/programmes/breakfast_with_frost/transcripts/putin5.mar.txt

11)Pressemitteilung zu den Entwürfen russischer Dokumente über rechtliche Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten und der NATO

Ausführliche Berichterstattung vom 17. Dezember 2021 unter thesaker.is/russian-draft-documents-on-legal-security-guarantees-from-the-united-states-and-nato

12)https://unric.org/de/charta/

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