Bundestagswahl: Deutschland wird „grüne Republik“

Hans-Georg Münster
Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist aus Deutschland ein anderes Land geworden. Die alte Bundesrepublik, wirtschaftlich ein Erfolgsmodell, ist genauso in das Geschichtsbuch eingegangen wie der einstige sozialistische Vorzeigestaat DDR. Der Traum, Deutschland werde eine Art größere Bundesrepublik mit Einsprengseln von DDR-Bürgerrechtlern, war ein Wunschtraum. Das Ergebnis nach über 30 Jahren wird ein ganz anderes sein: „Deutschland will grün werden“, stellte vor einiger Zeit die Frankfurter Allgemeine Zeitung fest. 

Die Wahl am Sonntag (26. September 2021) wird diese Entwicklung zementieren. Längst geht es nicht mehr wie 1972 um das Bekenntnis zur neuen Ostpolitik oder 1990 um Fragen der deutschen Einheit. Heute sind in Deutschland alle Parteien mit Ausnahme der AfD irgendwie „grün“. Die Zeitschrift „Der SPIEGEL“ fasste das so zusammen: „Deutschland wird nachhaltiger und gleicher – egal, ob die Grünen bald (mit)regieren oder nicht. Denn Gesellschaft und Wirtschaft stehen auf der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe.“

Diese neue Entwicklungsstufe kann als „grüne Republik“ bezeichnet werden. Der beispiellose Absturz der CDU/CSU in den bisherigen Umfragen ändert nur die Rollenverteilung, aber nicht das Ergebnis: Jetzt könnte die in einer Scheinblüte befindliche SPD mit Olaf Scholz den Kanzler stellen, der eine Koalition mit den Grünen bilden wird und eventuell einer kleinen Hilfspartei wie der FDP oder den Linken bedarf. Wäre die CDU/CSU noch so stark wie im Frühjahr, würde sie versuchen, mit den Grünen eine Regierung zu bilden. Und wären die Grünen stärkste Fraktion geworden, hätten sie mit der SPD oder CDU/CSU eine Regierung gebildet. Somit ist eine Regierung ohne Grüne fast unmöglich. Und sie bestimmen die Preise. Ein Preis wird sein, dass Deutschland einen grünen Bundespräsidenten bekommen wird; im Gespräch ist Katrin Göring-Eckardt. Dass die Grünen außen vor bleiben und sich die derzeitige Große Koalition mit Hilfe der FDP noch zu einer Regierung zusammenfindet, wäre zwar die letzte aller Möglichkeiten, doch eigentlich ist der Hass zwischen Union und SPD nach langen Regierungsjahren zu groß. Die AfD wird von allen anderen Parteien geächtet und spielt keine Rolle bei Koalitionen. 

Diese Wahl ist die seltsamste aller bisherigen Bundestagswahlen, da alle drei Kanzlerkandidaten nicht regierungswürdig erscheinen:

Armin Laschet (CDU/CSU) hat sich mit seinem Gelächter im TV bei einer Besichtigung von Überschwemmungsbieten selbst disqualifiziert;

Annalena Baerbock (Grüne) musste mehrfach ihren Lebenslauf an die Realität anpassen; 

Olaf Scholz hat aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister ein Korruptionsproblem (Cum-Ex-Geschäfte) und als Finanzminister gleich mehrere Finanzskandale zu verantworten. Egal ob er nun Kanzler wird oder nicht: Ein Untersuchungsausschuss gegen ihn im nächsten Bundestag ist sicher. Dennoch sehen die Wetten wenige Tage vor der Wahl Scholz vorne. Die Medien auch: „Der Auferstandene“ titelte der „Stern“ eine Story über Scholz.

Wer auch immer Kanzler wird und wer die Regierung bilden wird, Deutschland wird ein anderes Land werden. Die alte Bundesrepublik glänzte als stabile Demokratie und als friedliches Land mit einer exzellenten Wirtschaft. „Made in Germany“ hatte einen tollen Ruf in der ganzen Welt. Davon ist nicht mehr viel übrig. Die deutsche Wirtschaft ist dabei, sich von allen Spitzenplätzen in der Welt zu verabschieden und auf dem Weg nach unten. Derzeit ist ein Bündnis aus Politikern, angeblichen Wissenschaftlern und Medien dabei, die Automobilwirtschaft zu ruinieren. Der Autoverkehr soll reglementiert, teilweise sogar verboten werden; die besten und von Deutschen erfundenen Automotoren (Otto und Diesel) stehen vor einem Verbot. Was hierzulande als „Verkehrswende“ bejubelt wird, sieht man im Ausland anders: Autos, die im eigenen Land keiner mehr haben will bzw. darf, werden anderswo unverkäuflich sein. Das war schon bei deutschen Atomkraftwerken so und bei modernen Verkehrsmitteln wie der Magnetbahn „Transrapid“. 

Deutschland will nicht mehr erfolgreich, sein, sondern nur noch „moralisch“ besser. Zu sehen ist dies an der Verkehrswende, der Energiewende, der Agrarwende oder der Finanzwende. Überall werden marktwirtschaftliche Prinzipien auf den Kopf gestellt – mit schon jetzt absehbaren katastrophalen Ergebnissen für das Land, ohne dass der Planet gerettet werden würde. Dafür ist Deutschland zu klein. Die moralische Selbstüberhöhung wurde auch außenpolitisch klar, wenn man bedenkt, wie negativ sich deutsche Politiker über ausländische Staatsmänner wie Trump oder Putin äußerten.

Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung noch verstärkt. Bestand schon vorher in der Politik die Neigung, den Leuten in obrigkeitsstaatlicher Manier alles Mögliche vorzuschreiben bis hin zur Trennung ihres Hausmülls, so bildete sich in der Pandemie eine Allparteienkoalition (Ausnahme AfD), die mündige Bürger wie kleine Kinder behandelte, die sich ihren „Piecks“ (Impfung) abzuholen hätten. Zugleich wurden Verbote erlassen, die alles Vorherige in den Schatten stellten. Grenzen wurden wieder geschlossen und Reiseverbote verhängt, was Kanzlerin Angela Merkel noch in der Flüchtlingswelle für undenkbar erklärt hatte („Wir schaffen das“). Dabei führte die Pandemie-Bekämpfung zu chaotischen Zuständen durch sich zum Teil widersprechende Maßnahmen. Aber Bürokratie und obrigkeitsstaatliches Denken seien in Deutschland wieder salonfähig geworden, klagte die Neue Zürcher Zeitung. 

Über die größten Probleme wurde im Wahlkampf kein Wort gesprochen. Den deutschen Politikern ist eines der höchsten Ziele, die europäische Integration, weggebrochen. Die EU hatte schon in der Flüchtlingskrise 2015 versagt, und sie stellte ihr Unvermögen in der Pandemie erneut unter Beweis. Sie konnte nicht einmal Impfstoff organisieren. Die europäische Währung steht vor dem Scheitern. Die Europäische Zentralbank druckt Geld ohne Ende wie früher die deutsche Reichsbank in der Inflation 1922/23, aber im Wahlkampf war das Thema Inflation tabu – bis vor wenigen Tagen der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder das Thema entdeckte und zum Schutz vor Inflation einen höheren Steuerfreibetrag für Zinsen forderte, obwohl es durch die EZB-Politik gar keine Zinsen mehr gibt und den Sparern eine gigantische Enteignung bevorsteht. Durch die Pandemie sind die Staatsfinanzen zerrüttet. Auch darüber wird fast nicht gesprochen. 

Auf der militärischen Ebene kommt die Niederlage in Afghanistan hinzu, die ebenfalls kein Thema im Wahlkampf war, sondern von den regierungstreuen Medien und vom Staatsfernsehen totgeschwiegen wird. Der peinliche Schlussakt des Afghanistan-Einsatzes hat die unzulängliche Ausrüstung der Bundeswehr jedermann vor Augen geführt. Eine Debatte darüber gibt es ebenso wenig wie über die Sicherheitsinteressen des Landes. Gewiss ist nur, dass deutsche Truppen wieder losmarschieren werden, wenn es einem „guten“ Ziel dient wie der Förderung von Klimaschutz und Frauenrechten. Das erinnert fatal an die Pickelhauben-Zeit von Kaiser Wilhelm II., der die Welt am deutschen  Wesen genesen lassen wollte. Folgen waren die Niederlage im Ersten Weltkrieg und – später – Hitler. 

Nicht wenige Beobachter vermuten, dass sich die CDU/CSU nicht mehr von einer Wahlniederlage erholen und implodieren wird. Ihre Milieus (Christen, Liberale, Mittelständler) schrumpfen genauso wie die der SPD (Arbeiter, kleine Angestellte), die in ihrem Zwischenhoch ein weiteres Problem bekommt: Den Menge der nach 16 Jahren Merkel-Regierung hinterlassenen Probleme wie zerrüttete Staatsfinanzen, explodierende Sozialausgaben und den Abschwung der Wirtschaft mit einem Verlust der industriellen Kerne wird auch ein Kanzler Scholz nicht lösen können. 

Da die heutige Klasse der Politiker die Probleme nicht lösen kann, werden sich die Probleme in einigen Jahren eine Lösung suchen – wie schon 1923 nach der großen Inflation. 

Bilder: Depositphotos
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