Bulgarien am Abgrund

Von Joseph Mathias Roth

Schon zweimal wurden die Bulgaren dieses Jahr an die Wahlurnen gerufen. Doch die politische Klasse des Landes zeigt sich auch nach der zweiten Wahl unfähig eine neue Regierung zu bilden. Zu tief sind die Gräben zwischen den Parteien.
Das Schlafzimmer des Herrn Borissow
Symbol für die Krise ist das Schlafzimmer des bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow. Er schläft mit Pistole auf dem Nachtschrank sowie Goldbarren und einem Bündel von 500 Euro Scheinen in der Schublade. Die Fotos wurden eventuell mit einer Drohne gemacht, aber Borissow streitet zumindest nicht ab, dass die Aufnahmen aus dem Sommer 2020 echt sind. Überzeugende Gründe für sein merkwürdiges Verhalten nannte er aber nicht.
Weitere Zweifel an der Seriosität Borissows haben illegale Telefonmitschnitte genährt, in denen sich der frühere Karatekämpfer und Personenschützer obszön über den bulgarischen Präsidenten Rumen Radew und die Parlamentsvorsitzende äußert.  Borissow streitet die Echtheit der Telefonate an, doch die Stimme auf den Aufzeichnungen ist Borissows Stimme auffallend ähnlich und zudem ist bekannt, dass der Ministerpräsident und Radew ein schlechtes Verhältnis haben.
Merkels Liebling
Diese Skandale, die grassierende Korruption im Land und die mangelnde Pressefreiheit haben im vergangenen Sommer Zehntausende, überwiegend junge Bulgaren auf die Straße getrieben, um den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen zu fordern. Doch in Brüssel und Berlin weigerte man sich die Proteste zur Kenntnis zu nehmen. Während deutsche Politiker und Medien jede regierungskritische Demonstration in Moskau mit wenigen Hundert Teilnehmern umgehend kommentieren, haben die Massendemonstrationen in Sofia und anderen bulgarischen Städten nicht ihre Aufmerksamkeit erregt.
Ist dieses Schweigen vielleicht darauf zurückzuführen, dass Borissow stets als enger Verbündeter von Kanzlerin Merkel und der EU-Kommissionsvorsitzenden von der Leyen galt? Selbst die regierungsnahe „Deutsche Welle“ sieht dies in einem Kommentar kritisch: „Borissow spielt zwar immer den guten Europäer - bei den Sanktionen gegen Moskau, während der Flüchtlingskrise, in der gemeinsamen Energiepolitik, bei der Einhaltung der Finanzkriterien, ja auch in der Coronakrise. Gleichzeitig aber hat er die Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien ausgehöhlt, die Wirtschaft (und vor allem die EU-Fonds) zu einem Selbstbedienungsladen für dubiose Oligarchen und treue Parteifreunde verwandelt, die Medienfreiheit über Mittelsmänner zu Boden getreten.“
Und dann fordert der Kommentator: „Die Demonstranten in Bulgarien, aber auch mehrere Journalisten und Bulgarien-Kenner in Deutschland haben es bereits gesagt, hier sei es wiederholt: Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Laura Kövesi (EU-Generalstaatsanwältin)- sie dürfen nicht mehr die schützende Hand über Bojko Borissow halten!“
Bulgarien auf Kurs von EU und NATO
Dass Brüssel stets zu Borissows dubioser Regierungsführung schwieg, hat auch damit zu tun, dass er stets als Kritiker Moskaus galt, während Präsident Radew eine eher prorussische Position vertritt. Er ist seit 2016 Präsident und trat als unabhängiger Kandidat mit Unterstützung der Sozialistischen Partei an. Radew gewann die Wahl mit fast 60%, sehr zum Ärger von Borissow, der die Gegenkandidatin unterstützt hatte.
Letztendlich konnte Radew aber die Politik des Ministerpräsidenten kaum beeinflussen. So stimmte Bulgarien nie gegen die von der EU verhängten Russlandsanktionen und auch in der NATO, der Bulgarien seit 2004 angehört, ist das südosteuropäische Land ein reiner Befehlsempfänger, der fast nie gegen die Vorgaben aus dem Brüsseler NATO-Hauptquartier aufbegehrt. Es passt ins Bild, das sich Bulgarien auch an den NATO-Einsätzen in Irak und Afghanistan beteiligt hat.
Historisch enge Bindungen an Russland und Deutschland
Bulgarien hat seine historische Rolle als einem Land zwischen Ost und West weitgehend aufgegeben. So hatte Bulgarien seine Unabhängigkeit vom türkisch-osmanischen Reich besonders Russland zu verdanken. 1876 kam es zu einem Aufstand gegen die Osmanen, die seit dem Ende des 14. Jahrhunderts über Bulgarien herrschten. Als türkische Truppen begannen, die Erhebung brutal niederschlagen, intervenierte das russische Zarenreich, das sich als Beschützer der christlich-orthodoxen Balkanvölker sah. Nach der Niederlage der Osmanen gegen die Russen wurde Bulgarien 1878 unabhängig, wenngleich anfangs unter türkischer Oberherrschaft.
Im Ersten Weltkrieg war das Balkanland Verbündeter Deutschlands. Dies war jedoch weniger eine Entscheidung gegen das russische Zarenreich, sondern hatte mehr damit zu tun, dass Bulgarien seine territorialen Ansprüche gegen Rumänien, Griechenland und besonders Serbien glaubte mit Hilfe Deutschlands besser durchsetzen zu können. Bulgarische Truppen waren nur auf dem Balkan eingesetzt und kämpften nicht gegen Russland.
Im Zweiten Weltkrieg war Bulgarien erneut mit Deutschland verbündet, nahm aber nicht am Russlandfeldzug der Wehrmacht teil.  Außerdem weigerte sich die Regierung, die bulgarischen Juden an das Deutsche Reich auszuliefern.
So schaffte es Bulgarien seit seiner Unabhängigkeit lange Zeit gute Beziehungen sowohl zu Deutschland wie zu Russland bzw. der Sowjetunion zu haben. Erst mit Ende des Zweiten Weltkriegs geriet Bulgarien ganz unter Kontrolle der Sowjetunion und wurde ein kommunistischer Vasallenstaat der UDSSR. Generalsekretär Todor Schiwkow, der das Land bis 1989 in autokratischer Manier regierte, war der Sowjetunion so ergeben, dass er zweimal die Angliederung des Balkanlandes an die Sowjetunion im Zentralkomitee beraten ließ.
Nach 1989 integrierte sich Bulgarien mit der Mitgliedschaft in EU und NATO in die westlichen Strukturen, behielt aber weiterhin gute Kontakte nach Russland. Borissow, der 2009 an die Macht kam, vernachlässigte dagegen zunehmend die Beziehungen zu Moskau. Er schwenkte auf einen uneingeschränkt an EU und NATO ausgerichteten Kurs ein.
Borissow am Ende?
In diesem Jahr scheint aber Borissows politische Karriere ihr Ende erreicht zu haben. Die Unzufriedenheit mit ihm und seiner Regierung, die schon bei den Demonstrationen 2020 deutlich wurde, hat sich bei den Wahlen im April auch an den Wahlurnen gezeigt. Borissows Partei „Gerb“ verlor über sieben Prozent der Stimmen und wurde nur noch von einem Viertel der Wähler gewählt. Überraschend stark schnitten dagegen zwei Protestparteien ab. Zum einen die Bewegung „Es gibt so ein Volk“ des TV Entertainers Slawi Trifonow, die 18% der Stimmen erhielt. Zum anderen die Partei „Demokratisches Bulgarien“ mit 10%. Drittstärkste Partei wurden die Sozialisten mit 15%.
Beide Protestparteien machten nach der Wahl deutlich, dass sie eine Koalition sowohl mit Borissow als auch den Sozialisten ausschlossen.  Da eine Regierungsbildung nicht möglich war, hat man die Wähler einfach nachsitzen lassen und sie im Juli erneut an die Urnen gerufen. Gerb konnte die Verluste aus den Wahlen vom April aber nicht rückgängig machen, stattdessen legte die Partei „Es gibt so ein Volk“ weiter zu und wurde sogar stärkste politische Kraft des Landes. Eine Einigung auf eine neue Regierung scheint weiter unwahrscheinlich: zu zerstritten sind die Parteien in Bulgarien.
Im April erklärte Borissow, keine weitere Amtszeit mehr anzustreben. Seit Mai ist der frühere General Stefan Janew Übergangspräsident. Doch Borissow ist immer für eine Überraschung gut und es ist ihm zuzutrauen, dass er nach einer kurzen politischen Karenzzeit wieder an die Macht strebt. In diesem Fall stände Bulgarien allerdings vor einer schweren politischen und gesellschaftlichen Zerreißprobe. Man darf gespannt sein, ob EU und Bundesregierung dann ihre Sprachlosigkeit zu Bulgarien weiter aufrechterhalten.

Bilder: Depositphotos
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