Von Willy Wimmer
Mein Lieber,
es ist schon einige Monate her, daß symbolkräftige Waffen aus deutscher Herstellung im Kriegsgebiet durch russische Streitkräfte erbeutet worden waren. In diesen Tagen werden Bilder von deutschen Kettenfahrzeugen gezeigt, die im Großraum Kursk durch die Felder pflügen. Mir wird übel, wenn ich diese Bilder sehe. Ich zähle zu denen, die voller Hoffnung gewesen sind, nie mehr derartiges erleben zu müssen. Bis heute ist es nicht möglich, das Grab meines Vaters ausfindig zu machen, der aus dem Bergwerk im Donbas eigentlich auf Heimtransport im September/Oktober 1945 nach Berlin entlassen werden sollte. Jetzt trifft es wieder Menschen, mit denen wir in Frieden und auch Freundschaft zusammenleben wollten und natürlich wieder wollen.
Wie Du weißt, habe ich in verantwortlicher Funktion mein Heimatland 1989 bei der größten NATO-Übung des Kalten Krieges in einem Krieg mit dem von der Sowjetunion geführten Warschauer Pakt befehligt. Monate zuvor hatte mir und anderen deutschen Abgeordneten die US-Regierung in Washington verdeutlich, daß die damalige Sowjetunion in Europa rein defensiv unterwegs sei. Die gesamten militärischen Aufwendungen der Sowjetunion würden dem Schutz von „Mütterchen Rußland“ als militärischer Konsequenz von Napoleon und Hitler dienen. Was soll sich daran geändert haben, wenn ich bedenke, daß ohne die aktive Förderung durch die damalige sowjetische Führung eine deutsche Wiedervereinigung überhaupt nicht möglich gewesen wäre.
Es war in meinen Augen der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der den erneuten Weg Europas in das Elend und den möglichen Untergang frühzeitig beklagt hatte. Seine Besuche in Washington nach der Wiedervereinigung führten Mal um Mal zu der verzweifelten Feststellung, in welcher Mißachtung des großen russischen Volkes seine amerikanischen Gesprächspartner mit ihrer Aussage agieren würden, nach der man mit dem Ende des Kalten Krieges den Dritten Weltkrieg gegen Rußland gewonnen haben würde. Wie Recht sollte Bundeskanzler Kohl mit seiner Einschätzung haben, den Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien unter allen Umständen zu verhindern. Wie die Konferenz von Bratislava Ende April 2000 deutlich machte, war das amerikanische Ziel das Ende Rußlands, jedenfalls der Ausschluß aus Europa.
Schlußpunkt dieser Haltung war in substantiellen Fragen der Sicherheit Rußlands die arrogante Verweigerung eines jeden Gespräches durch die NATO im Winter 2021/2022 und die amerikanische Offerte auf Aufgabe der russischen Souveränität zugunsten Amerikas an Moskau.
Jetzt sind wir in der Lage, deutsche Waffen gegen Menschen eingesetzt zu sehen, mit denen deutsche Soldaten vom Zeitpunkt der Wiedervereinigung ab bis zum Abzug der Truppen der Westgruppe im Jahr 1994 wie selbstverständlich und kameradschaftlich zusammengearbeitet hatten. Wenn wir es heute nüchtern sehen, liegen die offenen Fragen alle auf dem Tisch der Geschichte. Das gilt von der „gleichen Sicherheit für alle europäischen Staaten“ bis hin zu einem Wiederaufbau, der nur durch Zusammenarbeit bewerkstelligt werden kann. Dabei ist mir die Geschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts über die beiden Weltkriege und Versailles bis heute sehr bewußt. Das gilt auch für die aufstrebenden Mächte in anderen Regionen dieser Welt, deren Zukunft dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt zu Recht einen Herzensangelegenheit gewesen ist.
Was ist zu tun? Tauroggen ist das deutsche Beispiel dafür, die notwendige Konsequenz in der entsprechenden Situation zu ziehen. Alles andere würde bedeuten, bis zur letzten Konsequenz die Substanz der eigenen und fremder Nationen zu zerstören. Das geht nicht. Deshalb sollte für die derzeit ohnehin zwischen den USA und Rußland geführten Gespräche beiden Seiten deutlich gemacht werden, daß zum Weltfriedenstag, dem 1. September 2024, die Bundesrepublik Deutschland sich durch keine Maßnahme, sei es Waffen oder Finanzmittel, mehr an den derzeitigen militärischen Auseinandersetzungen in Europa in welcher Art und Weise auch immer beteiligt und die sofortige Einberufung einer Sonderkonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, verbunden mit einem sofortigen Waffenstillstand in dem Konflikt zwischen Rußland und der Ukraine fordert.
Wir haben uns am 9. November 1989 und später deshalb in den Armen gelegen, weil wir dem Elend entkommen wollten. Es ist jetzt an uns, eine späte Konsequenz aus dem damaligen Schwur zu ziehen.
Dein rheinischer Freund