Belarus - scharfe Munition ist anwendbar, wenn die Proteste gewaltsam werden

EXKLUSIV. Inneminister Weissrusslands, Yuri Karaev, im Interview mit World Economy.

Video: Russ. Text:Übersetzung

Wie schätzen Sie die Vorbereitung der Protestierenden ein, die sich unmittelbar an den Auseinandersetzungen mit der Polizei beteiligen?
Yuri Karaev:
Das sind die unterschiedlichsten Leute. Einige sportliche junge Menschen, einige, die meinen, sie würden hier das gleiche veranstalten können, wie in ihren Computerspielen. Auch einige Fußballfans, die ausgezeichnete Kämpfer mit guter Vorbereitung für Straßenkämpfe sind. Anarchisten, die gerne an solchen Aktionen teilnehmen, einige Molotowcocktails werfen, Kampfschleudern nutzen, sich grundsätzlich gerne prügeln und bewaffnen. Das Spektrum ist daher sehr breit gefächert. In diejenigen, die sich der möglichen Konsequenzen für sie und ihre Nächsten bewusst sind. Ebenso, wie in diejenigen, die überhaupt keine Vorstellung davon haben, was mit ihnen physisch und strafrechtlich passieren wird und auf welche Weise es ihre Zukunft beeinflußen oder sogar ihr Leben zerstören kann.

Es gab die Information, dass ca. 600 ausländische Berater versucht hätten nach Belarus zu kommen. Haben Sie etwas von der Anwesenheit von ausländischen Instruktoren mitbekommen?
Yuri Karaev:
Bis zu etwa 1000 von denen haben versucht ins Land zu kommen. Zu ihrem Pech und unserem Glück hat der Grenzschutz hervorragende Arbeit geleistet und sie professionell und fehlerlos herausgefiltert. Eine echte Anwesenheit von ausländischen Instruktoren merken wir nicht, aber es gibt einige Einzelfälle. Das sind hauptsächlich Leute die sich selbst über die Chats in Telegram-Kanälen organisieren, diese Chats dienen als Kommunikationsplattformen. Während der Kommunikation dort filtern sie diejenigen heraus, die besonders aggressiv auftreten. Solche Leute werden dann direkt angeschrieben und schließen sich zu einer Art „Gangs of New-York“ zusammen, die dann punktuell Ziele abarbeiten: Einsatzkräfte, Ampeln, Kioske… Das sind glücklicherweise einfache, einheimische Schläger - ich nenne sie die Stampa-Banden - die wir fast immer ausfindig und unschädlich machen können. Das sind unerfahrene Terroristen, die wir mit Hilfe unserer Generaldirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, durch andere Dienste der Kriminalpolizei - hier in erster Linie zusammen mit den Fahndern - unterstützt durch unsere Kollegen vom Staatssicherheitskomitee gleich im Keim ersticken, damit andere gar nicht erst daran denken.
Obwohl ich mir schon wünschen würde, dass die Medien etwas mehr darüber berichten würden. In dieser Sache geht es weder um Ermittlungsgeheimnisse noch um irgendwelchen taktvollen Überlegungen.

In diesem Bereich gab es auch Meldungen, dass die zwei Begnadigungswellen zum 75. Jahrestag des Tags des Sieges auch einiges an Leuten geliefert haben. Wie viele kriminelle Elemente sind denn tatsächlich auf den Straßen unterwegs?
Yuri Karaev:
Die gibt es. Es gibt leider Menschen, die die Gunst und die Barmherzigkeit des Staates nicht richtig verstanden haben. Sie wissen diese humane Geste ihnen gegenüber nicht zu schätzen, Und wenn sie dann bei uns in Gewahrsam landen, meistens im alkoholisierten Zustand, dann brauchen sie uns auch nicht mehr zu erzählen, woran sie gedacht oder nicht gedacht haben. Wenn es zu einer erneuten Inhaftierung kommt, wird das Gericht alles entsprechend berücksichtigen. Auf der anderen Seite geben wir uns große Mühe, bei den verhafteten Personen darauf zu achten, wer dort möglicherweise aus Versehen hineingeraten ist. Wir versuchen da natürlich menschlich zu bleiben, werden aber auch nicht zu nachgiebig sein.

Die Meldung, dass möglicherweise scharfe Munition zum Einsatz kommen könnte, sorgte für eine Menge Wirbel. Was gibt es noch im Arsenal des Innenministeriums und in welchen Fällen könnte scharfe Munition zum Einsatz kommen?
Yuri Karaev:
Scharfe Munition ist anwendbar, um die Handlungen eines Verbrechers zu unterbinden, wenn alle anderen Methoden ausgeschöpft wurden. Und es ist auch nichts falsch an dieser Aussage, die mein erster Stellvertreter getätigt hat. Es ging um die Anwendung von scharfer Munition ausschließlich zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Niemand sprach von wahllosem Einsatz gegenüber allen Menschen oder friedlichen Demonstranten. Wenn jemand einen Sabotageakt oder einen Terroranschlag verübt, einen Polizisten angreift, sich nicht einfach widersetzt, sondern gewaltsam vorgeht, muss natürlich mit allen verfügbaren Mitteln gestoppt werden. Von physischer Gewalt bis hin zur Anwendung scharfer Munition. Ich will da jetzt auch gar nicht mit Vergleichen anfangen. Bei uns fängt man in solchen Fällen gerne an darüber zu sprechen, „dass es ja in Amerika…“ Ja, in den USA kann man schon erschossen werden, wenn man sich bloß bedrohlich in Richtung eines Polizisten bewegt. Seit vielen Jahren ist es schon so, dass - selbst bei einem Minderjährigen - wenn ein Polizist meint eine Waffe gesehen zu haben, er zunächst ohne Vorwarnung schießt und hinterher stellt sich dann heraus, dass es eine Spielzeugpistole war. Oder gar keine Pistole. Aber dem Polizisten erschien es so in der Dunkelheit und er bringt den Menschen um. Übrigens einer der Gründe für die gegenwärtigen Unruhen - die nach Meinung der Bürger überzogene Polizeigewalt. In Zusammenhang mit alldem musste man sich dann anschauen, wie es in anderen Ländern abläuft. In Russland, Frankreich, beispielsweise. Tatsächlich sind die Unterschiede relativ geringfügig. Wenn ein Polizist eine Bedrohung für sein Leben wahrnimmt, dann handelt er immer, ob nun in Russland oder Frankreich, oder selbst in Polen. Wenn meine Abteilungsleiter mir sagen, dass ein Polizist geschlagen wurde, dass er bereits einige Minuten lang herumgeschubst wurde, es versucht wurde ihm seine Waffe abzunehmen, er schon gewürgt wurde und erst dann begann Warnschüsse in die Luft abzugeben… Und im Endeffekt erst schoss, als er selbst schon fast getötet wurde und selbst dann schoss er nur in die Beine. Ich frage, wieso ist das so? Dann antwortet man mir, dass unsere Milizionäre einfach nicht bereit waren ihre Mitbürger zu töten. Ihre Nachbarn. Ihre Landsleute. So sehr hat sich die Humanität in den letzten 26 Jahren bei uns verankert, es gilt das Prinzip des geringsten verursachten Schadens. Und auch die Staatsanwaltschaft, das Untersuchungskomitee usw. agierten als Verteidiger eines solchen Prinzips. Das spielte uns einen bösen Scherz, als sich die Situation gravierend verändert hat. Man könnte sogar sagen, ein Krieg brach aus, es fand eine unverhohlene und dreiste Einwirkung statt, angeheizt durch die Straffreiheit und das Gefühl der eigenen Unantastbarkeit und wir sind immer noch dabei in die Gänge zu kommen. Meine Arbeit besteht darin, allen Bezirkspolizisten zu vermitteln, dass deren Leben, die Zukunft ihrer Kinder und das Glück ihrer Frauen davon abhängen, wie schnell und entschlossen sie feststellen, dass sie bereits angegriffen werden und ihre Waffe ziehen. Sie werden schon fast umgebracht, versuchen aber trotzdem noch zu überzeugen. Es gibt zahlreiche Beispiele. Seien es Verkehrspolizisten oder Einsatzkräfte. Gott sei Dank, hat man Angst davor dem Sondereinsatzkommando so gegenüberzutreten. Aber aus irgendeinem Grund, sind die Bürger der Meinung, dass man mit dem Sondereinsatzkommando solche Vandalen-Spielchen nicht treiben darf, aber dafür mit ihren Bezirkspolizisten. Das gibt es nicht mehr, es wird genau so hart und schnell unterbunden werden, wie bei den Sondereinsatzkommandos. Nun zur Frage nach dem Arsenal der Milizionäre. Da gibt es ja nicht nur scharfe Munition. Glücklicherweise gibt es auch nicht-letale Einwirkungsmöglichkeiten für Fälle, in denen es im zivilisierten Land vonnöten ist einen Rechtsbrecher zu stoppen ohne gleich radikal zu handeln. Zwischen „nicht anfassen“ und „erschießen“ gibt es ein großes Zwischenfeld. Ganz banale Nahkampftechniken, ein Gummiknüppel, speziell für solche Fälle zugelassenes Gas, welches zur Ausstattung und Ausrüstung der Mitarbeiter des Innenministeriums und der Militärs gehört. Daneben gibt es Wasserwerfer, Mittel zur Fixierung, wie Handschellen und Kunststoffhandschellen und all die anderen Mittel, die zwar selten angewendet, aber überaus gut sind, um eine Person zu beruhigen, ihm die Möglichkeit zu geben runter zu kommen, ihm sein Vergeht zu erklären oder sogar eine administrative Strafe zu verhängen, aber dadurch möglicherweise sein Leben zu retten. Die Behörden nutzen dieses gesamte breite Spektrum der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel. Und damit es für niemanden ein Schock ist, sage ich folgendes: Wir haben uns daran gewöhnt, dass man in den westlichen Ländern Menschen mit Wasserwerfern auseinander treibt. Aber bei uns finden alle die Verwendung eines Wasserwerfers schockierend. Es ist aber lediglich gefärbtes Wasser. Um einige erhitzte Gemüter abzukühlen.

Bilder @depositphotos
Die Meinung des Autors/Ansprechpartners kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 und 3 (1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“