Belarus in der Covid-Sackgasse

Von Oles Libobetz
Covid-19, eine angespannte innenpolitische Situation, Spannungen an der Westgrenze und eine allgemein schwierige Wirtschaftslage setzen Belarus aktuell hart zu. Belarus hatte kaum eine andere Wahl, als in der Bekämpfung der Pandemie dem Beispiel Schwedens zu folgen und fuhr damit bisher nicht einmal so schlecht. Andere Länder werden auf diesem Weg folgen müssen, ob sie wollen oder nicht. Das Corona-Virus ist geeignet, unser Verständnis von Sicherheit zu verändern und wird uns möglicherweise wieder zu mehr Zusammenarbeit über ideologische und geopolitische Grenzen hinweg zwingen.
Der belarussische Weg gegen Covid-19
Global gesehen sind sich die belarussische und die schwedische Strategie im Kampf gegen die Pandemie sehr ähnlich und unterscheiden sich im Wesentlichen nur in der Frage des Verbots von Groß- und Sportveranstaltungen. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen der belarussischen Strategie zur Bekämpfung des Corona-Virus zum Gros der westeuropäischen Staaten bestand in der Weigerung, eine nationale Quarantäne einzuführen. Belarus setzte von Anfang an auf eine rasche und punktuelle Reaktion auf entdeckte Infektionsherde. Auf diese Weise suchte Belarus seine Wirtschaft vor unnötig großem Schaden zu bewahren, welche ja letzten Endes die Kosten des Kampfes gegen die Pandemie und die Finanzierung des gesamten Gesundheitssystems trägt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Covid-19-Pandemie andere Krankheiten nicht eliminiert, sondern oftmals noch verschlimmert. Langfristig zielt die belarussische Strategie auf die Bildung einer kollektiven Immunität ab.
Wie in fast allen europäischen Ländern auch, rieten die belarussischen Gesundheitsbehörden den Bürgern zu sozialer Distanz, zum Verzicht auf unnötige Reisen, zum Tragen von Masken an öffentlichen Orten, zur Arbeit im "Home Office" und zu ähnlichen Maßnahmen. In der ersten Welle verlängerten die belarussischen Behörden die Frühlingsferien in den Schulen des Landes und schufen die Möglichkeit des Fernunterrichts bis zum Ende des Schuljahres. Die Methodik des Fernunterrichts wurde auch in höheren Bildungseinrichtungen wie Universitäten getestet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern verbot die belarussische Regierung jedoch weder Massenveranstaltungen noch Sportwettkämpfe, wofür sie von Europa und der WHO heftig kritisiert wurde.
Insgesamt sind die belarussischen Behörden mit ihrer Strategie nicht so schlecht gefahren, denn in der Rangliste der Covid-Fälle pro Million Einwohner liegt Belarus auf Rang 68 von 217 und bei der Anzahl der Todesopfer an 91. Stelle (1). Mit diesem Zahlen bewegt sich Belarus durchaus im Umfeld anderer europäischen Länder wie Deutschland, Dänemark, Estland und Lettland. Dabei hat Belarus vergleichsweise viele Tests vorgenommen und liegt in diesem Rating noch vor Österreich, Deutschland, Schweden, der Schweiz und Frankreich (2). In der Rangliste der europäischen Länder mit den meisten Corona-Neuinfektionen im Zeitraum zwischen dem 26. November und dem 3. Dezember belegte Belarus Rang 43 von 51, und ist um einen Rang besser platziert als das benachbarte Russland – aber viel besser als die Nachbarn Polen und Ukraine (3).
Dabei belegt Belarus im Gesundheitsindex weltweit einen Rang im Mittelfeld (4). Im Jahr 2018 ersuchte das Gesundheitsministerium der Republik Belarus die World Health Organisation WHO um technische Unterstützung bei der Verbesserung der Qualität der Gesundheitsversorgung auf nationaler Ebene. Diese attestiert der Republik Belarus ein relativ hohes Niveau des Gesundheitswesens:
"Belarus has achieved relatively high and equitable health coverage with strong financial protection for the general population. However, the country has not yet addressed quality of care as a domain of universal health coverage in a systematic way." (5)
Postpandemische EU-Wirtschaft
Die Covid-19-Krise setzte auch der belarussischen Wirtschaft hart zu: Zusammen mit der allgemein angespannten politischen Situation rund um die Präsidentschaftswahlen im August lässt die Covid-Krise eine Rezession von -7,8 % erwarten (6). Diese Krise sollte der Weltgemeinschaft eigentlich aufgezeigt haben, wie wichtig regionale Zusammenarbeit, gute Nachbarschaft und gegenseitige Unterstützung bei der Eindämmung von Infektionen sind. Umso enttäuschender ist, dass nun in der zweiten Welle, ein halbes Jahr nach der ersten, noch immer keine einheitliche europäische Antwort auf die Verbreitung des Corona-Virus erfolgte. Erneut macht jeder Staat in Europa das, was die Regierung für das Beste hält, von harten Ausgangssperren – euphemistisch Lockdown genannt – bis zum laisser-faire in Schweden. In wirtschaftlicher Hinsicht wäre die die wichtigste Erkenntnis wohl, dass das Überleben auch der mächtigsten EU-Volkswirtschaften wie jene Deutschlands, Italiens, Frankreichs und anderer über Nacht direkt von den Gesundheitssystemen abhängen kann. Am weitesten verbreitet ist diese Erkenntnis in all jenen Staaten und Regionen, deren Haupteinnahmequelle bis anhin der Tourismus war. Der Streit um die Öffnung der Wintersportgebiete, der sich zunehmend in einen Wirtschaftskrieg auszuweiten droht, ist symptomatisch (7). Infolge radikal strenger und zuweilen impulsiv wirkender Maßnahmen war der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal 2020 der größte, den der europäische Statistikdienst Eurostat jemals feststellte (8). Parallel dazu stieg die Arbeitslosenquote auf neue Rekordwerte. 
Die Covid-19-Pandemie läutet eine neue geostrategische Ära ein, in der Gesundheit, biologische Sicherheit und Umweltschutz vermehrt in den Mittelpunkt der nationalen und internationalen Strategien rücken. Wer die Ansätze im Kampf gegen Covid-19 des vergangenen Frühjahrs mit jenen vergleicht, die beispielsweise Schweden und Belarus verfolgten, konnte die anfängliche Politisierung des Covid-Themas sowohl im geopolitischen als auch im regionalen Kontext beobachten. Beide Länder folgten nicht der Mehrheit der europäischen Staaten, die den volkswirtschaftlich zerstörerischen Weg des totalen Lockdown wählten, um stattdessen auf eine Strategie der Verlangsamung der Ausbreitung von Infektionen durch gezielte Reaktion auf entdeckte Infektionsherde zu setzen.
Trotz der Ähnlichkeiten des belarussischen und des schwedischen Ansatzes wurde Schweden als Pionier für das gelobt, wofür die Republik Belarus so vehement kritisiert wurde. Die angespannte innenpolitische Situation vor den Präsidentschaftswahlen und die angespannte Wirtschaftslage motivierten die belarussische Regierung zu größter Zurückhaltung beim Anordnen neuer Maßnahmen, welche weitere Irritationen in der Gesellschaft hätten verursachen können. Die vehemente Kritik, welcher Belarus im Sommer dieses Jahres ausgesetzt war, erwies sich im Nachhinein als eher geopolitisch motiviert. Inzwischen schlagen mehr und mehr europäische Staaten den Weg ein, den Belarus und Schweden schon seit dem Frühjahr praktizierten. Und die Empfehlungen der WHO, die während der ersten Welle scharfe Quarantänemaßnahmen forderte, sind jetzt sicher vergessen.
Nach der Sommerpause erlebte Europa eine rasche Wiederbelebung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen: Im dritten Quartal dieses Jahres stieg das BIP in der Eurozone um 12,7% und in der EU insgesamt um 12,1%. Mit dem Eintreffen der zweiten Welle des Corona-Virus im Herbst und der daraus resultierenden Einführung neuer einschränkender Maßnahmen, verlangsamte sich die Erholung der Wirtschaft in der EU erneut. Die Arbeitslosigkeit ist im Steigen begriffen und die regionalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen stagnieren wieder. Es ist bemerkenswert, dass die Erholung der Wirtschaftsindikatoren im Sommer die bedeutendste seit 1995 war. Die Wirtschaft vertrug den Einbruch nach dem Lockdown im Frühling offenbar gut, aber wenn sie im Halbjahrestakt "heruntergefahren" werden muss, ist irgendwann wohl das Ende der Kraft abzusehen.
Sollten sich die in der Entwicklung befindlichen Impfstoffe als wirksam erweisen und zu einer Abnahme der Infektionsrate führen, dürfen wir daher auf einen beispiellosen Anstieg des Handelsvolumens und eine Stärkung regionaler Lieferketten hoffen. Die Möglichkeit einer dritten und nachfolgenden Welle in Verbindung mit der wachsenden Protestaktivität geben jedoch Grund zu pessimistischeren Schlussfolgerungen. Die Berichte und Prognosen der Weltbank zeigen, dass das Risiko negativer und schlecht vorhersehbarer Entwicklungen eindeutig überwiegt. In Ermangelung eines wirksamen Impfstoffs und einer verfügbaren Therapie wird eine weitere Ausbreitung der Infektion in den Ländern und die damit verbundene Wiederaufnahme restriktiver Maßnahmen sowohl den Konsum, als auch die Investitionen belasten (9). Derartige Maßnahmen haben bereits zu massiven Auswirkungen auf die Wirtschaft geführt und die europäischen Länder in eine Rezession gestürzt, welche sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben.
Angesichts des nach wie vor vorhandenen Wohlstands sollte Europa jetzt eine Art Mobilisation im Kampf gegen die globale Pandemie ausrufen. Ein Teil davon könnte darin bestehen, dass europäische Institutionen Finanzmittel zur Unterstützung der Gesundheitssysteme in den angrenzenden Ländern bereitzustellen. Eine zunehmend zu beobachtende Pandemie-Müdigkeit kann dazu führen, dass die Behörden die wachsenden Bedrohungen innerhalb der EU selbst unterschätzen und die Kontrolle über das Verhalten der Bevölkerung verlieren. Die ersten Anzeichen dieses Trends sind bereits erkennbar: Die Bevölkerung in einer Reihe europäischer Länder wie der Tschechischen Republik, Serbiens, Deutschlands und anderer ist zunehmend bereit, sich an Protestaktionen gegen die erneute Einführung restriktiver Maßnahmen zu beteiligen. Die gleichzeitig und unabhängig davon erfolgte Intensivierung des islamistischen Terrors führt nun zunehmend zu Radikalisierung und innerpolitischen Kämpfen. Die Terroranschläge in Österreich und Frankreich sind ein Hinweis darauf. Ob eine, durch die restriktiven Schutzmaßnahmen verarmte Bevölkerung – besonders hart treffen wird es den Mittelstand – weiterhin so großzügig mit Migranten umgehen wird wie bislang, darf bezweifelt werden.
Es scheint, dass die Regierungen mehrerer europäischer Länder während der Pandemie keine gute Lösung zur Rettung der Volkswirtschaften hatten, und gezwungen waren, zwischen schlechten und sehr schlechten Optionen zu wählen. Die urtümlich anmutende Quarantäne führte auf der einen Seite zu einer Verringerung der Infektionsgefahr und zur Rettung von Menschenleben, löste aber gleichzeitig die stärkste Wirtschaftskrise seit 2008 aus. Die Schließung der Grenzen und die daraus resultierende Abnahme des interregionalen Handels, die erzwungene Schließung von Unternehmen und die kolossalen Verluste in allen Sektoren der Wirtschaft führen zu zusätzlichen Belastungen für die Staatshaushalte. Diese wirtschaftlichen Phänomene werden begleitet von einem erhöhten Anteil an Selbstmorden von Menschen, die finanziell nicht mehr über die Runden kommen. Die Finanzierung des Gesundheitswesens steht auf dem Spiel und die Bevölkerung ist wohl kaum mehr zu immer neuen Lockdowns zu motivieren. Die aktuell unsichere internationale Lage und die damit einhergehende Wirtschaftskrise verursachen vor diesem Hintergrund einen Druck auf die nationalen Ressourcen wie nie zuvor. Es stellt sich die Frage, ob die bislang unilateral handelnden Staaten Europas in der Lage sind, alleine auf sich gestellt die Lage zu meistern.
Es ist klar, dass EU-Subventionen, die ihren Mitgliedsstaaten aus dem wirtschaftlichen Tief heraushelfen sollen, nicht über Nacht das erwartete Ergebnis liefern können (10). Gleichzeitig würde eine pragmatischere Herangehensweise als die aktuelle, in Verbindung mit einer koordinierten und durchdachten Politik im Bereich der öffentlichen Gesundheit den Volkswirtschaften der europäischen Länder eine Chance auf eine rasche Erholung mit minimalen Folgen geben.
Die Schätzungen der Experten des Deutsches Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien des vergangenen Frühjahrs ließen wenig Hoffnung auf einen vollständigen und definitiven Sieg über das Corona-Virus aufkommen. Im Gegenteil: Wenn das Virus seine hohe Überlebensfähigkeit bewahrt, dann ist ein Szenario, in welchem bis zu 70% der Bevölkerung an Covid-19 erkranken, durchaus realistisch. Daher brauchen wir alle eine gemeinsame langfristige Strategie, die nicht einfach in der Bewahrung des aktuellen Status quo über einen langen Zeitraum bestehen kann. Weder die Wirtschaft, noch das Gesundheitssystem der europäischen Länder können den Folgen der Krise einzeln standhalten, und die Bevölkerung wird die restriktiven Maßnahmen wohl nicht unbegrenzt lange tolerieren.
Belarus ist ein Land, das sich einen harten Lockdown im Frühjahr weder leisten konnte noch wollte und mit einer ähnlichen Strategie wie Schweden vergleichbare Resultat erzielte. Wenn sich die europäische Wirtschaft von wiederholten, im Halbjahresrhythmus verhängten Lockdowns nicht mehr erholen sollte, dann haben wohl auch die stärksten Volkswirtschaften Europas bald keine Wahl mehr. Schweden und Belarus sind in diesem Szenario keine Pioniere, sondern einfach diejenigen Staaten, die sich den Luxus des Lockdowns als erste nicht mehr leisten konnten bzw. wollten. Langfristig wird sich möglicherweise nicht vermeiden lassen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt kommt. Hätte man das halbjährige Intervall zwischen den beiden Wellen genutzt, um genügend Kapazitäten für die Behandlung jener Menschen bereitzustellen, die an Covid-19 erkranken, müssten wir jetzt nicht vor einer dritten und vierten Welle fürchten. Die politischen Schwerpunkte werden sich allenfalls verschieben. Gesundheit und biologische Sicherheit werden wichtiger werden und eventuell zu Streitigkeiten zwischen Staaten führen.
Anmerkungen:

 

  1. Siehe https://www.worldometers.info/coronavirus/? und https://www.worldometers.info/coronavirus/country/belarus/

  2. Ebd. 

  3. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1180169/umfrage/laender-mit-den-meisten-coronainfektionen-in-der-letzten-woche-in-europa/

  4. https://www.bildderfrau.de/gesundheit/article216532089/Gesundheits-Ranking-Deutschland-Platz-23.html; https://belarusfeed.com/belarus-worlds-healthiest-nations/

  5. https://www.euro.who.int/en/countries/belarus/news/news/2019/03/supporting-the-development-of-a-national-strategy-for-improving-quality-of-care-in-belarus

  6. Siehe https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-belarussische-wirtschaft.html

  7. Um nur eine Quelle zu erwähnen: https://www.dw.com/de/alpenanrainer-im-streit-um-die-skisaison/a-55740955

  8. https://ec.europa.eu/eurostat

  9. https://www.vsemirnyjbank.org/ru/news/press-release/2020/06/08/covid-19-to-plunge-global-economy-into-worst-recession-since-world-war-ii

  10. https://www.ey.com/en_gl/covid-19.

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