Bachmut (Artjomowsk) – einige Bemerkungen zum Stalingrad des Ukrainekrieges

Von Helmut Roewer

Seit mehr als zwei Monaten ist die Salz- und Gipsstadt Bachmut  (Бахмут; russisch: Artjomowsk – Агтемовск) das Zentrum eines gnadenlosen Abnützungskrieges zwischen den russischen Angreifern und den ukrainischen Verteidigern. Die nachfolgenden Gedanken sollen nicht den Eindruck erwecken, als wüsste ich, wie diese erschreckende Blutmühle zu beenden wäre. Meine Überlegungen können nur eine Annäherung sein, der gerne widersprochen werden darf.

     Die Schlacht um Bachmut gehört in den Gesamtzusammenhang des Ukrainekriegs, der spätestens zu Beginn des Jahrs 2014 mit dem militärisch-blutigen Vorgehen ukrainischer Truppen gegen die in der Ostukraine (dem Donbass) lebenden ethnischen Russen begann. Er wurde erst dann allgemein zur Kenntnis genommen, als russische Truppen die Grenze zur Ukraine am 24. Februar 2022 überschritten.

     Über die Auslösung und Berechtigung dieses Krieges gibt es viel Streit: Während sich die Nato- und die meisten EU-Staaten darauf festgelegt haben, dass es sich hier um einen völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg handele, wird die Auseinandersetzung anderenorts höchst unterschiedlich bewertet. Zahlreiche Staaten außerhalb von Nato und EU vermeiden dezidierte Stellungnahmen bzw. erklären die Sache für eine innerrussische Angelegenheit.

     Ich erwähne diesen Streitstand, nicht um die Leser zu ärgern, sondern weil die deutschen Mainstream-Medien die unzutreffende Mär verbreiten, es bestehe ein weltweiter Konsens wg. dem Putin sein Angriffskrieg. Ich wiederhole mich: das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, wirtschaftlich potente Staaten wie China, Indien, Brasilien und vor allem Saudi Arabien haben den Ukraine-Konflikt seit einem Jahr genutzt, um mit Russland bilaterale Abkommen zu schließen und – wichtiger noch – Schritt für Schritt aus dem grenzüberschreitenden Handel auf Dollar-Basis auszusteigen. Das ist für die USA ein schwerer Schlag.

     Zurück zu Bachmut: Im Kriegsgeschehen, das sich um diese Stadt rankt, geht es primär um Symbolik. Die einen wollen beweisen, dass sie diesen Krieg durch Festhalten an den besetzten Positionen gewinnen können, die andern gehen mit zäher Verbissenheit vor, bis sie den für russisch erklärten Teil der Ukraine (die Oblaste Cherson, Saporoshje, Lugansk und Donjezk) militärisch besetzt und fest unter Kontrolle haben. Bei diesem Vorgehen nehmen beide Seiten verheerende Schäden an der Infrastruktur des umkämpften Landes in Kauf, von den Personenverlusten ganz zu schweigen.

Geisterstadt Bachmut im März 2023 aus der Sicht einer ?russischen Drohne. Es ist kaum vorstellbar, dass sich in diesem Ruinenfeld, das Meter um Meter von russischen Truppen gegen erbitterten ukrainischen Widerstand eingenommen wird, noch Bewohner aufhalten. Es wird Jahre dauern, um diese Wüstenei wieder in eine florierende Industriestadt zu verwandeln.

     Dank der deutschen Wahrheits- und Qualitäts-Medien wissen wir, dass die Russen auf dem letzten Loch pfeifen, während unsere ukrainischen Freunde einem strahlenden Endsieg entgegenschreiten. Aber ach, die amerikanischen Dienste sehen das ganz anders. Danach beträgt das Verhältnis der Gefallenen 78.000 zu 17.500, also ca. 4,5 zu 1. Eine ca. dreifache Zahl an Verwundeten sind jeweils hinzuzurechnen. Damit kein Missverständnis aufkommt: Die deutlich größere Zahl gehört zur ukrainischen Seite. Mit dieser Armee sei kein Staat mehr zu machen. Wir haben diese schlechten Nachrichten, so heißt es, nur deswegen erhalten, weil ein 21jähriger Angestellter der US Air Force namens Teixeira die zugehörigen, diesen Missstand belegenden US-Geheimdokumente vor einigen Tagen ins Internet gestellt habe.

     Nun gut, das ist gelogen, denn eine Analyse des angeblichen Verratsmaterials ergibt, dass die Dokumente von verschiedenen Herstellern aus der amerikanischen Dienst-Community stammen, so dass wegen der Abschottung der Dienste gegeneinander nur jemand auf das Konvolut Zugriff nehmen konnte, der in der Behörde des Direktors für die Geheimdienste (Director of National Intelligence – DNI) sitzt oder der Sicherheitsberater des Präsidenten ist. Ist dies so, darf man sich nicht wundern, wenn aus den Kreisen der betroffenen Dienste die Vermutung eines controlled leak geäußert wird, also einer verdeckten, als Leck getarnten Aktion. Es fällt es nicht schwer, einen Grund hierfür auszumachen. Es soll die amerikanische Öffentlichkeit auf den allmählichen Rückzug aus der Fehlinvestition Ukraine vorbereitet werden.

     Ob das wirklich so ist, steht in den Sternen, denn das fragliche Konvolut enthält auch Angaben über US-Militär, das in der Ukraine eingesetzt ist. Die Zahlen dort stimmen mit dem, was das Pentagon bislang verlautbart hatte, nicht überein – es sind viel mehr Amerikaner dort, als bislang zugegeben wurde. Ebenso unfreundlich sind die Aussagen über die Verbündeten. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass hier jemand am Werke war, der auf Biegen und Brechen die Ukraine-Kampagne ans Ende bringen will.

     Es ist müßig darüber zu spekulieren, wer das wohl sein könnte. Immerhin fiel auf, dass bereits zu Jahresbeginn der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs der USA, General Mark Milley, sich dahingehend äußerte, dass der Ukraine-Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden müsse. Das klang nicht nach einem nahe bevorstehenden glorreichen Sieg und stimmte auffällig mit dem überein, was der bekannte US-Think Tank, die Rand Corporation, zur selben Zeit hierzu zu sagen wusste. Ich hatte mir hierzu unter dem 29. Januar 2023 notiert:

Es wird der US-Regierung geraten, nicht auf Teufel komm raus in der Ukraine auf Sieg zu spielen, da die Kosten des Russland-Krieges die chinesische Herausforderer begünstigen könnten. Zu deutsch: Es ist nicht genügend Geld da, um gleichzeitig aggressiv gegen China vorgehen zu können. Bei genauerer Lektüre wird klar, dass man in den USA über Eck gedacht hatte, nämlich dass der Ukraine-Krieg Russland so schädigen werden, dass China seine Überlegenheit gegen Russland ausbauen und ausnützen werde. So müsste Russland letztlich zusammenbrechen. Das ist offensichtliches Wunschdenken.

     Der wahre Grund für die plötzliche Eile, den Kriegsschauplatz der Ukraine quitt zu kriegen, dürfte zudem die Erkenntnis sein, dass sich eine weltweite anti-amerikanische Allianz gebildet hat, deren unübersehbaren Höhepunkt der Freundschaftsbesuch des chinesischen Führers Xi in Moskau vom 21. bis 23 März 2023 war. Deutlicher als Xi konnte man es kaum sagen: Die Chance, die Welt zu verändern, sei jetzt, wie schon seit 100 Jahren nicht mehr, da. Putin hat dem nicht widersprochen. Hat man Ohren zu hören, so bedeutete das: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts (1917-2022) sei da. Und, wichtiger noch: Wir werden es herbeiführen!

     Da die Zeit in unsern Breiten bekanntlich schnelllebig ist, vergisst man leicht, dass es für diese chinesische verbale Aggression ein Vorspiel gab: Ende Februar 2023 hatten die Chinesen den Konfliktparteien, also den Russen und den Amerikanern, den Vorschlag einer Friedensregelung übermittelt. Der wurde vom Weißen Haus sogleich in rüden Worten am 1. März 2023 öffentlich zurückgewiesen: Man habe nicht vor, die Russen für das Töten von Ukrainer zu honorieren. Ich notierte mir am folgenden Tag, dass die Chinesen diese Beleidigung nicht auf sich beruhen lassen würden. Es stimmte, wie man sieht.

     Noch einmal zurück auf das Schlachtfeld von Bachmut: Wir sind Zeuge, wie die russischen Truppen die ukrainischen Armeereste Straßenzug um Straßenzug aus den Ruinen verdrängen. Seit 8 Wochen und immer noch ist genau eine Verbindungsstraße nach Westen hin offen, über die der ukrainische Nachschub bei Nacht und unter russischem Artillerie-Beschuss in die Stadt hineintröpfelt – um der Vernichtung entgegenzugehen. Die lange angekündigte Gegenoffensive ist ferner denn je. Und die bevorstehende Rückeroberung der Halbinsel Krim ist nichts anderes als Phantasterei.

Häuserkampf: Die russischen Lagekarten vom 4. März und 18. April 2023 zeigen die Einschnürung der ukrainische Verteidiger beim Kampf um Bachmut. Der Verzicht auf die Einkesselung der Stadt kann nur bedeuten, dass die russische Seite die Verteidiger absichtlich Straßenzug um Straßenzug  in einen Abnützungskrieg hineinzwingt, auf den sich die Ukraine aus Prestigegründen und unter Inkaufnahme erschreckender Verluste eingelassen hat.

     Es wird höchste Zeit, die sinnlose Schlächterei zu beenden und den Status quo anzuerkennen. Es lohnt, an dieser Stelle an den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán zu erinnern, der am 2. Februar 2023 für den Konflikt deutliche Worte fand. Nur ein sofortiger Waffenstillstand könne irgendwann Frieden bringen. Angesichts der angerichteten Verheerungen werde es Jahre dauern.

     Der eigentliche Verlierer des Konflikts, so Orbán, sei Deutschland, dessen Wirtschaftskraft von außen und innen mutwillig ruiniert werde. An die Stelle des einstigen engsten US-amerikanischen Verbündeten sei Polen getreten. Tja. Was das für das deutsch-polnische Verhältnis bedeutet, sagte er nicht. Dazu ist Orbán zu klug. Eine verantwortungsvoll handelnde deutsche Regierung würde sich diesen Mann warmhalten. Aber wo wäre die?

©Helmut Roewer, April 2023

Bilder: depositphotos
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