Dekadenz der deutschen Politik. Warum die deutsche Geschichte immer noch eine Verschlusssache ist Versailles, Deutschland, Russland, Weltkrieg,  World Economy, Willy Wimmer, Alexander Sosnowski

Warum die deutsche Geschichte immer noch eine Verschlusssache ist

Dekadenz der deutschen Politik

Willy Wimmer, Staatssekretär a.D., im Gespräch mit Alexander Sosnowski

WE: Warum ist die deutsche Geschichte eigentlich immer noch eine Verschlusssache? Warum will die heutige Politik so wenig wie möglich darüber sprechen?

Willy Wimmer:

Man muss den Eindruck haben, dass der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ihrer nationalen Verantwortung nicht gerecht werden wollen. Das hat sich in diesem Jahr in einer Deutlichkeit heraus gestellt, wie nie zuvor. Die deutsche Staatsspitze hat darauf verzichtet, in einer Gedenkveranstaltung an Versailles vor einhundert Jahren zu erinnern. In Versailles nahm das europäische Verhängnis zielgerichtet Fahrt auf für den nächsten Krieg. Die deutsche Staatsspitze hat eine solche Gedenkveranstaltung auch nicht von denen international eingefordert, die von einer Gedenkveranstaltung zur anderen reisen, um ihre Siege zu feiern. Als wir beide unser Buch „Und immer wieder Versailles“ geschrieben haben, haben wir nicht im Traum daran denken können, dass beim Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin eine derart unhistorische Einstellung vorherrschen würde. Wir sind von der Wirklichkeit eingeholt worden - da kann man nicht von einer staatspolitischen Verantwortung seitens des Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin sprechen. Wir müssen in Zusammenhang mit den Abläufen des vergangenen Jahrhunderts davon ausgehen, dass es eine gezielte westalliierte Politik gewesen ist, Deutschland als Staat zu vernichten oder wenigstens in der Substanz so auszuhöhlen, dass ein eigenständiges Deutschland nicht mehr existieren konnte. Wir können das an vier miteinander zusammenhängenden Phänomenen festmachen. Der gegen Deutschland gerichtete Beginn des Ersten Weltkrieges und die Veranstaltung von Versailles, die ja nun wirklich nicht im Entferntesten von sich behaupten kann eine Friedenskonferenz gewesen zu sein, weil erstmals in der europäischen Geschichte eine Partei nicht gleichberechtigt teilnehmen konnte. Dann ist die Zeit zwischen den Kriegen damit verbracht worden, mit deutschen und ausländischen Mitteln eine Vergiftung des deutschen Volkes durch die politische Ausrichtung eines Adolf Hitler herzustellen. Und die amerikanischen und deutschen Konzerne - neben der amerikanischen Regierung - die diesen Mann finanziert haben, wussten, dass sein Weg in den Krieg führen würde. Er musste es, dem entsprechend, was seine Financiers von ihm verlangt haben. Und im Zweiten Weltkrieg gab es noch zwei Überlegungen auf die jetzt ein amerikanischer Wissenschaftler - Herr Professor Hickson - aufmerksam gemacht hat, die nun offensichtlich aufgrund der Interessen des Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin unter den Tisch fallen sollen. Die westalliierte Entscheidung den strategischen Bombenkrieg zur Vernichtung deutscher Städte und deutscher Menschen aufzunehmen und, vor allen Dingen, die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Januar 1943, haben nachweislich den Zweiten Weltkrieg mit Millionen weiterer Toten mit in die Länge gezogen. Sieht man diese vier Komponenten alle zusammen, dann muss man sich wundern, dass es heute überhaupt noch so etwas wie Deutschland gibt.

WE: Wieso haben diese Menschen, die so weit oben auf der politischen Rangleiter stehen, eigentlich so eine große Angst vor der eigenen Geschichte? Will man denn gar nicht wissen, wie es wirklich gewesen ist oder will man sich die Geschichte zurechtlegen bis es passt?

Willy Wimmer:

Die Rede des Bundespräsidenten in Warschau mit seinem schon fast grenzenlosen Lob für die westalliierten Kriegsanstrengungen hat deutlich gemacht, dass die heutige Geschichtsdarstellung durch die deutsche Staatsspitze offensichtlich dem Zweck dient, die westalliierten Bemühungen hochleben zu lassen, um sich deutlich von denen abzusetzen, die im Zweiten Weltkrieg den höchsten Blutzoll haben entrichten müssen  - nämlich von der Russischen Föderation und den Russen als Nation. Sieht man die jetzt gehaltenen Reden vor diesem Hintergrund, wenn man sich die mal durchliest, kann einem vor so viel politischer Nutzanwendung eigentlich nur schlecht werden. Das ist der Entwicklung der eigenen Nation und vor allen Dingen der Verwicklung der Westalliierten in den Beginn des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, nicht gerecht geworden. 

WE: Es gab in der Jüdischen Allgemeinen einen interessanten Artikel von Gabriele Lesser, in dem sie darauf aufmerksam macht, dass Frank-Walter Steinmeier es geschafft hat in Polen eine Rede gegen das Vergessen zu halten und dabei die Opfer des Holocaust komplett zu erwähnen vergaß. Und andere Völker nebenbei auch. Hat Deutschland sich also nicht nur selbst verloren?

Willy Wimmer:

Ich kenne diese Artikel, habe sie auch gelesen und habe ein hohes persönliches Maß an Verständnis für das was da geschrieben wurde. Wenn ich anfange die Opfer dieser kriegerischen Auseinandersetzung auch noch in willkommene oder unwillkommene Opfer zu unterteilen, dann werde ich meiner christlichen, europäischen Verantwortung nicht gerecht. Man muss dem Bundespräsidenten leider bescheinigen, dass er auch im Ansatz der wirklichen Situation in Europa - in Zusammenhang mit dem Ausbruch, dem Verlauf und der Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - nicht gerecht geworden ist. Wir sollten in Europa eigentlich nicht nur über den Gräbern trauern, sondern auch eine Verantwortung für die heutige Situation und die Zukunft empfinden. Da ist die Rede, die der Bundespräsident in Warschau gehalten hat und das, was vorher in Wieluń gesagt worden ist, in keiner Weise der Verantwortung gerecht geworden. 

WE: Wäre es nicht langsam an der Zeit die Schulbücher in Deutschland zu ändern?

Willy Wimmer:

Ich war letztes Wochenende in der tiefsten sächsischen Provinz zu einer wunderbaren Veranstaltung beim bekannten Ost-West-Forum in Gödelitz eingeladen. Was Sie gerade sagen, ist mir von den Besuchern dort mehrmals und intensiv nahe gelegt worden. Dass die Dinge, die mit unserer jüngeren Geschichte zu tun haben - auch seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands - in den Geschichtsbüchern genauso stiefmütterlich behandelt werden, wie alle Dinge, die das ganze letzte Jahrhundert umfassen. Deutschland ist entweder darauf ausgelegt selbstbewusster zu werden oder wird im Konzert der europäischen Mächte gesichtslos dahinvegetieren.

WE: Die Zukunft wird von den jungen Menschen, von der nächsten Generation geprägt sein. Haben Sie das Gefühl, die Jüngeren interessieren sich für die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre?

Willy Wimmer:

Auf Veranstaltungen, die ich in vielen Teilen der Bundesrepublik oder auch Österreichs oder Schweiz durchführe, sind überraschend viele junge Gäste Teilnehmer dieser Veranstaltungen. Und es ist offenkundig, dass die junge Generation in weiten Teilen ein Interesse daran hat, zu erfahren wie die Entwicklung ihres eigenen Staates vonstatten gegangen ist und wie in Zusammenhang mit der europäischen Entwicklung eine gute Nachbarschaft zu allen unseren Nachbarn praktiziert werden kann. Das gibt eine Menge Hoffnung und das kann man nicht einfach so stehen lassen - das muss man fördern.

Tags: Versailles, Deutschland, Russland, Weltkrieg,  World Economy, Willy Wimmer

Quelle: https://zeitgeist-online.de/2013-11-30-00-57-32/1075-alexander-sosnowski-willy-wimmer-und-immer-wieder-versailles.html

Alexander Sosnowski/Willy Wimmer, Und immer wieder Versailles – Ein Jahrhundert im Brennglas, Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019, geb., 216 S., 29 Abb., 21.90 €.

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