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(Un)vereintes Deutschland

Willy Wimmer, Staatssekretär a.D., am Telefon im Gespräch mit Prof. Dr. Alexander Sosnowski, Chefredakteur World Economy

WE: Deutschland liegt historisch und geographisch in der Mitte Europas, vereint durch die Europäische Union. Im Westen möchte jetzt die Grande Nation - Frankreich - die Vorfahrtsregeln aufstellen. Im Osten schwärmt Polen für das Intermarium. Wird Deutschland von virtuellen Mauern umringt?

Willy Wimmer:

Ich glaube, dass wir in den letzten 15-17 Jahren - mit dem Wechsel von Bonn nach Berlin - einen Verlust an innerer Souveränität erlebt haben. Die alte Bundesrepublik Deutschland war auf allen Politikfeldern wesentlich souveräner, als man es von der Regierung in Berlin sagen kann. Und es geht nicht nur um den Verlust der Souveränität, man muss bei der Berliner Entwicklung auch sehen, dass von außen kommende Kräfte einen Einfluß auf die deutsche Politik haben, den der eigene deutsche Bürger nicht hat. Das bedeutet, dass wir zum Spielball anderer geworden sind, in einer Art und Weise, wie man das für die alte Bundesrepublik Deutschland - mit Regierungssitz in Bonn - nicht sagen konnte. Und ich sage das überhaupt nicht aus Gründen der Nostalgie. Mir wäre es für Berlin lieber gewesen, wir hätten die Bonner Mechanismen und die Bonner Bedeutung in der internationalen Politik mitgenommen. Wir sehen an allen Kriegen an denen wir uns beteiligt haben, dass wir nur noch das willfährige Instrument anderer in der NATO sind. Das hat natürlich Auswirkungen. Dass mit der deutschen Politik Konzepte für die europäische Entwicklung verbunden sind, kann ja niemand sagen. Wir haben es auch bis heute nicht geschafft mit dem polnischen Größenwahn des Intermariums fertig zu werden und die Rolle Großbritanniens nach dem Brexit wird für uns auch ernste Konsequenzen haben, auf die wir keine Antwort haben. Man muss fairerweise sagen, durch die Art und Weise, wie Frau Merkel die deutsche Politik in Europa gestaltet hat, auch in ihrer Abneigung den Nachbarn gegenüber und der Verweigerung des frühen Gesprächs, haben wir mit manchen Konsequenzen zu tun, die wir heute beklagen. 

WE: Ist Deutschland endgültig vereint? Welche Gräben sind vielleicht neu?

Willy Wimmer:

Wir können nicht bestreiten, dass die politischen Umwälzungen, die es in Europa und auf der Welt insgesamt gibt, auch enorme Auswirkungen auf unser eigenes Land haben. Wir sind aus einer alten Bundesrepublik gekommen, wo zwar durchaus kämpferisch miteinander umgegangen wurde, aber wo man doch eine sehr etablierte staatliche Ordnung hatte und wo auch die großen Parteien dem Charakter nach Volksparteien gewesen sind. Mit dem Umzug nach Berlin haben wir gesehen, dass sich das alles geändert hat. Die Parteien haben nicht mehr die Bindekraft. Sie sollten diese Bindekraft - auch nach den Veränderungen, die es auf dem gesamten Globus gegeben hat - nicht mehr haben und wir sehen, dass sich daraus in Deutschland etwas neues heraus kristallisiert, von dem ich nur hoffen kann, dass es an der politischen Grundstruktur der Republik und ihren demokratischen Gepflogenheiten nichts ändern wird. Wir sind ja nicht allein auf dieser Welt. Und wir sehen, dass sich rings um uns herum, in den Nachbarländern, politische Entwicklungen ergeben, die bei uns größte Besorgnis hervor rufen - man braucht ja nur an Holland, Großbritannien und Frankreich zu denken. Wir leben nicht auf einer Insel der Seligen, aber wir wollen dazu beitragen, dass Deutschland weiterhin der Stabilität in Europa verpflichtet ist. 

WE: Nähern wir uns dem wahrscheinlich größten Graben, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist - dem Graben zwischen Deutschland und Russland. Vor noch etwa zehn Jahren war er fast verschwunden, aber jetzt scheint er breiter denn je zu sein. Vertieft, unter anderem, durch die deutschen Panzer und Soldaten an der Ostgrenze der NATO. Besteht die Gefahr, dass Deutschland selbst in diesen Graben herunter rutscht?

Willy Wimmer:

Das wird zwangsläufig der Fall sein, weil wir uns an Bildern beteiligen, die für uns nur große Nachteile bringen. Wenn sie hier die deutschen Bürger auf der Straße fragen, wollen sie in Ruhe und in Frieden und in guter Nachbarschaft - vor allem mit der Russischen Föderation - leben. Was die eigene Bundesregierung im Baltikum, in Polen, Rumänien und Bulgarien treibt, ist das genaue Gegenteil. Wir haben in der Zeit des Kalten Krieges die großen Manöver in Deutschland gehabt - das ist weggefallen . Aber dafür haben wir diese Manöver - ohne, dass wir darüber wissen und ohne, dass wir sie sehen - an der Ostgrenze einer gegenüber der Russischen Föderation aggressiv auftretenden NATO. Und eins muss man sich vorstellen: was sollen denn die Leute in Sankt Petersburg - dem früheren Leningrad - denken, wenn sie deutsche und amerikanische Panzer am Stadtrand stehen haben? Hier wird von der NATO bewusst mit den Bildern der Vergangenheit operiert und das ist das Elend, für das heute die Berliner und die Brüsseler Politik stehen. 

WE: Ist Deutschland nun vereint oder doch noch nicht?

Willy Wimmer:

Wir sind eine Nation, die in der Mitte Europas liegt und wir sind, glaube ich, von mehr Nachbarn umgeben, als andere Nachbarstaaten. Das hat natürlich zur Folge, dass wir vielfach auf Den Haag, oder Paris, oder Wien, oder Zürich, oder Rom sehen, weil wir es da attraktiver finden. Ich halte das auch gar nicht für schlecht. Wir sind - jedenfalls nach 1990 - von Freunden umgeben gewesen und haben im Zusammenhang mit unseren östlichen Nachbarn nicht das daraus gemacht, was wir hätten machen können. Insoweit ist das Land sowieso nicht monolithisch und wir haben auch kein anderes europäisches Land, das sich monolithisch gestaltet. Aber gegenüber unserem russischen Nachbarn betreiben wir eine Politik, die aus unserer Sicht in den Konflikt führt. Und zwar nicht aus Gründen, die Moskau zu vertreten hat. Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung die deutschen Panzer aus den "Vorgärten" von St. Petersburg nach Deutschland zurückholt. Wir wollen weder Konfrontation noch Krieg mit Russland, das seit der deutschen Wiedervereinigung den Miteuropäern sichtbar die Hände zur Zusammenarbeit entgegenstreckt. Wir müssen aufhören, eine Politik zu betreiben, die Bedrohungen vorgaukelt, die von uns selbst geschaffen worden sind.

WE: Herr Wimmer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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