Die heimliche Rückkehr der Diplomatie / Scholz als Friedenskanzler?

Von Hans-Georg Münster

In den offiziellen Verlautbarungen der deutschen Regierung und besonders ihrer Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) heißt es mit der Regelmäßigkeit einer tibetanischen Gebetsmühle, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen und Deutschland werde Kiew dabei unterstützen. Hinter den Kulissen der Berliner Regierung macht sich jedoch Nervosität breit: Die Parteien der Ampel-Koalition stehen bei den kommenden Landtagswahlen und der Europawahl vor schweren Niederlagen. Aber bereits eine kleine Kursänderung in der deutschen Außenpolitik könnte Olaf Scholz zum „Friedenskanzler“ machen und seiner Partei SPD schwere Wahlniederlagen ersparen.

Die Stimmung dreht sich in Deutschland jedenfalls. Das ließ sich in den vergangenen Tagen am besten zum 80. Geburtstag des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder zeigen. Schröder steht wie kein zweiter für gute Beziehungen zu und einen Ausgleich mit Russland. Entsprechend wurde er von der amtierenden politischen Klasse verbannt; man schloss sein Büro im Bundestag und wollte ihn sogar aus der SPD ausschließen, was aber misslang. Die Medien ignorierten Schröder weitgehend, machten ihn zur Persona non grata. Das hat sich auf einmal geändert. Von Schröder erscheinen wieder Interviews, in denen er Kanzler Scholz unterstützt, keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern. Das alles wirkt auf die öffentliche Meinung ein. Scholz dürfte Schröder dankbar für dessen Unterstützung sein.

Aber das ist noch nicht alles. Dass eine Kursänderung anstehen könnte, signalisierte zuerst Rolf Mützenich, der Fraktionsvorsitzende der größten Regierungspartei SPD, als er im Bundestag sagte: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ Die Grünen tobten, und auch die CDU/CSU reagierte empört. Beide Parteien sind stark Amerika-orientiert und haben sich in der Vergangenheit stets kritiklos an die Seite der Biden-Administration gestellt. Hatte schon Baerbock während der Rede von Mützenich von der Regierungsbank demonstrativ den Kopf geschüttelt, so legte der Grünen-Außenpolitiker Anton Hofreiter später nach: Er nannte Mützenichs Vorschlag eine Ermutigung Putins, „den Krieg noch weiter zu eskalieren“.

Das Verhalten der grünen Spitzenpolitiker kommentierte ein Gründungsmitglied der grünen Partei, Professor Ulfried Geuter, in einer öffentlichen Erklärung: „Wer nur das Ziel ausgibt zu siegen, hat sich bereits der Logik des Krieges überlassen, ist geistig im Krieg und hat keine Handlungsmacht mehr, sich gegen den Krieg selbst zu stellen und politisch dessen Beendigung als oberstes Ziel zu verfolgen.“ So sei es auch während des Ersten Weltkriegs gewesen. Selbst einen Einsatz von Atomwaffen würden die Grünen in Kauf nehmen wollen. Dabei sei klar, dass es bei einem Krieg in Europa nur Verlierer geben werde.

Zur Einschätzung der Person Mützenich muss man wissen, dass dieser die wichtigste Stütze des Bundeskanzlers ist. Ohne Mützenich wäre Scholz vermutlich nicht mehr Kanzler, und das Ampel-Bündnis aus SPD, Grünen und FDP wäre möglicherweise längst zerbrochen. Jemand wie Mützenich macht keine wichtige Aussage, ohne sie vorher bis ins Detail mit dem Kanzleramt oder sogar dem Regierungschef selbst abgesprochen zu haben. Trotz der scharfen Kritik von Grünen und Union hielt Mützenich an seiner Äußerung fest, was dafür spricht, dass in der Regierungszentrale über andere Möglichkeiten nachgedacht wird, als der Ukraine ständig Waffen zu liefern und Geld zu schicken. Altkanzler Schröder begrüßte den Vorstoß von Mützenich: „Seine Position sollte von der Partei und Fraktion unterstützt werden.“

Dass Deutschland seine Waffenlieferungen und Geldzahlungen von jetzt auf gleich einstellen könnte, ist natürlich nicht anzunehmen. Aber die von Scholz immer wieder betonte Tatsache, dass Deutschland nach den USA der größte Unterstützer der Ukraine ist und außerdem inzwischen rund 1,6 Millionen Personen aus der Ukraine aufgenommen hat und gut versorgt, bedeutet auch etwas anderes. Das Wort der deutschen Regierung hat in Kiew Gewicht. Bisher musste Selenskyi in Berlin nicht betteln wie kürzlich in den USA, wo er die Waffen jetzt auf Kredit einkaufen will, nachdem der US-Kongress die Freigabe weiterer Gelder seit längerem blockiert. Aber was ist, wenn Berlin für weitere Hilfen und weitere Einreisen von Ukrainern Bedingungen stellen würde wie die Bereitschaft der Ukraine, Gespräche über die Einstellung von Kampfhandlungen zu beginnen?

Militärisch ist der Konflikt – anders als von Baerbock immer wieder behauptet – von der Ukraine ohnehin nicht zu gewinnen. Westliche Militärexperten sehen das Land militärisch ausbluten. Da helfen auch weitere Waffenlieferungen nichts mehr, sondern das von Mützenich angeregte „Einfrieren“ der Kämpfe wäre eine Alternative. Die Behauptungen der Grünen und der CDU, dass ein Ende der Kämpfe zugleich die Anerkennung aller von Russland geschaffenen Fakten bedeuten würde, ist Blödsinn. Echte Verhandlungen bedeuten, dass das „Wie“ offen ist. Nur eine Lösung muss an ihrem Ende stehen.

Innenpolitisch würde eine von Berlin angestoßene Verhandlungsinitiative Scholz und der SPD große Vorteile bringen. Schon die ersten Signale aus der SPD wie die Ablehnung von Taurus-Lieferungen und die Äußerungen von Mützenich haben das Ansehen des Bundeskanzlers und seiner Partei in Umfragen steigen lassen. Eine Friedensinitiative würde viele Stimmen von den strikt nach einer Waffenruhe rufenden Parteien AfD und Bündnis Wagenknecht zur SPD ziehen. Sie würde damit in den östlichen Bundesländern vielleicht doch wieder eine Rolle spielen können, nachdem die Umfragen die SPD derzeit bei den Kleinparteien sehen und vielleicht sogar in Sachsen gar nicht mehr im Landtag.

Staatskunst bedeutet, auch andere Szenarien zu betrachten. Es ist das Verdienst des Grünen-Gründungsmitglieds Ulfried Geuter, den Blick geweitet zu haben. Man stelle sich nur kurz vor, schreibt er, Russland würde den Krieg tatsächlich verlieren. Selbst wenn „Russland ohne einen Atomkrieg besiegt werden könnte, wäre es dann ein weniger gefährliches Russland?“, fragt er. Geuter erinnert an Deutschlands Demütigung nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag. Die Demütigung hatte schließlich zum Zweiten Weltkrieg geführt. Geuter fragt: „Würde nicht ein geschwächtes Russland ein weit gefährlicheres Russland sein?“

Gerhard Schröder muss ähnliche Gedanken haben. Er wünsche sich einen Friedenskanzler, sagte er und fügte hinzu: „Wenn jemand als deutscher Bundeskanzler sich für den Frieden einsetzt, wenn jemand als ‚Friedenskanzler‘ beschrieben wird, ist das denn negativ?“

Bilder: depositphotos / Von Olaf Kosinsky - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 de, commons.wikimedia.org/w/index.php

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