Am Ende des Zweiten Weltkriegs …

 

Waren der 9. Mai 1945 in Europa und der 2. September 1945 in Asien Endpunkte oder nur Zwischenschritte?

Die Parade in Moskau am 24. Juni 2020 bringt auch die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges zurück. Waren der 9. Mai 1945 in Europa und der 2. September 1945 in Asien Endpunkte oder nur Zwischenschritte?
Steht die Fortsetzung dieser Auseinandersetzungen noch aus? Frankreichs Präsident Macron hat die Verantwortung Frankreichs für das Rachediktat Frankreichs in Versailles 1919 betont und damit für Hitler und den Nationalsozialismus. Finanziert wurde dessen stramm antisemitischer und antibolschewistischer Kurs vor allem aus USA und  Großbritannien. Warum und was war nach der alliierten Invasion Russlands am Ende des Ersten Weltkrieges das Ziel? Welche Konzepte wirken bis heute fort?

World Economy im Gespräch mit Willy Wimmer, Staatssekretär a.D.
Teil II.

WE: Schämt sich Europa möglicherweise für seine indirekte Beteiligung am Erstarken von Nazi-Deutschland und versucht jetzt deshalb einen anderen Sündenbock zu finden?
Willy Wimmer:
Das ist natürlich eine schwer zu beantwortende Frage, weil die Dimension sehr komplex ist. Ich will mal versuchen darauf eine Antwort zu finden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist etwas sehr interessantes in Berlin passiert. Nämlich als am Schluss nicht die deutschen Truppen den Reichstag verteidigten, sondern Freiwilligenverbände aus verschiedenen europäischen Staaten - Frankreich, Dänemark, Holland - woher sie auch immer kamen. Da muss man sich natürlich fragen, warum haben diese jungen Leute das gemacht? Das gibt vielleicht einen Anstoß, Ihre Frage zu beantworten. Man darf nicht verkennen, dass es so ein einigendes Band bei den Kräften gab, die auf der Seite des nationalsozialistischen Deutschen Reichs in den Krieg gezogen sind oder sich später im Verlauf des Krieges daran beteiligt haben. Und dieses Band war, streng antisemitisch und streng antibolschewistisch oder antikommunistisch. Das war der einigende Faktor für all die, die mit dem Deutschen Reich verbündet waren und auch den Reichstag in Berlin bis zur letzten Patrone verteidigt haben - oder glaubten, verteidigen zu müssen. Das gibt die Antwort auf ihre Frage und auch was die Zeit unmittelbar danach anbetrifft. Man darf nicht verkennen, dass in berlin noch um den Reichstag gekämpft wurde, als Churchill und der amerikanische General Patton, und auch andere, die Idee vertreten und auch massiv dafür geworben haben, den noch verbleibenden, recht massiven deutschen Verbänden die Front umzukehren und sie gegen die damalige Sowjetunion marschieren zu lassen. Das heißt, es war eine Zeit, in der wechselnde Allianzen möglich gewesen sind und zwar insbesondere auf Betreiben derjenigen, die auch nach Versailles 1919 eine einflußreiche Rolle auf die Ausgestaltung Europas hatten. Und da muss man Churchill und andere in erster Linie nennen.
Das nächste, was man sehen muss, ist, dass bis hin zu der Entwicklung der Jugoslawienkrise 1990, diese Auseinandersetzungen ihre Auswirkungen hatten. Die Grenzsicherung in der Nord- und Ostsee wurde nach dem 09. Mai 1945 von zehntausenden deutschen Marinesoldaten wahrgenommen, die im englischen Auftrag, aber unter Waffen, die Seegrenzen schützten. Und man darf nicht vergessen, dass eine ganze Waffen-SS-Division auf der Westalliierten Seite im besetzten Deutschland die Demarkationslinien geschützt hatte. Und diese Division ist im späteren Verlauf zum Gründungsteil des Grenzschutzes geworden. Es gibt ja Aussagen, dass die letzte Schlacht der Waffen-SS 1953 im Dschungel von Vietnam geschlagen worden ist, weil es im Wesentlichen keine französischen, sondern deutsche Einheiten gewesen sind, die da gekämpft haben. Das macht natürlich auch deutlich, was uns 1999 im früheren Jugoslawien ereilt hat. Die albanischen Kräfte, die gegen Belgrad aufgestanden sind, waren im wesentlichen die Clans, albanische Clans, die die SS-Division Skanderbeg in der Zeit des Zweiten Weltkriegs gebildet hatte. Das macht deutlich, in welche Richtung das ging.
Aber die Kämpfe um den Reichstag, die waren noch gar nicht geschlagen, als schon zwei weitere Entwicklungen anfingen ihre Wirkung zu entfalten. Man darf nicht vergessen, dass der Franzose Jean Monnet sich im amerikanischen Auftrag Gedanken machte - und sie später auch umsetzte - die im Jahre 1957 schließlich in der Gründung der Europäischen Gemeinschaften mündeten. Zeitgleich wurde mit unabhängig arbeitenden deutschen Wissenschaftlern der Freiburger Schule, im Auftrag eines SS-Generals - und das wiederum im Auftrag von Heinrich Himmler - konzeptionell daran gearbeitet, wie Europa nach Ende des Zweiten Weltkriegs ökonomisch aussehen sollte. Das sind alles Dinge, die in diesem Zusammenhang gesehen werden müssen. Ich glaube, wir haben im Augenblick fast schon eine historische Großchance, weil zwei Persönlichkeiten uns in die Lage versetzt haben, das, was im vergangenen Jahrhundert mit dem Anfang und auch dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Verbindung zu bringen ist, historisch unbefangener zu sehen. Das ist auf der einen Seite der russische Präsident Putin, der in seiner großartigen Rede in Sankt-Petersburg am 20. Dezember des vergangenen Jahres darauf aufmerksam gemacht hat, wie die historischen Zusammenhänge im letzten Jahrhundert eigentlich gewesen sind. Er hat als erster Staats- und Regierungschef die schreckliche, verheerende Wirkung von Versailles so deutlich angesprochen, wie es niemals zuvor jemand anderes getan hat. Es war eigentlich ein Phänomen, dass der französische Präsident Macron, wenige Monate später, im Gespräch mit einer großen deutschen Zeitung davon sprach, dass es ohne Versailles 1919 - und wir haben in unserem Buch „Und immer wieder Versailles“ bereits darüber geschrieben, aber jetzt war es der französische Präsident - Hitler und den Nationalsozialismus nie gegeben hätte. Weil Frankreich sich in Versailles nicht um Frieden, sondern um einen Rachediktat bemüht hat. Kein anderes Land hätte sowas akzeptieren können und auch Deutschland hat es nicht getan. Aber dann muss man sehr deutlich sehen, wie die weitere Entwicklung eines ferngesteuerten Deutschlands in Europa verlaufen ist. Dieses schwergebeutelte und in Versailles niedergeknüppelte Deutschland hat es trotzdem bis 1922 verstanden und auch geschafft, zu einer einigermaßen stabilen Ordnung zurück zu kehren. Und dabei ist der jüdische, das muss man betonen, der jüdische Reichsaußenminister von Rathenau, der 1922 einem Mordanschlag zum Opfer gefallen ist, von herausragender Bedeutung. Weil dieser kaiserlich-deutsche Industrielle, der von deutscher Seite einen enormen Einfluss auf die Gestaltung des Ersten Weltkriegs hatte, es verstanden hat, dieses gebeutelte, erschlagene und erniedrigte Deutschland, insbesondere in einer Kooperation mit der Sowjetunion, wieder in eine gewisse Stabilität zu führen. Die Tragik Deutschlands hängt damit zusammen, dass die alliierten Kräfte, die keine Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion wollten, den amerikanischen Attaché in Berlin zu Adolf Hitler geschickt haben - dessen Organisation sich gerade im Zusammenbruch befand - und mit finanziellen Mitteln alles dafür unternommen haben, um ihm eine Position in Deutschland zu verschaffen, die diametral gegen jede Zusammenarbeit mit der damaligen Sowjetunion ausgerichtet war. Man muss das deshalb so deutlich ansprechen, weil das die Zielvorgabe der alliierten Kräfte war, die, mit für die damalige Zeit schier ungeheuren Finanzmitteln aus Amerika, Großbritannien, anderen europäischen Ländern und natürlich auch aus Deutschland, dafür gesorgt haben, dass sich diese Figur „Adolf Hitler“ entfalten konnte. Und zwar stramm antisemitisch, stramm antibolschewistisch. Wenn man im Zusammenhang mit der streng antisemitischen Grundeinstellung dieser, wie Macron es sagt „nationalsozialistischer Entwicklung“, sich die Namen der Financiers anschaut, dann kommt man heute noch ins Schaudern, angesichts dessen, was da hinterher veröffentlicht worden ist. Denn vorher war keiner daran interessiert, seinen eigenen Namen in der Zeitung zu lesen. Und das ist natürlich eine Entwicklung, bei der man sich in Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fragen muss, als sich dann im Berliner Reichstag, Franzosen, Dänen, Holländer und andere für dieses bereits untergegangene Deutschland geschlagen haben, war das ein Endpunkt oder nur ein Zwischenschritt?
Wir sind heute in der interessanten und einmaligen Situation, die Handelnden, in ihrer jeweiligen Politik, über fast ein Jahrhundert, als Lebende Menschen, die auch Politik gestaltet haben und erleben konnten, beurteilen zu können. Wir müssen sehen, dass diese stramm antisemitische, stramm antikommunistische, man könnte heute eigentlich sagen „antirussische“ Einstellung, die Interessen derjenigen, die Hitler - siehe Macron - als Kreatur geschaffen und sie so ins politische Leben eingeführt haben, dass dieses Land daran untergegangen ist, natürlich auch nach dem Zweiten Weltkrieg befriedigt hat. Das muss man deshalb in dieser Dimension sehen, weil es eine unmittelbare Konsequenz aus dem Ausgang des Ersten Weltkriegs gewesen ist. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass, zeitgleich zu Versailles und dem Deutschen Waffenstillstand 1918, eine alliierte Invasion in Russland stattfand. Im Raum Arkhangelsk und im russischen Fernen Osten. Diejenigen, die heute wieder auf dem Weg sind sich gegen Russland aufzumachen, haben damals schon zu erkennen gegeben, was sie eigentlich in Europa vorhaben. Da muss ich wieder darauf zurückkommen, was George Friedman, der Chef von Stratfor, vor wenigen Jahren bei dem Chicago Council of Global Affairs sagte. Man hat, seit der Gründung des Deutschen Reiches, auf der amerikanischen Seite nichts anderes getan, als alles zu hintertreiben, was eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland ermöglicht hätte. Und das ist über zwei Weltkriege auch gelungen. Und die Frage, warum wir uns mit der Geschichte beschäftigen müssen, ist, aus meiner Sicht, die Frage danach, dass wir alles tun müssen, damit es andere Staaten und Völker nicht so trifft, wie es Deutschland getroffen hat. Deshalb müssen wir wissen, was damals passiert ist, damit wir die anderen, aber auch uns, davor schützen können und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs ein Endpunkt und kein Zwischenschritt in weiteres Unheil gewesen ist.
WE: Sie sprachen gerade vom Reichstagsgebäude und den Soldaten aus verschiedenen Nationen, die es verteidigt haben. Deutschland wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekanntlich entnazifiziert. Wurden die anderen Länder auch entnazifiziert?
Willy Wimmer: 
Natürlich hat es einen Prozess, wie er in Deutschland mit der Entnazifizierung stattfand, in anderen Ländern nicht gegeben. Aber es hat, das muss man der guten Ordnung halber sagen, in den anderen Ländern, die gegen Deutschland Krieg geführt haben, auch Prozesse gegen die gegeben, die eng mit Deutschland kooperiert hatten. Das Interessante ist, dass sich die Spitze der amerikanischen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg in großen Verfahren in den USA rechtfertigen musste. Die amerikanische Industrie hat die deutsche Kriegsmaschinerie, in bemerkenswerter Weise, bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkriegs am Leben erhalten. Die amerikanischen Soldaten, die am 06. Juni 1944 in Frankreich gelandet sind, waren sehr erstaunt, dass sie die gleiche Ausrüstung und die gleichen Fahrzeuge hatten, wie die deutsche Seite. Und ohne bestimmte amerikanische Unternehmen wäre die Erdgas-, Erdöl- und Spritversorgung Deutschlands gar nicht möglich gewesen. Wenn wir uns die Bank für internationalen Handel in Basel anschauen, die hat noch bis zum 10., 11., 12., Mai 1945 mit den Vertretern Deutschlands und den Alliierten zusammengearbeitet - dabei hatte Deutschland am 09. Mai 1945 kapituliert. Das ist ein so komplexes Werk, das sollte man nicht aus den Augen verlieren.
WE: Herr Wimmer, wir danken Ihnen für dieses sehr interessante Gespräch!

Bilder @depositphotos
Die Meinung des Autors/Ansprechpartners kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Grundgesetz Artikel 5 Absatz 1 und 3 (1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“