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Große Lügen haben kurze Beine

Die seit August 2014 geltenden westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland treffen Deutschland härter als die Bundesregierung zugeben will. Bis Ende 2016 dürften sich die Verluste der deutschen Wirtschaft auf über 20 Milliarden Euro belaufen, schätzungsweise 95.000 Arbeitsplätze gingen verloren. 

Von Hans-Georg Münster, Autor, Wirtschaftsexperte

Doch in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke (Bundestagsdrucksache 18/6715) wird vor allem der gesunkene Ölpreis für den Rückgang des Handelsvolumens verantwortlich gemacht. 

Die deutschen Exporte seien bereits im ersten Halbjahr 2014 und somit vor Verhängung der Sanktionen zurückgegangen. 

„Die EU-Sanktionen tragen somit zur Fortsetzung eines bereits bestehenden Trends bei, sind aber selbst kein ausschlaggebender Faktor für den zu beobachtenden Exportrückgang“, heisst es in der Antwort der Regierung, für die Wirtschaftsstaatssekretär Matthias Machnig (SPD) verantwortlich zeichnet. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Sanktionen würden „hinter anderen Faktoren“ zurücktreten. Deshalb kann Machnig auch keine konkreten Zahlen seitens der Regierung beisteuern. Die Zurückhaltung der Regierung dürfte mit dem Bundestagswahlkampf zu tun gehabt haben. 

Claus-Friedrich Laaser untersucht am Kieler Institut für Weltwirtschaft regelmäßig wirtschaftliche Entwicklungen. In einer Veröffentlichung zu Subventionen hob er zum Beispiel die angeblich geringe Rolle der Flüchtlingskosten hervor und leistete damit der wegen der tatsächlich enormen Kosten unter Druck stehenden Regierung Schützenhilfe. Auch in Sachen Russland ist auf Laaser Verlass. So warnt er in einem Beitrag für die Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“: „Den Rückgang (des Handels mit Russland) durch die Sanktionen zu begründen, führt in die Irre.“ Hinzu komme: Dem Rückgang der deutschen Exporte nach Russland stehe ein Zuwachs der deutschen Exporte auf den Weltmärkten gegenüber. Hier werden von Laaser jedoch Äpfel mit Birnen verglichen. Die Exporte auf den Weltmärkten wären ohnehin gewachsen.  

Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft haben ihre Osteuropa-Interessen im „Ost-Ausschuss der deutschen Wirtschaft“ gebündelt. 

Das Gremium versteht sich auch als Mittler zwischen Wirtschaft und Politik und intoniert lieber Kammertöne als Paukenschläge, um das Ohr des Wirtschaftsministeriums (z.B. Machnig) nicht zu verlieren. Zwar kritisiert der Ost-Ausschuss in einem „Russland-Update“ vom Februar 2017 die Sanktionen, die den Maschinen- und Anlagenbau, eine deutsche Schlüsselindustrie, besonders hart treffen: Die Verluste im bilateralen Handel seien „signifikant und es besteht derzeit wenig Aussicht, dass an alte Spitzenwerte wieder angeknüpft werden kann“. Die Exporte hätten sich seit 2012 von 38 Milliarden Euro fast halbiert, die Präsenz deutscher Unternehmen in Russland sei seit Beginn der Krise von rund 6.000 auf 5.300 gesunken. 

Zu den Auswirkungen der Sanktionen auf Deutschland zitiert der Ost-Ausschuss eine Studie von Forschern der Universitäten Bremen und Leipzig aus dem Sommer 2016. Von 2014 bis 2015 seien sanktionsbedingte Produktionsverluste in Deutschland in Höhe von 13,5 Milliarden Euro entstanden, was einem sanktionsbedingten Verlust von 60.000 Arbeitsplätzen entspreche. 

Mangels entsprechender Zahlen sei es sehr schwer, volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen (einschließlich der Auswirkungen auf Russland) vorzunehmen, klagt der Ost-Ausschuss. 

Die Verfasser des Russland-Update hätten in der Studie der Universitäten Bremen und Leipzig nur auf die Tabelle direkt neben der von ihnen zitierten Tabelle schauen müssen, dann wären ihnen die Berechnungen für den Zeitraum von 2014 bis 2016 (und nicht nur bis 2015 – wie vom Ost-Ausschuss zitiert) aufgefallen. Die sehen nämlich viel dramatischer aus. Die Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Jutta Günther (Universität Bremen), die Doktorandin Maria Kristalova (Bremen) und Professor Dr. Udo Ludwig (Leipzig) beziffern den sanktionsbedingten Rückgang der Exporte zwischen 2014 und 2016 auf 21,329 Milliarden Euro. 95.600 Arbeitsplätze gingen nach diesen Berechnungen in Deutschland durch das Embargo verloren. 

Die Wissenschaftler sehen als Fazit ein „nachhaltiges Schadenpotenzial durch Sanktionen“. Sie warnen vor dem Risiko, dass bei anhaltenden Sanktionen die Wirtschaft Gefahr laufe, „Märkte auf lange Zeit an die Konkurrenz zu verlieren und auch die nicht-sanktionierten Bereiche sowie die Energieversorgungs- und die Direktinvestitionsbeziehungen mit Russland zu belasten“.

Was das bedeutet, war in der „Sächsischen Zeitung“ am 24. August 2017 nachzulesen: „Weder in der Ost-Ukraine noch auf der Krim hat die EU etwas bewegt. Stattdessen erholt sich der, den sie in die Knie zwingen wollte. Heute präsentieren russische Maschinenbauer Gästen ihre Investitionen der letzten Jahre. Statt des Signets „Made in Germany“ tragen die Anlagen chinesische Schriftzeichen“, heißt es in der Zeitung, die das Embargo als deutsches „Eigentor“ bewertet. 

Ein Blick in die ostdeutsche Provinz belegt die gravierenden Auswirkungen des Embargos. 

Reinhard Pätz, Geschäftsführer Ost des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) erklärte in der Zeitung „Neues Deutschland“: „Der Ölpreis spielt sicher eine Rolle, doch das Embargo hat die ostdeutschen Maschinenbauer teilweise empfindlich getroffen.“ Die Verluste hätten nicht durch Exporte in Drittstaaten kompensiert werden können. Wie dramatisch die Lage für die überwiegend kleinen Maschinenbaufirmen in den neuen Ländern ist, macht eine Zahl aus Sachsen deutlich: Dort gingen 2016 die Exporte nach Russland um 30 Prozent zurück. 

Noch schlimmer erwischte es das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. 

Dort schrumpften die Ausfuhren nach Russland sogar um 51 Prozent (was 165 Millionen Euro entspricht). Als beispielhafte Stimme des auch hier besonders betroffenen Mittelstandes zitierte der Norddeutsche Rundfunk den Geschäftsführer des Elektronik-Unternehmens mi&s aus Greifswald, Udo Possin, dessen Firma eine halbe Million Euro Umsatz wegen des Embargos verlor: „Dieses Volumen ist weggefallen – ersatzlos weg. Selbst wenn das Embargo aufgehoben wird, dieses Volumen wird nicht mehr zurückkommen.“ Auf dieses Faktum hatten auch die Wissenschaftler aus Bremen und Leipzig hingewiesen: Ist die neue Maschine in einem russischen Betrieb aus China statt wie früher aus Deutschland, gibt es für deutsche Unternehmen auch keine Wartungsaufträge mehr. Und die nächste Maschinengeneration kommt dann ebenfalls aus China. 

Auch die russischen Gegenmaßnahmen blieben nicht wirkungslos: Der Deutsche Bauernverband legte eine Analyse vor, wonach die deutsche Landwirtschaft durch die russischen Verbote von Lebensmittelimporten aus Deutschland rund eine Milliarde Euro pro Jahr verliert. So verliere ein Milchbauer mit 75 Kühen und einer Jahresproduktion von 600.000 Kilogramm Milch 18.000 Euro Erlös pro Jahr.

Obwohl diese und andere Zahlen über die schweren Umsatzeinbrüche bei kleinen und mittleren Unternehmen im Internet oder bei den regionalen Industrie- und Handelskammern leicht recherchierbar sind, stellt sich die Bundesregierung unwissend. In einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Susanna Karawanskij  (Linke) erklärte Machnig, dass ihm „keine Zahlen zur Exportentwicklung in die Russische Föderation von kleinen und mittleren Unternehmen“ vorliegen würden. Offenbar lässt auch hier der Wahlkampf grüßen, in dem das Wirtschaftsministerium keine unangenehmen Zahlen herausrücken wollte. 

Dabei interessiert sich die Berliner Regierung in anderen Fällen selbst für kleine Exporte und legt dabei einen weltweit einmaligen moralischem Rigorismus an den Tag. So gibt es zum Beispiel beim Export von Gewehren strikte Endverbleibskontrollen. Auch jede Patrone wird pedantisch gezählt. Im Gegenzug für die Lieferungen deutscher Gewehre müssen Empfängerländer vorhandene Waffen in gleicher Menge unter Aufsicht deutscher Diplomaten vernichten.

Als bekannt wurde, dass zwei Kraftwerksturbinen der Firma Siemens statt im russischen Bestimmungsort auf der Halbinsel Krim ankamen, was gegen das Embargo verstößt, wurden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sogar persönlich bei Präsident Wladimir Putin vorstellig. 

Der deutsche Botschafter in Moskau musste mehrfach bei der russischen Regierung Protest einlegen, was im diplomatischen Korps in Moskau nur Gespött auslöste, wie die deutschen Tugendwächter von trickreichen russischen Embargobrechern reingelegt worden waren. Die Folgen dieser Posse könnten jedoch für die deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmer gravierend werden: Die seit Jahrzehnten für ihre Regierungstreue bekannte Firma Siemens überlegt, sich aus dem lukrativen Turbinengeschäft mit Russland zurückzuziehen, was viele Jobs kosten und hohe Umsatzverluste nach sich ziehen könnte. Die chinesische Konkurrenz reibt sich die Hände. 

Der Ost-Ausschuss versucht derweil, die unangenehmen Folgen der Sanktionen mit positiven Handelszahlen im sanktionsfreien Bereich zu überspielen. Die sehen zurzeit sehr gut aus. So stiegen die deutschen Lieferungen nach Russland von Januar bis Juli 2017 um 26,3 Prozent auf 12,7 Milliarden Euro. Die Einfuhren aus Russland legten mit einem Plus von 31,2 Prozent noch stärker zu und stiegen auf 16,2 Milliarden Euro, ohne dass der Ölpreis gestiegen wäre. 

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