Zweifrontenkrieg um Russlands Ressourcen

Oberst d.G. Gerd Brenner

In der jüngsten Vergangenheit entflammten erneut Diskussionen um die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs und um die Verantwortung für dessen Ausbruch. Landläufig herrscht im Westen die Meinung vor, der Zweite Weltkrieg habe mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begonnen und kurz danach habe sich die Sowjetunion an diesem Krieg beteiligt, indem sie den Polen in den Rücken fuhr und ihrerseits die Osthälfte Polens besetzte.

Die berühmte Karikatur von David Low in der britischen Zeitung Evening Standard vom 20. September 1939 bringt die westliche Betrachtungsweise auf den Punkt: Über die Leiche Polens hinweg grüßen sich Hitler und Stalin freundlich und tauschen Beschimpfungen aus. Das Bild ändert bekommt Risse, wenn man parallel zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs in Europa jene in Ostasien betrachtet. Nicht, dass etwa neue Dokumente in Archiven aufgetaucht wären. Die Fakten sind allgemein bekannt, aber eine einseitige europäische Betrachtungsweise führt hier zu einem Fehlurteil. In einer Zeit, in welcher manche westliche Politiker Parallelen zwischen der aktuellen Entwicklung in Europa und den Ereignissen der dreißiger Jahre zu erkennen glauben, ist dies von Relevanz. Vergleiche mit der Appeasement-Politik Großbritanniens sind problematisch, denn die ideologische und geopolitische Ausgangslage ist heute eine andere, als in den dreißiger Jahren. 

Ideologische Grundlagen für einen Krieg gegen die Sowjetunion 

Die Ideologie des Nationalsozialismus ist allgemein bekannt. Sie entstand nicht aus dem Nichts heraus, sondern basierte auf Vorstellungen, die in Deutschland zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts weit verbreitet waren – und nicht nur in Deutschland. Es war Adolf Hitler, der diese zu einem einheitlichen Gedankengebäude formte und nach seiner Entlassung aus der Haft Ende 1924 eine Massenbewegung schuf (1). Die ideologischen Grundlagen für den Krieg Japans gegen die Sowjetunion in Ostasien entstanden ebenfalls in den zwanziger Jahren. Eine wichtige Rolle hierbei spielten die militaristischen und panjapanisch-rassistischen Schriften der japanischen Nationalisten Kita Ikki und Shūmei Ōkawa, die in der Zwischenkriegszeit viele rechtsextremistische japanische Gruppen inspirierten (2). Schon 1924 begann Ōkawa, die Eroberung Sibiriens durch Japan zu propagieren. Wie viele japanische Militärs seiner Zeit betrachtete er die natürlichen Ressourcen der Mandschurei und Sibiriens als unabdingbar für die wirtschaftliche Entwicklung Japans. Zu diesem Zeitpunkt war der japanische Einfluss in der Mandschurei schon beträchtlich und Japan baute ihn zielstrebig aus. Es ist wohl kein Zufall, dass der bekannteste deutsche Geopolitiker, Karl Haushofer, durch seinen Japan-Aufenthalt in den Jahren 1908 bis 1910 zu seinen geopolitischen Theorien inspiriert wurde, die namentlich Rudolf Hess später so stark beeinflussten. Auch er bedachte Japan mit einer Führungsrolle in Asien, ähnlich wie Deutschland sie in Osteuropa innehaben sollte (3). Die Theorie vom "Lebensraum im Osten" ist zwar keine Erfindung Haushofers, sondern wurde schon um die Jahrhundertwende vom nationalistischen und imperialistischen "Alldeutschen Verband" propagiert (4). Wie immer aber man die Einstellung Haushofers gegenüber dem nationalsozialistischen Regime und seinen Protagonisten beurteilt, die Nähe seiner Theorien zu diesem Aspekt der nationalsozialistischen Ideologie ist kaum abzustreiten. Damit waren die ideologischen Grundlagen für ein gemeinsames Vorgehen Deutschlands und Japans gegen die junge Sowjetunion geschaffen, die im Jahr 1936 zur Unterzeichnung des Anti-Komintern Paktes führten, dem ein Jahr später auch das faschistische Italien beitrat (5). Die Feindschaft Japans und Deutschlands gegenüber dem Bolschewismus war nur ein Aspekt davon. In Tat und Wahrheit ging es den Geopolitikern auf beiden Seiten um die Aufteilung der Sowjetunion, die Plünderung ihrer Ressourcen und die Nutzung ihrer Arbeitskraft.

Umsetzung in Japan

Die Konkurrenz zwischen Japan und Russland im Fernen Osten begann mit dem Entstehen des japanischen Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In den Wirren des Ersten Weltkriegs und des darauffolgenden russischen Bürgerkrieges intervenierten japanische Truppen zeitweise in Sibirien und russisch Fernost, wurden aber durch die Rote Armee vertrieben. Im Jahr 1921 rissen mongolische Kommunisten mit Hilfe sowjetischer Truppen die Macht in der Mongolei an sich und schufen die Volksrepublik Mongolei (6). Mit der Besetzung der Mandschurei durch Japan im Jahr 1931 und der Schaffung des Marionettenstaats Mandschukuo begann die Umsetzung der Ideen Ōkawas. Die japanische Kwantung-Armee, ursprünglich geschaffen zur Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnnetzes in der Mandschurei, wurde zur Besatzungstruppe, die das Marionettenregime des Kaisers Puyi an der Macht hielt (7). Das, im Jahr 1935 an die Macht gekommene Okada-Kabinett war stark von den geopolitischen Ideen Ōkawas beeinflusst und schätzte die Sowjetunion als schwach ein: Sie werde bei einer Konfrontation mit einer Großmacht kollabieren, dachte man damals in Tokio. Besonders bezeichnend ist eine Aussage des japanischen Top-Diplomaten Toshio Shiratori: Um die Bedrohung durch Russland endgültig zu beseitigen, müsse man es zu einer kraftlosen kapitalistischen Republik machen und seine natürlichen Ressourcen straff kontrollieren (8). Irgendwie kommt da der Verdacht auf, genau das sei in den Neunzigerjahren mit Russland versucht worden. Mit der japanischen Besetzung der Mandschurei standen sich nun sowjetische und mongolische Truppen auf der einen und japanische auf der anderen Seite direkt gegenüber. Die Sowjetunion betrachtete die japanische Besetzung der Mandschurei als eine Bedrohung ihrer Sicherheit und schlug in den Jahren 1931 und 1933 insgesamt drei Mal den Abschluss eines Nichtangriffspakts mit Japan vor. Dies wurde ihr prompt als Schwächezeichen ausgelegt und stieß in Tokio auf Ablehnung (9). 

Deutschlands Weg in den Krieg

Der Weg Deutschlands in den Krieg nach der Machtergreifung Hitlers und die Appeasement-Politik Großbritanniens sind im Westen weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist die Rolle, welche die Sowjetunion in diesen Jahren spielte: Der Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund 1934 bedeutete das Ende ihrer Paria-Rolle in Europa und stand am Anfang einer Periode, in welcher namentlich der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow, zusammen mit dem sowjetischen Botschafter in Großbritannien, Iwan Maiski, eine Politik der kollektiven Sicherheit verfolgte (10). Im Zuge dieser Politik schlossen die Sowjetunion und Frankreich 1935 einen Beistandspakt ab, der im Wesentlichen auf den Schutz der Tschechoslowakei vor einem möglichen Angriff Deutschlands abzielte. Trotzdem ließen Frankreich und Großbritannien die Sowjetunion in der Sudetenkrise 1938 beiseite: Sie wurde im September 1938 zur Münchner Konferenz nicht einmal eigeladen und eine französisch-sowjetische Intervention zur Rettung der Tschechoslowakei unterblieb.  Über die Gründe hierfür herrscht Uneinigkeit. Einerseits ist in der Forschung umstritten, wie ernst es der Sowjetunion mit einer Intervention zugunsten der Tschechoslowakei wirklich war. Auf der anderen Seite spielte ein gewisses Misstrauen seitens von Frankreich, Großbritannien und der Tschechoslowakei gegenüber der Sowjetunion eine bedeutende Rolle (11). Dass Polen der Roten Armee keine Durchmarschrechte durch polnisches Gebiet gewähren wollte, hing sicherlich mit der Befürchtung zusammen, dass die Sowjetunion die Präsenz der Roten Armee in Polen nutzen würde, um die 1922 verlorenen Gebieten zurückzugewinnen. Auch profitierte Polen vom Münchner Abkommen, indem es parallel zum deutschen Einmarsch in den Sudetengebieten das Teschener Land (polnisch Cieszyn oder auch Olza-Gebiet) besetzte (12). Litwinows Konzept der kollektiven Sicherheit konnte militärisch nicht umgesetzt werden.

Verschärfung der Lage in Ostasien

In diesen Jahren verschärfte sich auch in Ostasien die Lage. Ab dem Jahr 1935 führten Unstimmigkeiten betreffend den Grenzverlauf sporadisch zu Zusammenstößen zwischen Mandschukuo, Japan, der Sowjetunion und der Mongolei. Im März 1938 schlossen die Sowjetunion und die Mongolei einen Beistandsvertrag. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Zusammenstöße im August 1938 in der Schlacht am Chassan-See, beziehungsweise im Changkufeng-Zwischenfall, wie er in der chinesischen Geschichtsschreibung bekannt ist. Sie endete in einer Niederlage der Japaner (13). Trotz dieser Niederlage begann die Kwantung-Armee im Januar 1939 Operationspläne für die Eroberung der sowjetischen Provinz Primorie mit der Hauptstadt Wladiwostok auszuarbeiten. Diese sollte danach durch Japan annektiert werden. Dass die japanischen Ambitionen noch viel weiter gingen, zeigte der japanische Plan für die Verwaltung der Territorien der sogenannten Ostasiatischen Wohlstandssphäre aus dem Jahr 1941: Nach Annexion der Provinz Primorie sollten die, an die Mandschurei angrenzenden Territorien bis an den Baikalsee unter den Einfluss Mandschukuos kommen (14). Die Transsibirische Eisenbahn sollte bis zur Stadt Omsk unter die Kontrolle Japans gestellt werden. Westlich davon sollte der deutsche Verantwortungsbereich beginnen (15). Diese hochfliegenden Pläne zeugen von einer massiven Selbstüberschätzung Japans und von mangelnder Absprache mit Deutschland, das gemäß der Aufmarschanweisung "Barbarossa" maximal bis auf eine Linie Wolga – Archangelsk vorstoßen wollte, über 1'500 km von Omsk entfernt (16). 

Kriegsvorbereitungen im Westen

Hatte es in der Krise um die Sudeten-Gebiete de facto noch eine deutsch-polnische Zusammenarbeit gegeben, so fand nach Verschärfung der Gegensätze zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Polen wegen der Stadt Danzig und dem polnischen Korridor im Herbst 1938 ein eigentliches Renversement des Alliances statt.  Am 14. März 1939 holte Deutschland zur "Zerschlagung der Rest-Tschechei" aus. Damit hatte Hitler nun auch das Münchner Abkommen gebrochen. Das Scheitern westlicher Appeasement-Politik wurde offenkundig und Ende März gaben Briten und Franzosen eine Garantie-Erklärung zugunsten Polens ab.  Auch im Kreml kam man zum Schluss, dass das Konzept der kollektiven Sicherheit gescheitert sei und dass man sich alternative Pläne überlegen müsse. Am 3. Mai wurde Außenminister Litwinow durch Wjatscheslaw Molotow abgelöst (17). Das war das äußere Zeichen eines Umschwungs in der sowjetischen Außenpolitik. Trotz massiven gegenseitigen Misstrauens begannen Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion im Frühling 1939 mit Verhandlungen für eine Dreierallianz gegen Deutschland. Am 1. Juli 1939 erzielte man endlich Einigkeit und eigentlich sollten unverzüglich konkrete militärische Absprachen beginnen. Briten und Franzosen ließen sich aber viel Zeit mit dem Beginn der militärischen Verhandlungen, die erst am 11. August begannen. Und auch Molotow bremste vorerst das Verhandlungstempo. Nach wie vor verweigerte Polen der Roten Armee die Durchmarschrechte, die sie gebraucht hätte, um Deutschland anzugreifen. Die baltischen Republiken weigerten sich, der sowjetischen Marine Stützpunkte zur Verfügung zu stellen. Wie schon im Jahr zuvor waren der Sowjetunion die Hände gebunden. Angesichts der sich rapide verschärfenden Lage im Westen kam die Sowjetunion in Gefahr, in einen Zweifrontenkrieg verwickelt zu werden. Die Westalliierten hatten nichts zum Schutz der Tschechoslowakei unternommen und nun bestand die Gefahr, dass die Sowjetunion wegen der ungeliebten Polen in einen Krieg gegen Deutschland hineingezogen wurde, an der Seite von Alliierten, deren Zuverlässigkeit fraglich war. Stalin musste im Westen Zeit gewinnen. In dieser Lage setzte die Sowjetunion ihren Alternativplan um: Am 24. August 1939 kam der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt zustande (18). 

Kriegsausbruch im Westen

Wie knapp die Zeit für Deutschland war, zeigt die wenig bekannte Tatsache, dass das nationalsozialistische Deutschland bereits am 25. August 1939 die Feindseligkeiten gegen Polen eröffnete, als ein Sonderkommando des Bau-Lehr-Bataillons zur besonderen Verwendung 800 – die sogenannten "Brandenburger" – in Zivilkleidern die polnischen Truppen auf dem strategisch wichtigen Jablunka-Pass in den Beskiden überfielen (19). In Unkenntnis der Verschiebung des Angriffstermins durch Adolf Hitler griffen die "Brandenburger" die Bahnstation auf dem Pass an und versuchten, den Eisenbahntunnel in ihren Besitz zu bringen. Die Aktion scheiterte aber und die Deutschen mussten sich in die Slowakei zurückziehen, wo sie hergekommen waren. 

Kriegsausbruch im Osten: Eskalation am Khalkin Gol

In Ostasien hingegen begann der Krieg bereits Monate zuvor, nämlich irgendwann im Mai 1939 im Osten der Mongolei, in der Grassteppe zwischen dem Fluss Khalkin Gol und der Siedlung Nomonhan (20). Japan war der Auffassung, dass in dieser Gegend der Fluss Khalkin Gol die Grenze zwischen der Mongolei und Mandschukuo bilde, während die Mongolei die Auffassung vertrat, diese liege bei der Siedlung Nomonhan.  Am 16. Januar 1939 kam es zwischen dem Khalkin Gol und Nomonhan zu einem ersten Zwischenfall zwischen mongolischen Kavalleristen und einer japanischen Grenzpatrouille, welche die Mongolen angriff und über den Fluss zurückjagte (21). In den darauffolgenden vier Monaten mehrten sich die Zwischenfälle in diesem Abschnitt der Grenze und es kam eine Eskalation in Gang. Im Mai verstärkte die Mongolei ihre Truppen in diesem Gebiet und erstmals entsandte die Rote Armee Truppen. Ab Mitte Mai kämpften schon ganze Infanterie- und Kavallerieregimenter gegeneinander. Zwar versuchte die japanische Regierung, diese Ereignisse als reine Grenzzwischenfälle hinunterzuspielen, aber im Lichte der Ambitionen der Japaner musste man in Ulan Bator und Moskau davon ausgehen, dass hier versucht werden könnte, einen Vorwand für die Invasion in der Mongolei und Sibirien zu konstruieren. Im Kreml kam man wohl auch zur Erkenntnis, dass dieser Landstrich, der eigentlich weder für die Mongolei, noch für Mandschukuo noch für die Sowjetunion von Bedeutung war, nun der Ort sei, an welchem man die Japaner in die Schranken weisen müsse. Am 5. Juni entsandte Moskau den späteren Marschall Zhukov mit einem ganzen Armeekorps in die Region am Khalkin Gol. Gleichzeitig wurden sowjetische Kampfflugzeuge in den Raum entsandt. Ab dem 22. Mai entspann sich ein Krieg am Himmel, in welchem sich die japanische Luftwaffe vorerst überlegen zeigte. Ab dem 20. Juni gewann die sowjetische Luftwaffe die Oberhand. Am frühen Morgen des 27. Juni gelang der japanischen Luftwaffe ein Überraschungsschlag gegen die sowjetischen Flugplätze.  Im Juli lancierten die Japaner eine Großoffensive. Es gelang ihnen zwar, den Khalkin Gol zu überschreiten, aber sie wurden zurückgeschlagen und mussten sich auf ihre Ausgangsstellungen zurückziehen. Ende Juli versuchten sie es erneut, mussten ihre Offensive aber wegen ausbleibender Erfolge und wegen Munitionsmangels einstellen. Auf der anderen Seite hatte Zhukov vorgesorgt: 2'000 Lastwagen und eine neue Eisenbahnlinie sorgten dafür, dass der Strom an Nachschubgütern zwischen der Stadt Chita (Tschita) und dem Khalkin Gol nie abriss. Am 20. August traten Sowjets und Mongolen ihrerseits mit einer ganzen Armee zur Gegenoffensive an. Gemäß neuer Doktrin eröffnete Zhukov mit Infanterie den Angriff im Zentrum und setzte an beiden Flügeln Panzer und Kavallerie zu einer Zangenbewegung ein. Die japanische 6. Armee wurde am 22. August eingekesselt und bis zum 30. August vollständig ausgerieben. Zwar bereiteten die japanischen Generäle im September 1939 eine neue Offensive vor, aber Tokio fiel ihnen in den Arm: Am 16. September wurde in Moskau ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. In der Folge verzichtete Japan auf weitere Vorstöße in die Mongolei und die Sowjetunion, denn das japanische Heer beurteilte nach der Niederlage von Nomonhan die Chancen eines Einmarschs in der Sowjetunion als gering (22). Das war für den weiteren Verlauf des gesamten Kriegs von Bedeutung, denn das wiederum erlaubte es den Sowjets, in ihrer Gegenoffensive im Winter 1941 Truppen aus Sibirien vor Moskau einzusetzen (23). Nun, da die Gefahr in Ostasien gebannt war, richtete sich Stalins Augenmerk wieder nach Westen. Am 17. September fiel die Rote Armee in Ostpolen ein und besetzte jene Gebiete, die sie im polnisch-sowjetischen Krieg an Polen verloren hatte (24). Für Stalin muss es eine große Erleichterung gewesen sein: Die Sowjetunion hatte nicht nur die verbündete Mongolei erfolgreich geschützt, sondern auch noch kampflos ihre ehemaligen Gebiete in Weißrussland bzw. Polen zurückerobert. Es ist daher wenig überraschend, dass die sowjetische und die heutige russische Geschichtsschreibung diese Vorgänge etwas anders beurteilten, als die westliche Öffentlichkeit. Molotow, der den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt eingefädelt hatte, und der militärische Sieger Zhukov galten als große Gewinner. Mitleid mit den Polen hatten sie wohl kaum, denn sie alle hatten die sowjetische Niederlage des Jahres 1921 miterlebt. Und schließlich war es ihnen egal, wenn sich die Europäer gegenseitig die Felle zerrissen; Hauptsache, die Sowjetunion war nicht betroffen. Es zeichnete sich die Möglichkeit ab, dass die in einem neuen Krieg neutrale Sowjetunion zum Schluss vom Schwächemoment der Protagonisten profitieren und ihren Einflussbereich nach Westen ausdehnen konnte. Die Invasion des nationalsozialistischen Deutschlands in der Sowjetunion beendete dann auch diese Illusionen. 

Fazit

Wie immer man Stalin und Molotow beurteilt, im Fall des Kriegs in der Mongolei und des Nichtangriffspakts mit Deutschland war ihr Vorgehen durchaus nachvollziehbar. Mit Vergleichen zwischen der Zwischenkriegszeit und der heutigen Lage in Europa ist Vorsicht geboten, denn die ideologischen und geopolitischen Voraussetzungen sind heute völlig andere als damals. Mit der deutsch-französischen Annäherung im Kalten Krieg und mit der NATO-Osterweiterung ist das Problem des Zweifrontenkrieges für Deutschland und Polen Vergangenheit. Russland hat es hingegen immer noch: Japan, mit dem seit 1945 nie ein Friedensvertrag zustande kam, das unbeeinflussbare China und das undurchschaubare Nordkorea als Nachbarn sollten für Russland Grund genug sein, im Fernen Osten keine Schwäche zu zeigen. Eine Gemeinsamkeit besteht aber: Das Misstrauen zwischen Ost und West sitzt heute wahrscheinlich so tief wie in den Dreißigerjahren. Die Suche nach den Schuldigen wird dieses nur vertiefen. Dabei geht es um weit mehr als nur um die Krim, den Donbass oder den Kosovo, denn dieses Misstrauen hat seinen Ursprung in den Neunzigerjahren. Auch in einer Ära nach Putin wird es das Bestreben jeder russischen Regierung sein, solche Zustände nicht wieder entstehen zu lassen. 

Quellen:

 

  1. https://www.bpb.de/apuz/213516/ein-buch-mit-geschichte-ein-buch-der-geschichte-hitlers-mein-kampf; vgl. auch https://www.zeitklicks.de/nationalsozialismus/zeitklicks/zeit/politik/ideologie/hitlers-weltanschauung/
  2. https://trialinternational.org/latest-post/shumei-okawa/http://www.worldfuturefund.org/Reports/Japan/Kitta.htm. Zu Okawas Rolle äußerte sich das Internationale Militärtribunal für den Fernen Osten: Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 387.
  3. Haushofers Lebenslauf: https://www.dhm.de/lemo/biografie/karl-haushoferhttps://www.deutsche-biographie.de/gnd118547119.html#ndbcontent; Reisetagebuch von Martha Haushofer, in: Christian W. Sprang, Karl Haushofer und Japan, die Rezeption seiner geopolitischen Theorien an der deutschen und japanischen Politik, Monografie des Instituts für Japanstudien, Band 52, 2013, S. 89ff.
  4. Ziele des Alldeutschen Verbands: https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28519https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/alldeutscher-verbandhttps://www.zeitklicks.de/kaiserzeit/zeitklicks/zeit/politik/parteien-und-verbaende/deutscher-als-deutsch-der-alldeutsche-verband/
  5. Vgl. dazu das Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 85, 105, 125; möglicher Beitritt Mandschukuos, ebd. S. 128, 254f, 192f.
  6. Zur Geschichte der Mongolei: https://www.liportal.de/mongolei/geschichte-staat/;  https://www.mongoleireisen.de/reisetips/geschichte-mongolei/geschichte-mongolei-aufgelistet
  7. https://www.britannica.com/topic/Kwantung-Armyhttps://www.globalsecurity.org/military/world/japan/ija-kwantung.htm. Army Forces Far East, Military History Section Headquarters, Japanese Preparations to Operations in Manchuria (prior to 1943), Japanese Monograph Nr. 77, o.O., 1955; https://archive.vn/20161217200158/http://scholar.harvard.edu/files/elliott/files/elliott_jas_limits_of_tartary_0.pdf
  8. Aus dem Englischen aus dem Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 389; Toshio Shiratori wurde nach dem Krieg als einer der hauptsächlichen Kriegsverbrecher eingestuft und zu lebenslanger Haft verurteilt: https://de.qwe.wiki/wiki/Toshio_Shiratori
  9. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 393.
  10. Zu Litwinow: http://bse.sci-lib.com/article070721.html; Rainer Blasius: Des Teufels Botschafter. In London erlebte Iwan Maiski von 1932 bis 1943 fünf Premierminister und drei Könige, traf sich mit Schriftstellergrößen wie George Bernard Shaw und H.G. Wells. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. September 2016, S. 8.
  11. Werner Benecke: Die Entfesselung des Krieges, von „München“ zum Hitler-Stalin-Pakt, online verfügbar unter https://www.zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/2726/oe090702.pdfhttps://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0021_tsc&object=context&l=de. Vgl. auch: https://www.welt.de/geschichte/article144943607/Das-Muenchener-Abkommen-von-1938.html/https://www.bpb.de/izpb/9638/republik-unter-druck?p=all
  12. Vgl. https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-16439; die deutsch-polnische Annäherung vor 1938 verfolgte den Zweck, Polen als Verbündeten in einem Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. 
  13. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 410ff. 
  14. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S 388, 398-400. 
  15. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 399. 
  16.  https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0009_bar&object=translation&st=&l=de
  17. http://www.warheroes.ru/hero/hero.asp?Hero_id=9009
  18. Zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt generell: https://www.oeaw.ac.at/fileadmin/subsites/etc/Institute/INZ/PDF/TT_1.9.1939_Hitler-Stalin-Pakt.pdf
  19. https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article199447862/Gleiwitz-1939-Uniformierte-Leichen-sollten-Hitler-Kriegsgrund-liefern.html. Die Geschichte von der Inszenierung des Zwischenfalls am Radiosender Gleiwitz ist durch den SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks im Verhör mit US-amerikanischen Ermittlern nach dem Krieg möglicherweise etwas ausgeschmückt worden und verdient allenfalls nicht die Berühmtheit, die sie später erlangte. Sie war weder der Grund für die deutsche Invasion und nicht der erste Akt der Aggressionshandlung. 
  20. Andere Schreibweisen: Chalcha oder Halha und Nomhan Burd.
  21. http://encyclopedia.mil.ru/encyclopedia/history/more.htm?id=11930382@cmsArticle. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 413 – 416.
  22. Urteil des Internationalen Militärtribunals für den Fernen Osten vom 04.11.1948, S. 397. 
  23. Die Rolle Richard Sorges hierbei: https://www.economist.com/books-and-arts/2019/04/20/a-rollicking-biography-of-richard-sorge-a-master-soviet-spy
  24. https://www.dw.com/de/als-polen-verloren-war-der-sowjetische-%C3%BCberfall-vor-80-jahren/a-50449178; SERGEJ SLUTSCH: 17. SEPTEMBER 1939: DER EINTRITT DER SOWJETUNION IN DEN ZWEITEN WELTKRIEG» Eine historische und völkerrechtliche Bewertung, online verfügbar unter https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2000_2_1_slutsch.pdf

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