@depositphotos

Verzweiflungsstaat Türkei

Am Abend des 15.07.2016 wurde die Türkei von einem Militärputsch erschüttert, der einige Stunden später scheiterte. Auf den ersten Blick handelte es sich um ein unerwartetes Ereignis, das aber auf einer langen Tradition früherer Ereignisse aufbaut. 

Niklas Kharidis, Politikwissenschaftler, Athen - Berlin

Das Militär versteht sich als Wahrer des Erbes des Staatsgründers Atatürk und der türkischen Verfassung, die eine strikte Trennung von Staat und Religion vorschreibt. Unter der Herrschaft der islamischen Partei AKP und des Präsidenten Erdogan zeigt sich seit Jahren eine wachsende Islamisierung des türkischen Staates.  Auch der Plan des Präsidenten, den türkischen Staat in ein Präsidialsystem unter seiner Alleinherrschaft zu verwandeln, entspricht nicht der Verfassung der Türkei.

Vermutungen über die Hintermänner

Die Spekulationen über die Hintermänner des dilettantisch durchgeführten Militärputsches von nur einem Teil der türkischen Armee reichen von dem angeblichen "Drahtzieher" Gülen - einem islamischen Prediger mit Wohnsitz in den Vereinigten Staaten und bis 2013 einem Weggefährten des Präsidenten - bis zu der Annahme, der türkische Präsident hätte diese Ereignisse selbst inszeniert, um nach dem Scheitern weitreichende "Säuberungsaktionen" gegen jede Form von Opposition durchzuführen, die seiner Alleinherrschaft in der Türkei entgegen steht. 

Eine andere Vermutung beruht auf der überraschenden Annäherung Erdogans an Russland und Syrien kurz zuvor. Sie widerspricht den Interessen der USA, Saudi-Arabiens und Katars. Äußerungen des Außenministers Kerry während der wenigen Stunden des Putsches, dass er nun auf eine weitere Stabilität und Kontinuität im Verhältnis zur Türkei hoffe, ohne eine ausdrückliche Verurteilung des Putsches zu äußern, lassen die Vermutung zu, dass die USA den Putsch mit einigen Sympathien betrachtet haben. Inzwischen wurden jedoch alle Anschuldigungen der Türkei in die Ereignisse aktiv involviert gewesen zu sein von Kerry zurückgewiesen.

Die wahrscheinliche Variante bei der Interpretation der Ereignisse liegt darin, dass es sich auf der Seite der Putschisten um eine Art von "Verzweiflungstat" angesichts drohender massiver Eingriffe in die türkische Armee gehandelt haben könnte, die für den August 2016 geplant waren. Auf der Seite des Präsidenten könnte die Vermutung stimmen, dass ihm die Pläne zumindest zum Teil bekannt waren, bevor der Militärputsch begann. Er ließ ihn möglicherweise mit Absicht geschehen, weil nur ein Teil des Militärs hinter den Putschisten stand. Etwa um 22 Uhr hatte das putschende Militär erste Straßensperren errichtet, eine Ausgangssperre verhängt und den Flughafen von Istanbul gesperrt. Schon um 23:30 Uhr rief Erdogan dann dazu auf, auf die Straßen zu gehen und sich den Putschisten entgegen zu stellen, was kurz danach geschah und sogar zu Gräuel- und Mordtaten an einigen Soldaten führte. 

Nach dem Militärputsch

Unmittelbar nach dem Ende dieser Ereignisse setzte eine vorbereitete "Säuberung" an allen türkischen staatlichen Institutionen, Behörden, Gerichten, Städtischen Verwaltungen, Armee und Polizei ein, die mit bisher rund 8.500 Inhaftierungen und rund 50.000 Amtsenthebungen einherging, die vom Präsidenten und seiner islamischen AKP-Partei aufgrund von vorbereiteten Namenslisten ohne jede Rechtsgrundlage verordnet wurde. Die Zahlen der inhaftierten Menschen erhöhen sich Tag für Tag und die Repressionen betreffen nun auch das Bildungswesen mit 21.000 Lehrern, denen die Lehrerlaubnis entzogen wurde.

Wissenschaftlern wurde die Ausreise aus der Türkei verboten. Sogar höchste Richter des türkischen Verfassungsgerichts wurden ihres Amtes erhoben. Also genau diejenigen, die in letzter Instanz über Recht und Gesetz und über die Einhaltung der Verfassung wachen sollen, wurden ohne jedes Recht und Gesetz abgesetzt. Ein unfassbarer Vorgang, der bei der Kommentierung in Deutschland vielfach mit den Ereignissen nach dem Reichstagsbrand von 1933 verglichen wurde, dem Vorwand Hitlers und der NSDAP für die Ausschaltung jeder Opposition und für erste KZs, dem ersten Schritt in die Diktatur des Dritten Reiches.

Wie geht es mit der Türkei weiter?

Statt seine mobilisierten Anhänger zurück zu rufen, forderte der türkische Präsident sie dazu auf, auf den Straßen zu bleiben, um gegen "Parallelstrukturen" in der Türkei zu kämpfen, die der Gülen-Bewegung (Hizmet-Bewegung) angelastet werden, die weltweit Schulen und Lehreinrichtungen betreibt, auch in der Türkei. Ihr wird bisher - ohne nachvollziehbare Fakten - eine Urheberschaft an dem Putsch vorgeworfen. 

Der Prediger Fethullah Gülen bestritt inzwischen zwar jede Beteiligung an dem Putsch, jedoch verlangte Erdogan von den USA seine Auslieferung und der türkische Premierminister Yildirim drohte, dass man jedes Land, das Gülen unterstütze, als im Kriegszustand mit der Türkei betrachten würde. Auch die Vereinigten Staaten, solten sie Gülen nicht ausliefern. Außenminister Kerry forderte im Gegenzug einen mit Fakten begründeten Auslieferungsantrag und sprach die Möglichkeit an, die Türkei aus der NATO auszuschließen. Das würde mit gravierenden weltpolitischen Auswirkungen einher gehen. Die Türkei könnte politisch und ökonomisch auf die Seite Chinas und Russlands wechseln, was nach den kürzlich erreichten Vereinbarungen mit Russland, dem man Überflugsrechte über die Türkei eingeräumt hat, nicht völlig unwahrscheinlich erscheint. 

Wegen der intensiven Aufrufe zur Denunziation von jedem, der allein schon mit irgend einem Wort im Verdacht stehen könnte, ein Unterstützer der Putschisten oder ein "Beleidiger" des Präsidenten zu sein, herrscht seitdem innenpolitisch ein intensives Klima der Angst. Jeder zittert auf einer der Verhaftungslisten zu stehen oder aus undurchschaubaren Gründen auf neue Verhaftungslisten gesetzt zu werden, völlig rechtlos zu sein und vielleicht sogar bald, nach der in der Türkei diskutierten Wiedereinführung der vom "türkischen Volk" geforderten Todesstrafe, exekutiert zu werden. In Städten und Stadtteilen, die mehrheitlich von Aleviten und Kurden bewohnt werden, zieht ein Mob der AKP durch die Strassen. Er zerstört und plündert die Geschäfte. Es herrscht eine regelrechte Pogromstimmung. 

Die EU und Deutschland haben auf diese Ereignisse auf eine Weise reagiert, die erneut jedes klare Bekenntnis zu den Werten Europas vermissen lässt. Sie haben zwar eine Wiedereinführung der Todesstrafe als das Ende aller Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bezeichnet, sehen aber weder die dortigen Repressionen, noch die dortigen Pogrome als Anlass, tätig zu werden. Mit der Einführung des Ausnahmezustands in der Türkei, die am Abend des 20.07.2016 erfolgte, wird sich die Situation sogar noch drastisch verschärfen, da es seitdem nicht einmal eines Haftrichters bedarf, um denunzierte Menschen völlig willkürlich in Haft zu nehmen.

Bilder: @depositphotos / WE

Die Meinung des Autors kann von der Meinung der Redaktion abweichen. Die Redaktion räumt dem Autor gemäß Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes das Recht ein, seine Meinung frei zu äußern